Zwei Zusammenbrüche und eine Wiedergeburt:
Deutschland, Österreich-Ungarn und Polen am Ende des Ersten Weltkriegs

Der Sonderfriede im Osten erlaubte es den Deutschen, die Hauptmasse ihrer freigewordenen Truppen an die Westfront zu verlegen. Im März 1918 befanden sich dort 192 von insgesamt 240 Divisionen mit 3,5 Millionen Mann; sie wurden in der Folgezeit durch weitere 28 Divisionen aus dem Osten verstärkt, was den deutschen Verbänden vorübergehend zu einer leichten numerischen Überlegenheit über die Truppen der Westmächte verhalf. Am 21. März begann das «Unternehmen Michael», eine großangelegte Offensive gegen Briten und Franzosen in der Picardie. Nach Anfangserfolgen kam die Angriffswelle aber bereits in der ersten Aprilwoche zum Stehen. Weitere Offensiven in Flandern, am Chemin des Dames und an der Marne brachten ebenfalls nicht den erhofften Durchbruch.

Am 18. Juli begann unter dem gemeinsamen Oberbefehl von General (seit 6. August Marschall) Foch die alliierte Gegenoffensive, an der erstmals auch in größerer Zahl amerikanische Truppen, geführt von General Pershing, teilnahmen. Entscheidend wurde der massive Einsatz von Panzern bei den Briten. Ihnen gelang am 8. August in der Schlacht bei Amiens ein Durchbruch auf breiter Front, der diesen Tag nach dem Zeugnis von General Ludendorff zum «schwarzen Tag des deutschen Heeres» machte. Seit dem 20. August mußte die deutsche Westfront unter den massiven Schlägen von Franzosen, Briten und Amerikanern immer weiter zurückgenommen werden; die deutsche Kampfmoral verfiel darüber zusehends.

Um dieselbe Zeit erlitten auch die Verbündeten Deutschlands schwere Niederlagen. In der zweiten Junihälfte scheiterte eine österreichische Offensive bei den Sette Comune auf der Hochebene von Asiago und am Unterlauf des Piave. Besonders bei den nichtdeutschsprachigen Teilen des Heeres häuften sich seitdem die Zersetzungserscheinungen, was mit dazu beitrug, daß Österreich-Ungarn die Deutschen seit August 1918 verstärkt zur raschen Beendigung des Krieges drängte und, als diese Bemühungen nicht zum gewünschten Erfolg führten, auf eigene Faust Präsident Wilson am 14. September in einem Manifest eine allgemeine Friedenskonferenz vorschlug (was dieser sogleich ablehnte). In der zweiten Septemberhälfte brach die bulgarische Armee in Mazedonien unter den Schlägen von Briten, Franzosen, Italienern, Serben und Griechen zusammen; am 30. September wurde ein Waffenstillstand geschlossen, in dem sich das Königreich Bulgarien zur Demobilmachung und zur Räumung aller besetzten serbischen und griechischen Gebiete verpflichtete. (Ein unabhängiges Königreich war Bulgarien seit dem 5. Oktober 1908, an dem sich Fürst Ferdinand I. selbst zum Zaren erklärt hatte.)

Ebenfalls im September erzielten die Briten beim palästinensischen Jaffa einen Durchbruch durch die von türkischen und deutschen Verbänden gehaltene Front. In den folgenden Wochen drangen die Briten unter General Allenby, unterstützt von arabischen Truppen, die Oberst Thomas Edward Lawrence, der legendäre «Lawrence of Arabia», zusammengestellt hatte, bis nach Aleppo, Damaskus und Beirut vor. Dem deutschen Armeekorps gelang es, sich kämpfend nach Anatolien zurückzuziehen. Am 30. Oktober 1918 legte das Osmanische Reich die Waffen nieder. Die Bedingungen der Kapitulation regelte das Waffenstillstandsabkommen, das auf einem Kampfschiff im Hafen von Mudros auf der Insel Lemnos unterzeichnet wurde.

Mehr noch als das Zurückweichen der eigenen Truppen brachten die Niederlagen der Verbündeten General Ludendorff, den «starken Mann» der Obersten Heeresleitung, zu der Einsicht, daß Deutschland den Krieg verloren hatte und darum unverzüglich ein Waffenstillstands- und Friedensangebot an Präsident Wilson richten mußte. Die Verantwortung hierfür sollte aber nicht die OHL, sondern eine neue, von den Mehrheitsparteien des Reichstags getragene Regierung übernehmen. Am 29. September, dem Tag des Waffenstillstands in Bulgarien, trug Ludendorff zusammen mit Hindenburg dem Kaiser die gemeinsame Lagebeurteilung samt den daraus abgeleiteten Schlußfolgerungen vor. Er begründete den Vorstoß mit einer Dolchstoßlegende. «Ich habe S. M. (Seine Majestät, H. A. W.) gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, daß wir soweit gekommen sind», erklärte der Erste Generalquartiermeister am 1. Oktober vor hohen Offizieren. «Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muß. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben.»

In den Mehrheitsparteien des Reichstags, die sich im Juli 1917 zu einem Frieden ohne erzwungene Gebietsabtretungen und politische, wirtschaftliche und finanzielle Vergewaltigungen bekannt hatten, wuchs im Frühherbst 1918 die Bereitschaft, die Verantwortung für die Beendigung des Krieges auf sich zu nehmen. Innerhalb der größten deutschen Partei, der Sozialdemokratie, gab es darüber zwar heftige Debatten, aber bereits am 23. September setzte sich Friedrich Ebert, zusammen mit Philipp Scheidemann einer der beiden Vorsitzenden der SPD, in den Führungsgremien mit der Auffassung durch, daß es «die verdammte Pflicht und Schuldigkeit» der Sozialdemokraten sei, sich mit den bürgerlichen Parteien und der Regierung zu verständigen, weil andernfalls Chaos und Gewaltherrschaft, Terror und Bürgerkrieg wie in Rußland drohten. Die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei war derselben Meinung, während im katholischen Zentrum der konservative Parteiflügel noch starke Vorbehalte gegen einen Übergang zum parlamentarischen System, der logischen Konsequenz einer Regierungsbeteiligung, hatte. Erst nachdem sich am 29. September auch die Nationalliberalen für eine volle Parlamentarisierung ausgesprochen hatten, lenkte das Zentrum ein.

Wenn sich Deutschland in eine parlamentarische Demokratie verwandelte, hatte es bessere Aussichten auf milde Friedensbedingungen im Sinne der Vierzehn Punkte von Präsident Wilson, als wenn es beim alten, obrigkeitlich geprägten System mit der faktischen Oberherrschaft der OHL blieb: Das war die eine Hoffnung, die die gemäßigten bürgerlichen Parteien und die Mehrheitssozialdemokraten im Herbst 1918 zusammenführte. In der anderen Erwartung waren sich diese Parteien ebenfalls einig: Die Parlamentarisierung Deutschlands durch die Verfassungsorgane Reichstag und Bundesrat würde einer Revolution von unten den Boden entziehen – einer Revolution, von der nicht nur Ebert fürchtete, daß sie rasch zu russischen Zuständen führen könnte.

Parlamentarisierung hieß zunächst einmal Kanzlerwechsel: Graf Hertling, der amtierende Reichskanzler, war nicht bereit, selbst das neue System einzuführen, und er wäre auch von den Sozialdemokraten als Regierungschef nicht akzeptiert worden. Am 30. September trat er zurück. Zu seinem Nachfolger ernannte Wilhelm II. den als moderat geltenden Prinzen Max von Baden, mit dem sich zuvor Ludendorff und die Mehrheitsparteien einverstanden erklärt hatten. Der neuen Reichsleitung gehörten neben Mitgliedern des Zentrums, der Fortschrittlichen Volkspartei und der Nationalliberalen erstmals auch Sozialdemokraten an: Gustav Bauer, der stellvertretende Vorsitzende der Generalkommission der Freien Gewerkschaften, der an die Spitze des neugebildeten Reichsarbeitsamtes trat, und Philipp Scheidemann, der einer von vier Staatssekretären ohne Portefeuille wurde.

Am 28. Oktober 1918 wurde der Übergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Demokratie durch die Änderung der Reichsverfassung von 1871 besiegelt. Fortan war der Reichskanzler vom Vertrauen des Reichstags abhängig. Sprach ihm der Reichstag das Mißtrauen aus, mußte er zurücktreten. Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers erstreckte sich auf alle Handlungen von politischer Bedeutung, die der Kaiser in Ausübung seiner verfassungsmäßigen Befugnisse vornahm. Der parlamentarischen Kontrolle unterlag damit auch die militärische Kommandogewalt des Kaisers, soweit es sich um Akte von «politischer Bedeutung» handelte. Eine andere Verfassungsänderung war kaum weniger wichtig: Ohne Zustimmung des Reichstags konnte von nun an weder ein Krieg erklärt noch ein Friede geschlossen werden.

Deutschland war durch die «Oktoberreformen», unter Beibehaltung der monarchischen Staatsform, zu einer Demokratie westlicher Prägung geworden – darin Großbritannien, Belgien, den Niederlanden und den skandinavischen Königreichen ähnlich. Der im Vergleich zu den anderen konstitutionellen Monarchien frühen Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts für Männer (1867 im Norddeutschen Bund, 1871 im Deutschen Reich) folgte rund ein halbes Jahrhundert später die Demokratisierung des Regierungssystems im engeren Sinn. Damit war der Grundwiderspruch des Kaiserreichs, der Gegensatz zwischen wirtschaftlicher und kultureller Modernität auf der einen und der Rückständigkeit der vordemokratischen Regierungsweise auf der anderen Seite, endlich aufgehoben.

Aber die Parlamentarisierung war vorerst nur ein formeller Akt. Ob sie die politische Wirklichkeit bestimmen würde, hing auch von den alten Eliten, obenan dem Militär, ab. Die bloße Tatsache, daß die Parlamentarisierung Deutschlands ursächlich mit seiner militärischen Niederlage zusammenhing, bedeutete eine schwere Vorbelastung der überfälligen Reform. Schon bevor die Verfassungsänderungen in Kraft traten, beantwortete die äußerste Rechte die Bildung der ersten (de facto) parlamentarischen Regierung mit einer Kampfansage an die Demokratie – und die Juden. So forderte etwa am 3. Oktober der Vorsitzende des Allgemeinen Verbandes, Heinrich Claß, die Gründung einer «großen, tapferen und schneidigen Nationalpartei und rücksichtslosesten Kampf gegen das Judentum, auf das all der nur zu sehr berechtigte Unwille unseres guten und irregeleiteten Volkes abgelenkt werden muß». Zweieinhalb Wochen später, am 19. und 20. Oktober, gab Claß auf einer Tagung der Hauptleitung und des Geschäftsführenden Ausschusses seines Verbandes die Parole aus, es gelte, «die Lage zu Fanfaren gegen das Judentum und die Juden als Blitzableiter für alles Unrecht zu benutzen». Gegen Ende seiner Rede versicherte der Verbandsvorsitzende seinen Zuhörern, er werde vor keinen Mitteln zurückschrecken und sich in dieser Hinsicht an den Ausspruch Heinrich von Kleists halten: «Schlagt sie tot, das Weltgericht/fragt Euch nach den Gründen nicht!»

Am 4. Oktober 1918, unmittelbar nach ihrer Berufung, ließ die Regierung des Prinzen Max von Baden, gedrängt von der OHL, ein Gesuch um Waffenstillstand an Präsident Wilson herausgehen. Die endgültige Antwort kam, nachdem inzwischen Noten hin- und hergegangen waren, am 23. Oktober. Darin verlangte Robert Lansing, der Chef des State Department, in kaum verschlüsselter Form die Abdankung Wilhelms II. Die OHL forderte daraufhin den Abbruch der Verhandlungen mit den USA und «Kampf bis zum äußersten». Am 24. Oktober provozierte sie einen Konflikt mit der neuen parlamentarischen Regierung, indem sie die Truppenführer in einem Rundtelegramm zum Weiterkämpfen aufforderte. Nach Lage der Dinge war das nichts anderes als ein Versuch Ludendorffs, sich der Verantwortung zu entziehen. Am 26. Oktober wurde er auf Ersuchen der Regierung vom Kaiser entlassen. Neuer Erster Generalquartiermeister und damit faktischer Chef der OHL wurde der aus Württemberg stammende, als besonnen geltende General Wilhelm Groener.

Um den Kaiser dem Einfluß von Reichsleitung und Reichstag zu entziehen, riet Hindenburg Wilhelm II., Berlin zu verlassen und sich ins Große Hauptquartier im belgischen Spa zu begeben. Am 29. Oktober, einen Tag, nachdem er die verfassungsändernden Gesetze unterzeichnet hatte, tat der Monarch, was der populäre Generalfeldmarschall ihm empfohlen hatte. Der evangelische Theologe und Religionsphilosoph Ernst Troeltsch, ein scharfsinniger Beobachter des Zeitgeschehens, sah darin nicht mehr und nicht weniger als eine endgültige Teilung der Regierung: «Die monarchisch-militärische und die parlamentarisch-bürokratische Gewalt waren völlig getrennt und im Kampf.»

Stärker noch als von der Spitze des Heeres wurde das neue parlamentarische System von der Flottenführung herausgefordert. Die Seekriegsleitung nahm die Einstellung des U-Boot-Krieges am 20. Oktober zum Anlaß für die Feststellung, daß sie damit ihre «operative Freiheit» zurückgewonnen habe. Als der Reichskanzler diese Mitteilung von Admiral Scheer erhielt, konnte und sollte er ihre Tragweite nicht erkennen. Die Flotte war seit der Schlacht im Skagerrak Ende Mai 1916 kaum noch zum militärischen Einsatz gekommen. Jetzt sah sie die Chance, England in letzter Stunde noch empfindliche Verluste zuzufügen und auf diese Weise ihre «Ehre» zu bewahren. Schwere eigene Verluste wurden dabei billigend in Kauf genommen. Der unvermeidliche Konflikt mit der Regierung und der sie tragenden Mehrheit des Reichstags war der Seekriegsleitung willkommen: Wenn das parlamentarische System über dem Vorstoß zu Fall kam, war das eine aus ihrer Sicht erfreuliche innenpolitische Nebenwirkung der «Englandfahrt». Die Seekriegsleitung trieb Politik auf eigene Faust, und auf eine Weise, die es nahelegt, von einem Putschversuch zu sprechen.

Eine Gegenwehr der Matrosen hatte die Flottenführung nicht eingeplant. Doch es kam anders. Die Auflehnung begann am 29. Oktober auf einer Reihe von Schiffen, die vor Wilhelmshaven auf Reede lagen. Die Seekriegsleitung ergriff scharfe Gegenmaßnahmen, gab aber damit dem Protest nur neue Nahrung. Am 1. November wurde Kiel zum Vorort der Matrosenerhebung. Zwei Tage später beteiligten sich auch Werftarbeiter an den Aktionen. Am 4. November schaltete sich auf Ersuchen des Stationschefs und Gouverneurs von Kiel, Admiral Souchon, die Reichsregierung ein: Um die Lage rasch unter Kontrolle zu bringen, entsandte sie den Staatssekretär ohne Portefeuille, Conrad Haussmann von der Fortschrittlichen Volkspartei, und den Marinereferenten der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, Gustav Noske, in die Ostseestadt. Noske gelang es, die Matrosen durch das Versprechen einer Amnestie zu beruhigen. Eine Lokalisierung des Aufruhrs aber bewirkte er damit nicht. Am 4. November war nur Kiel in den Händen der Matrosen gewesen; am 6. November waren es auch Lübeck, Brunsbüttel, Hamburg, Bremen und Cuxhaven.

Tags darauf schlug die Meuterei in Revolution um. Als erster deutscher Thron stürzte der wittelsbachische. Der Unabhängige Sozialdemokrat Kurt Eisner, ein aus Berlin stammender Journalist, ergriff als Vorsitzender des Münchner Arbeiter- und Soldatenrates die Macht in Bayern, das er am 8. November zum «Freistaat» erklärte. Am gleichen Tag übernahm ein Arbeiter- und Soldatenrat in Köln die Macht. Am Abend des 8. November charakterisierte das preußische Kriegsministerium neun weitere Großstädte als «rot», darunter Halle, Leipzig, Düsseldorf, Osnabrück und Stuttgart.

In Berlin bemühten sich währenddessen die Sozialdemokraten um einen Thronverzicht des Kaisers und Königs von Preußen. Einige Erfolge konnten sie mittlerweile verbuchen. Die von den Mehrheitsparteien geforderte Abmilderung des Kriegszustands schritt voran: So wurden am 23. Oktober Karl Liebknecht, den das Oberkriegsgericht im Juli 1916 wegen versuchten Landesverrats zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt hatte, aus der Strafhaft und am 8. November Rosa Luxemburg aus der Schutzhaft entlassen. Am gleichen Tag erfolgte die Freilassung von inhaftierten Teilnehmern der Matrosenmeuterei von 1917. Am 7. November beantwortete die SPD ein Verbot von Versammlungen der USPD in Berlin durch den regionalen Oberbefehlshaber mit einem Ultimatum an das Kriegskabinett. Die Kernpunkte betrafen eine Umbildung der preußischen Regierung im Sinne der Mehrheitsverhältnisse im Reichstag, eine Verstärkung des sozialdemokratischen Einflusses in der Reichsregierung sowie eine Abdankung des Kaisers und einen Thronverzicht des Kronprinzen. Bei Nichterfüllung der Forderungen drohte die MSPD, ihre Vertreter noch am 8. November aus der Reichsregierung abzuberufen.

Am Abend des 8. November verlängerte die SPD ihr Ultimatum bis zur Unterzeichnung des Waffenstillstandes. (Die deutschen Unterhändler mit dem Staatssekretär Matthias Erzberger vom Zentrum an der Spitze hatten Berlin am 6. November verlassen und am Vormittag des 8. November im alliierten Hauptquartier in Compiègne, nördlich von Paris, die Bedingungen der Sieger entgegengenommen.) Wichtige Zugeständnisse der bürgerlichen Mehrheitsparteien erleichterten den Sozialdemokraten das Entgegenkommen: In Preußen und in allen Bundesstaaten sollte das allgemeine gleiche Wahlrecht auf der Grundlage der Verhältniswahl durch Reichsgesetz eingeführt werden, Preußen sofort parlamentarisiert und der sozialdemokratische Einfluß in der Reichsregierung verstärkt werden. Zu allerletzt stimmten die Fortschrittliche Volkspartei und das Zentrum auch der Einführung des Frauenwahlrechts zu. Beide Parteien forderten nun ihrerseits die Abdankung des Kaisers, und selbst die Nationalliberalen gaben zu verstehen, daß sie einen Thronverzicht Wilhelms II. begrüßen würden.

Am 9. November erreichte die Revolution Berlin. Um sich an die Spitze der Bewegung zu stellen, riefen die Mehrheitssozialdemokraten der Reichshauptstadt unter ihrem Bezirkssekretär Otto Wels gegen 9 Uhr die Arbeiter zum Generalstreik auf. Eine Stunde später trat Philipp Scheidemann von seinem Amt als Staatssekretär zurück. Gleichzeitig führte der Vorstand der MSPD Verhandlungen mit den Unabhängigen Sozialdemokraten, die sich aber nicht handlungsfähig fühlten, da ihr Vorsitzender Hugo Haase sich ins aufständische Kiel begeben hatte und noch nicht wieder nach Berlin zurückgekehrt war. Die Revolutionären Obleute, die auf dem linken Flügel der USPD standen, hatten ihrerseits erst am 11. November in der Hauptstadt losschlagen wollen. Das zeitweilige Machtvakuum links von der MSPD gab der Partei Eberts und Scheidemanns eine Chance, die sie zu nutzen verstand. Wels gelang es in einer zündenden Rede, das in Berlin stationierte Bataillon der Naumburger Jäger davon zu überzeugen, daß es jetzt seine Pflicht war, sich auf die Seite des Volkes und der Sozialdemokraten zu stellen.

Als Reichskanzler Prinz Max von Baden die Nachricht vom Übertritt dieser als besonders kaisertreu geltenden Truppe ins Lager der Revolution erhielt, wußte er, was die Stunde geschlagen hatte. Aus dem Großen Hauptquartier in Spa hatte er gegen 11 Uhr telefonisch erfahren, daß der Kaiser sich zur Abdankung entschlossen habe. Obwohl eine offizielle Bestätigung noch nicht vorlag, gab der Kanzler die Absicht Wilhelms II. in einer Mitteilung an das Wolffsche Telegraphenbüro bekannt. Er selbst, Prinz Max, wolle zurücktreten, sobald die Frage der Regentschaft geklärt sei. Dem Regenten wolle er die Ernennung des Abgeordneten Ebert zum Reichskanzler und ein Gesetz über die Wahl einer Verfassunggebenden Nationalversammlung vorschlagen, die dann über die endgültige Staatsform Deutschlands entscheiden solle.

Doch der Versuch, die Monarchie durch eine Regentschaft zu retten, konnte am 9. November nicht mehr gelingen. Kurz nach halb ein Uhr mittags erschien eine Delegation der SPD beim Reichskanzler und den um ihn versammelten Staatssekretären, um die Übergabe der Macht zu fordern. Ebert begründete dieses Verlangen damit, daß nur so Ruhe und Ordnung bewahrt und Blutvergießen verhindert werden könnten. Die USPD stehe in dieser Frage hinter der MSPD und werde sich möglicherweise an der neuen Regierung beteiligen. Vertreter der bürgerlichen Parteien könnten sich ebenfalls an der Regierung beteiligen, doch müsse das Übergewicht der Sozialdemokraten gesichert sein. Auf die Bemerkung des Prinzen Max, nun müsse noch die Frage der Regentschaft geregelt werden, erwiderte Ebert, dafür sei es zu spät. Der Regierungschef schlug daraufhin unter Zustimmung aller Staatssekretäre vor, Ebert möge das Amt des Reichskanzlers übernehmen, wozu sich dieser nach kurzem Zögern bereit erklärte. An der Spitze des Reiches stand damit erstmals ein «Mann aus dem Volk»: der aus Heidelberg stammende, damals siebenundvierzigjährige ehemalige Sattler und spätere Redakteur der örtlichen Zeitung der Bremer Sozialdemokraten, Friedrich Ebert.

Rund eine Stunde nach dem revolutionären Regierungswechsel, gegen 14 Uhr, rief der zweite Vorsitzende der MSPD, Philipp Scheidemann, ohne von Ebert dazu autorisiert worden zu sein, von einem Balkon des Reichstags die «Deutsche Republik» aus. Zwei Stunden später wurde das Ende der Monarchie nochmals durch einen sehr viel weiter links stehenden Politiker verkündet: von Karl Liebknecht, der vom Portal des Berliner Stadtschlosses aus die «freie sozialistische Republik Deutschland» proklamierte. Ebert hatte die Entscheidung über die Staatsform der Konstituante überlassen wollen. Der stürmische Beifall, den Scheidemann mit seiner kurzen Rede fand, und die Entwicklung der nächsten Stunden gaben diesem recht. Karl Liebknecht, der Führer der Spartakusgruppe, kam mit seiner Aktion zu spät.

Scheidemann unterstrich demonstrativ den Bruch mit dem alten, obrigkeitsstaatlichen System; Ebert hingegen betonte die Kontinuität. Noch am 9. November rief er die deutschen Bürger zu Ruhe und Ordnung, die Beamten, Richter und Offiziere zu weiterer Erfüllung ihrer Dienstpflichten auf. Die USPD versuchte der neue «Reichskanzler» auf eine Regierung festzulegen, in der beide sozialdemokratischen Parteien gleich stark vertreten waren, während die bürgerlichen Parteien lediglich nachgeordnete Fachminister stellen sollten. Als die Unabhängigen auf Antrag Liebknechts die Forderung aufstellten, «alle exekutive, alle legislative, alle richterliche Gewalt» den Arbeiter- und Soldatenräten zu übertragen, konterte die MSPD scharf: «Ist mit diesem Verlangen die Diktatur eines Teils einer Klasse gemeint, hinter dem nicht die Volksmehrheit steht, so müssen wir diese Forderung ablehnen, weil sie unseren demokratischen Grundsätzen widerspricht.» Auch den von der USPD verlangten Ausschluß der bürgerlichen Kräfte wies die MSPD zurück, weil dadurch die Volksernährung erheblich gefährdet, wenn nicht unmöglich gemacht werde.

Die Position der Unabhängigen trug zunächst die Handschrift Liebknechts und der Revolutionären Obleute. Nach der Rückkehr des Parteivorsitzenden Haase aus Kiel am späten Abend des 9. November setzten sich die Gemäßigten durch. Die USPD lehnte die Wahl einer Konstituante nun nicht mehr grundsätzlich ab, wollte aber die politische Macht in die Hand der Arbeiter- und Soldatenräte legen, die zu einer Vollversammlung aus dem ganzen Reich alsbald zusammenzuberufen seien. In der Erwartung, dort die Mehrheit zu erlangen, stimmte die MSPD dieser Forderung zu. Sie erklärte sich auch mit den drei von der USPD vorgeschlagenen Mitgliedern des neuen «Rats der Volksbeauftragten», so der vereinbarte Name der Provisorischen Revolutionsregierung, einverstanden, von denen zwei, Hugo Haase und Wilhelm Dittmann, zu den Gemäßigten, einer, Emil Barth, zu den Revolutionären Obleuten gehörten. Die MSPD ihrerseits nominierte Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und den Breslauer Rechtsanwalt Otto Landsberg, der seit 1912 Mitglied des Reichstags war.

Die neue Regierung hatte sich noch nicht konstituiert, als die drei mehrheitssozialdemokratischen Mitglieder des Rates der Volksbeauftragten am 10. November um 12 Uhr mittags mit fast allen Staatssekretären der alten Regierung und einigen Ministern der preußischen Regierung zu einer Sitzung zusammentrafen. Einziger Tagesordnungspunkt waren die Waffenstillstandsbedingungen, die Marschall Foch am 9. November im Wald von Compiègne der deutschen Kommission unter Matthias Erzberger überreicht hatte. Die Siegermächte verlangten unter anderem die Räumung der besetzten Gebiete in Elsaß-Lothringen, Frankreich, Belgien und Luxemburg sowie des linken Rheinufers. Wegen des Umsturzes in Rußland sollten die deutschen Truppen vorläufig noch nicht aus dem ehedem russischen Staatsgebiet abgezogen werden. Die Friedensverträge von Brest-Litowsk und Bukarest waren für ungültig zu erklären. Außerdem hatte das Deutsche Reich alle U-Boote, eine große Menge an Flugzeugen, Schiffen, Waffen und Munition sowie Lokomotiven, Waggons und Kraftfahrzeugen abzuliefern und die Hochseeflotte abzurüsten. Aus dem Großen Hauptquartier in Spa hatte Hindenburg bereits wissen lassen, daß er, falls Erleichterungen nicht auszuhandeln seien, die Annahme für zwingend geboten hielt. Entsprechend fiel der Beschluß der Sitzungsteilnehmer aus. Die drei Unabhängigen Sozialdemokraten im Rat der Volksbeauftragten wurden anschließend informiert und stimmten ebenfalls zu. Am 11. November um 6 Uhr morgens unterzeichnete die deutsche Delegation in einem Eisenbahnwagen bei Compiègne den zunächst auf 36 Tage befristeten Waffenstillstand. Um 11 Uhr trat er in Kraft.

Bevor die neue Regierung ihre Arbeit aufnehmen konnte, mußte sie sich noch, entsprechend der Vereinbarung der beiden sozialdemokratischen Parteien, von einer Versammlung von etwa 3000 Vertretern der Arbeiter- und Soldatenräte aus Groß-Berlin bestätigen lassen, die am Nachmittag des 10. November im Zirkus Busch zusammentrat. Die Forderung Barths, die Regierung durch einen von den Revolutionären Obleuten gestellten Aktionsausschuß kontrollieren zu lassen, und eine tätliche Bedrohung Eberts durch Mitglieder der Spartakusgruppe hätten fast zum Abbruch der Versammlung geführt. Es waren die Vertreter der Soldaten, die dies verhinderten. Von Wels auf die Linie der Mehrheitssozialdemokraten eingeschworen, verlangten sie ultimativ das Prinzip der Parität auch für den Aktionsausschuß. Die Revolutionären Obleute lenkten daraufhin ein. In den Arbeiterrat des «Vollzugsrats» wurden anschließend je sieben Vertreter von MSPD und USPD gewählt; im tags darauf gewählten, ebenfalls vierzehnköpfigen Soldatenrat überwogen die Parteilosen. Am späten Abend des 10. November bekräftigten MSPD und USPD nochmals ihre Koalitionsabrede. Deutschland hatte wieder eine Regierung.

Die deutsche Revolution war bis zum Abend des 10. November weitgehend unblutig verlaufen. In Berlin hatte es tags zuvor einzelne Kämpfe am Marstall und an der Universität gegeben; am 10. November bereits glaubte Theodor Wolff, der Chefredakteur des linksliberalen «Berliner Tageblatts», von der «größten aller Revolutionen» sprechen zu können. Dieser Superlativ schien Wolff gerechtfertigt, «weil niemals eine so fest gebaute, mit so soliden Mauern umgebene Bastille in einem Anlauf genommen worden ist».

Tatsächlich war am 9. und 10. November 1918 längst nicht alles zusammengebrochen, was zur alten Ordnung gehörte. Die öffentlichen Verwaltungen funktionierten weiterhin wie zuvor; daß örtliche Arbeiter- und Soldatenräte, die meist von den Mehrheitssozialdemokraten beherrscht wurden, ihre Kontrolle übernahmen, behinderte sie weniger, als daß es ihnen eine neue Legitimation verschaffte. Die Justiz, die Gymnasien und Universitäten waren von der Revolution bisher nicht erfaßt worden. Die Oberste Heeresleitung rückte schon am Abend des 10. November zum Partner der Revolutionsregierung auf: In einem legendenumwobenen Telefongespräch will der neue Erste Generalquartiermeister, General Groener, Ebert, dem Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten, den Vorschlag eines antibolschewistischen Bündnisses unterbreitet haben, worauf dieser eingegangen sei. Was immer Ebert geantwortet haben mag, er brauchte die Hilfe der OHL bei der zügigen und geordneten Rückführung der Truppen in die Heimat. Die Demobilmachung war die Voraussetzung dafür, daß die deutsche Volkswirtschaft möglichst schnell und reibungslos wieder von Kriegs- auf Friedensbedürfnisse umgestellt werden konnte. Schon deshalb halfen die Volksbeauftragten dabei mit, daß es nach dem militärischen Zusammenbruch Deutschlands nicht auch noch zum Zusammenbruch des deutschen Militärs kam.

Was im November 1918 zusammenbrach, war das politische System des Obrigkeitsstaates, das in den Fürsten des Reiches und der Einzelstaaten seinen höchsten Ausdruck fand. Hinter der alten Ordnung standen im Spätjahr 1918 nur noch Minderheiten, und verschwindend gering war die Zahl derer, die bereit gewesen wären, die Monarchie mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Aber es gab die Royalisten. Unter den Protestanten waren sie stärker vertreten als unter den Katholiken, und nirgendwo waren sie so stark wie im ostelbischen Preußen. Die Landesherren hatten zwar in allen deutschen Staaten an der Spitze des Kirchenregiments gestanden. Doch die innere Bindung an die Einheit von Thron und Altar, an den Fürsten als den «summus episcopus», war vor allem ein Merkmal des nord- und ostdeutschen Luthertums. Es war nicht zufällig der Berliner Hof- und Domprediger Bruno Doehring, der in seiner wahrscheinlich letzten Kriegspredigt am 27. Oktober 1918 Wilsons Forderung nach dem Thronverzicht Wilhelms II. ein «satanisches Ansinnen» nannte und das Bekenntnis ablegte: «Das Königtum in Preußen ist uns Evangelischen tausendmal mehr als eine politische Frage, es ist uns eine Glaubensfrage.»

Der Soziologe Max Weber hat kurz nach dem Ersten Weltkrieg im Hinblick auf Deutschland bemerkt, die «Geschichte des Zusammenbruchs der bis 1918 legitimen Herrschaft» habe gezeigt, «wie die Sprengung der Traditionsgebundenheit durch den Krieg einerseits und den Prestigeverlust durch die Niederlage andererseits in Verbindung mit der systematischen Gewöhnung an illegales Verhalten in gleichem Maß die Fügsamkeit in die Heeres- und Arbeitsdisziplin erschütterten und so den Umsturz der Herrschaft vorbereiteten». Der soziologische Befund läßt sich in der These zusammenfassen, daß das deutsche Kaiserreich im Herbst 1918 die laut Weber «heute geläufigste Legitimationsform», nämlich den «Legalitätsglauben», weitgehend eingebüßt hatte – eine Herrschaftsressource, die derselbe Autor als «Fügsamkeit gegenüber formal korrekt und in der üblichen Form zustandegekommenen Satzungen» definiert.

Die Aushöhlung überlieferter Wertmaßstäbe durch den Krieg, die immer deutlicher sich abzeichnende militärische Niederlage der Mittelmächte und die Ausdehnung «schwarzer Märkte» als Folge des wirtschafts- und währungspolitischen Systemsversagens: So läßt sich die Trias von Faktoren umreißen, die Webers prägnanter Analyse zufolge den Zusammenbruch des Kaiserreichs verursachten. Die Verkörperung des alten Systems war der Deutsche Kaiser und König von Preußen. Er trug, so sahen es die breiten Massen der Arbeiter, «Kleinbürger» und Bauern, die oberste Verantwortung für die Dauer und den katastrophalen Ausgang des Krieges wie für die materiellen Entbehrungen des Volkes, und weil er uneinsichtig war, mußte er gehen. Wilsons «Vierzehn Punkte» hatten den Glauben genährt, daß Deutschland auf einen gerechten Frieden hoffen durfte, wenn es sein politisches System demokratisierte. Die Friedenssehnsucht förderte also den Wunsch nach Demokratie. Hinter diesen beiden Zielen stand im Herbst 1918 eine breite Mehrheit. Sie bildete den Kern eines zwar nicht allumfassenden, aber doch klassen- und konfessionsübergreifenden Konsenses am Vorabend des 9. November und in den ersten Wochen danach.

Seit dem 3. Oktober 1918 war Deutschland de facto, seit dem 28. Oktober auch de jure eine parlamentarische Monarchie. Doch das eigenmächtige Vorgehen des Kaisers, der Armee und der Seekriegsleitung in den Tagen seit der Verfassungsreform machte deutlich, daß das neue parlamentarische System nur auf dem Papier stand. Die Revolution von unten brach aus, weil die Revolution von oben an militärischer Obstruktion gescheitert war. Die Obstruktion des Militärs machte es unmöglich, die Institution der Monarchie aufrechtzuerhalten. Zusammenbruch, Obstruktion und Revolution führten zur Proklamation der Deutschen Republik am 9. November 1919. Die Revolution war damit noch nicht zu Ende. Es war nur ein neuer Abschnitt in der Geschichte der deutschen Revolution, der an diesem Tag begann.[10]

Eine Staatsumwälzung erlebte im Herbst 1918 nicht nur Deutschland. Am 12. November, drei Tage nach der Proklamation der Deutschen Republik, riefen die deutschen Abgeordneten des österreichischen Reichsrats die «Republik Deutschösterreich» aus, die einen «Bestandteil der Deutschen Republik» bilden sollte. Die Vorgeschichte der Auflösung der Habsburgermonarchie reichte bis in die Zeit vor dem Ausbruch des Weltkriegs zurück. Am 16. März 1914 war der Reichsrat, nachdem ihn die Obstruktion der tschechischen Agrarier arbeitsunfähig gemacht hatte, vertagt worden. Erst auf den 30. Mai 1917 berief ihn die Regierung wieder ein – eine Entscheidung, in die auch die Furcht einfloß, das Beispiel der russischen «Februarrevolution» könne in der Donaumonarchie Schule machen.

Das dreijährige Notverordnungsregime trug erheblich dazu bei, die Opposition zu radikalisieren. Das galt sowohl für die nationalistische Opposition, namentlich auf der Seite der Tschechen, als auch für den linken Flügel der Sozialdemokratie. Am 21. Oktober 1916 erschoß Friedrich Adler, der Sohn des Parteigründers Victor Adler, aus Protest gegen den Krieg wie gegen den «Sozialpatriotismus» der eigenen Partei den Ministerpräsidenten Graf Stürgkh. Adler wurde von einem Ausnahmegericht zum Tod durch den Strang verurteilt, dann jedoch zu achtzehn Jahren strengen Kerker begnadigt und am 1. November 1918 auf Grund einer kaiserlichen Amnestie aus der Haft entlassen. Sein Attentat machte ihn in den Augen seiner politischen Freunde zum Märtyrer. Aber die erhoffte Wirkung seiner Tat und seiner Verteidigungsrede vor Gericht trat nicht ein: Es kam zu keinem Massenstreik gegen den Krieg, ja nicht einmal zu Protestaktionen.

Die früheste Form von nationalem Widerstand gegen die Regierung in Wien war die Gründung der Geheimorganisation «Maffia» in Prag Anfang 1915. Zum Kern der Verschwörergruppe gehörten die russophilen Führer der Jungtschechen, Karel Kramár und Alois Rašin, sowie der engste Mitarbeiter Masaryks, der Soziologe Edvard Beneš. Oberstes Ziel war die Gründung eines selbständigen tschechischen, möglichst tschechoslowakischen Staates. (Als Abgeordneter der Realistenpartei im Reichsrat hatte Masaryk sich noch nicht für die vollständige Unabhängigkeit eines tschechischen Staates und damit für die Auflösung des Habsburgerreiches ausgesprochen.) Beneš verließ Anfang September mit einem falschen Paß die Doppelmonarchie, um im französischen Exil zusammen mit Masaryk für das große Projekt zu arbeiten. Kramár und Rašin waren bereits im Juli 1915 wegen Hochverrats verhaftet worden. Sie kamen erst durch eine Amnestie Kaiser Karls im Juli 1918 wieder frei. Mit ihnen gelangte auch der Führer der «Nationalsozialisten», Václav Klofác, in den Genuß des Gnadenaktes.

Solange Rußland Aussichten zu haben schien, die Mittelmächte militärisch doch noch zu bezwingen, war die rußlandfreundliche Strömung des tschechischen Nationalismus stärker als die prowestliche, für die Masaryk und Beneš standen. Die Russophilen wie Kramár konnten sich darauf berufen, daß der Oberkommandierende der russischen Armee, Großfürst Nikolaj Nikolajewitsch, schon am 16. September 1914 in einem Aufruf an die Völker des Habsburgerreiches im Namen von Zar Nikolaus II. erklärt hatte, Rußland sei in den Krieg eingetreten, um den Völkern Österreich-Ungarns die Freiheit und die Erfüllung ihrer nationalen Wünsche zu bringen. Nach der russischen «Februarrevolution» von 1917 wuchs in den entschieden nationalistischen Kreisen die Hoffnung, daß die Westmächte sich deutlicher als bisher zu Fürsprechern des nationalen Selbstbestimmungsrechtes machen würden.

Für das Gros der maßgebenden tschechischen Politiker aber war, anders als für die Emigranten und die Inhaftierten, die Auflösung des Habsburgerreiches vor 1918 noch kein Teil ihres Forderungskatalogs. Im November 1916 schlossen sich die meisten tschechischen Parteien in einem Nationalausschuß, ihre Abgeordneten im Reichsrat auch in einem Tschechischen Verband zusammen. Die erste Erklärung des Nationalausschusses vom 18. November 1916 enthielt ein Bekenntnis zur «Monarchie und der großen historischen Aufgabe des Reiches» sowie zur «völligen Gleichstellung seiner Nationalitäten». Am 21. Januar 1917 warf der Tschechische Verband in einem Offenen Brief an Außenminister Czernin den westeuropäischen Alliierten vor, die von ihnen verlangte «Befreiung der Tschechen von der Fremdherrschaft» sei eine «Insinuation, welche auf gänzlich unrichtigen Voraussetzungen» beruhe. Wie immer in der Vergangenheit erblicke das tschechische Volk auch weiterhin seine Zukunft und die Grundlage seiner Entwicklung «bloß unter dem Habsburgischen Szepter».

Nach der ersten der beiden russischen Revolutionen von 1917 und dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten wurde die Tonart der gemäßigten Nationalisten schärfer. Ein von der «Maffia» inspiriertes, von 222 Autoren unterzeichnetes «Manifest der tschechischen Schriftsteller» bezeichnete im Mai 1917 ein «aus autonomen und freien Staaten bestehendes demokratisches Europa» als das «Europa der Zukunft». An die tschechischen Abgeordneten des Reichsrates erging die Aufforderung, sich entweder diesem historischen Anlaß gewachsen zu zeigen oder ihr Mandat niederzulegen.

Am 29. Mai, einen Tag bevor der Reichsrat nach über dreijähriger Zwangspause wieder zusammentrat, stimmten die tschechischen Abgeordneten dem Entwurf einer Erklärung zu, die tags darauf zur Bestürzung der Regierung und der deutschen Volksvertreter im Plenum verlesen wurde. Darin übten die Tschechen eine bisher unerhörte Fundamentalkritik am dualistischen Staatsaufbau der Doppelmonarchie, der herrschende und unterdrückte Völker geschaffen habe, und verlangten die «Umgestaltung der Habsburgisch-Lothringischen Monarchie in einen Bundesstaat von freien und gleichberechtigten nationalen Staaten … Indem wir uns daher in diesem geschichtlichen Moment auf das natürliche Recht der Völker auf Selbstbestimmung und freie Entwicklung stützen, … werden wir an der Spitze unseres Volkes die Verbindung aller Stämme des tschechoslowakischen Volkes zu einem demokratischen Staat anstreben, wobei nicht außer Acht gelassen werden kann jener tschechoslowakische Stamm, welcher zusammenhängend an den historischen Grenzen unseres böhmischen Vaterlandes lebt» – also die Slowaken.

Die Slowaken sprachen nicht dieselbe, aber eine sehr ähnliche Sprache wie die Tschechen. Historisch hatten sich beide Völker jedoch sehr unterschiedlich entwickelt. Die Slowakei bildete einen Teil der transleithanischen, ungarischen Reichshälfte der Donaumonarchie, Böhmen und Mähren, wo die Tschechen lebten, einen Teil von Cisleithanien. Böhmen galt seit jeher als Teil des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, Mähren, das seit 1029 mit Böhmen lehensrechtlich verbunden war, ebenso. Die Könige von Böhmen gehörten zur Kurfürstenkurie des Reiches; nach der Verbindung der Dynastie der Przemysliden mit dem Haus Luxemburg stellten sie im 14. und 15. Jahrhundert mehrfach den deutschen Kaiser. 1526 fielen Böhmen und Mähren an die Habsburger; von 1815 bis 1866 waren die beiden habsburgischen Kronländer, anders als Ungarn oder Galizien, Teile des Deutschen Bundes. Während des Ersten Weltkrieges hatten sich tschechische und slowakische Exilpolitiker in Amerika auf eine gemeinsame Staatlichkeit verständigt. Inwieweit sie dabei für ihre Völker sprachen, blieb einstweilen offen. Auch ein anderes Problem war noch nicht gelöst: Die tschechischen Nationalisten beriefen sich Wien und der Welt gegenüber auf das Naturrecht der nationalen Selbstbestimmung. Gegenüber den Deutschen Böhmens und Mährens, die meist in geschlossenen Siedlungsgebieten lebten, sollte dagegen das historische böhmische Staatsrecht gelten, woraus sich das Beharren auf der Unteilbarkeit des Territoriums ergab.

Die Erklärung vom 29. Mai 1917 forderte noch nicht die Auflösung des Habsburgerreiches, sie bekannte sich aber auch nicht mehr zu seiner Aufrechterhaltung. Im Reichsrat arbeiteten die tschechischen Abgeordneten eng mit den südslawischen, das heißt meist slowenischen Parlamentariern aus Kärnten, der Steiermark, Krain, Istrien und dem Küstenland um Triest zusammen. Diese im Südslawischen Klub zusammengeschlossenen Parlamentarier verlangten am 30. Mai im Reichsrat die Vereinigung aller von Serben, Kroaten und Slowenen bewohnten Gebiete, was, da die habsburgischen Serben und die meisten (außer den istrischen) Kroaten in Transleithanien lebten, die Sprengung des österreichisch-ungarischen Dualismus bedeutete. Auch außerhalb des Reichsrats gab es, aktiv gefördert von Masaryk, Bemühungen um eine Einigung der Südslawen. Im Juli 1917 schlossen der serbische Exil-Ministerpräsident Nikola Pašić und der kroatische Exilpolitiker Ante Trumbić als Vorsitzender des Südslawischen Komitees das Abkommen von Korfu, das ein gemeinsames Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen vorsah, auf den von den Kroaten gewünschten föderalistischen Staatsaufbau aber nicht einging.

Ähnliche Bestrebungen verfolgten die ruthenischen Abgeordneten des Reichsrats. Sie gaben am 30. Mai 1917 zu Protokoll, daß sie das gegenwärtige Kronland Galizien für eine «künstlich geschaffene administrative Einheit» hielten, die im Widerspruch mit den historischen und nationalen Rechten stehe und darum zugunsten einer von Polen unabhängigen Einheit der ukrainischen Länder, einschließlich der von Ukrainern bewohnten Gebiete Russisch-Polens und Weißrußlands überwunden werden müsse. Zurückhaltung übten dagegen die polnischen Parlamentarier. Sie begnügten sich damit, eine Erklärung über die nationalen Fragen anzukündigen, die im Lichte einer am 28. Mai in Krakau verabschiedeten Resolution gehalten sein werde. Darin hatten die polnisch-galizischen Mitglieder des Reichsrats sich zu einem machtvollen polnischen Staat mit Zugang zum Meer bekannt.

Seit Beginn des Jahres 1918 spitzte sich die innere Krise des Habsburgerreiches immer mehr zu. Am 6. Januar forderte der Tschechische Verband in seiner «Dreikönigserklärung» einen Frieden, der auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beruhe und alle Nationen befreie, die unter der Fremdherrschaft litten. (Auch die Sozialisten, bei denen sich inzwischen die habsburgfeindlichen Kräfte durchgesetzt hatten, stimmten zu.) Den Januarstreiks, von denen schon die Rede war, folgte am 1. Februar die Meuterei der fünften Flotte im Golf von Cattaro, wobei die Marinekapelle die Marseillaise anstimmte und auf allen Schiffen rote Fahnen gehißt wurden. Die Forderungen der Anführer waren nach dem Urteil des tschechischen Historikers Zbynek A. Zeman ein «Gemisch aus bolschewistischen Schlagworten und den Programmen der Emigranten»; die Erhebung war nicht bloß eine Hungerrevolte, sondern auch ein sorgfältig vorbereiteter politischer Protest. Die Aktion brach zusammen, als am 3. Februar die dritte Flotte im Golf von Cattaro eintraf und die Matrosen begannen, den Führern des Aufstands die Gefolgschaft zu verweigern. Unter den 40 Matrosen, die nach der Niederwerfung der Erhebung angeklagt wurden, stellten die Tschechen mit sieben die größte nationale Gruppe, die übrigen waren Deutsch-Österreicher, Italiener, Südslawen und Polen.

Die weitere Entwicklung war zu einem guten Teil eine Folge der deutschen Frühjahrsoffensive von 1918 und der immer engeren Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn, wie sie Kaiser Wilhelm II. und Kaiser Karl bei dessen Besuch im deutschen Hauptquartier in Spa vereinbart hatten. Die politische Antwort der Westmächte war die nunmehr in entschiedenem Ton vorgetragene Forderung nach dem vollen Selbstbestimmungsrecht der Völker der Donaumonarchie, also der Auflösung des Habsburgerreiches. Im April verlangten Exilpolitiker aus allen Teilen der Doppelmonarchie auf einem von Italien und Frankreich unterstützten «Kongreß der unterdrückten Völker» in Rom die Beseitigung des Vielvölkerreiches, das ein Instrument der deutschen Herrschaft sei. Die Vertreter der italienischen und der «südslawischen Nation» vereinbarten eine Erklärung, den sogenannten «Patto di Roma», worin sie sich auf die Befreiung des Adriatischen Meeres, einen freundschaftlichen Ausgleich territorialer Streitfälle und den Schutz der jeweiligen Minderheit festlegten. (Der von der Entente im Londoner Geheimvertrag vom April 1915 anerkannte italienische Anspruch auf Triest, Istrien, mehrere istrische Inseln und große Teile der dalmatinischen Küste blieb unerwähnt.) Am 28. Juni 1918 forderte nach langem Zögern auch Präsident Wilson ausdrücklich, daß «alle Völker slawischer Rasse vom österreichischen Joch befreit» werden müßten.

Währenddessen verschlechterte sich die Wirtschaftslage Österreich-Ungarns dramatisch. Mitte 1918 beliefen sich die Reallöhne der Arbeiter auf etwas mehr als die Hälfte des Vorkriegsniveaus; gleichzeitig waren die Preise inflationär gestiegen. Die Bevölkerung vor allem Cisleithaniens litt unter einer Hungersnot: Die Ernte des Jahres 1918 erreichte nicht einmal 50 Prozent, die industrielle Produktion, wenn man von den Kriegsgütern absah, etwa 40 Prozent des Standes von 1913. Die Kohleproduktion war zwischen 1914 und 1917 um 95 Prozent zurückgegangen. In der Arbeiterschaft gärte es erneut; revolutionäre Parolen fielen angesichts der sozialen Not auf fruchtbaren Boden.

In Ungarn kamen noch besondere politische Bedingungen hinzu, die die Radikalisierung gedeihen ließen. Bis ins letzte Kriegsjahr widersetzten sich die adligen Großgrundbesitzer und die ihnen nahestehenden politischen Kräfte hartnäckig der Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts. Kaiser Karl zwang schließlich den Ministerpräsidenten István Tisza, einen entschiedenen Gegner der Reform, im Mai 1917 zum Rücktritt. Doch erst seinem Nachfolger Sándor Wekerle gelang es im Juli 1918 gegen starke parlamentarische Widerstände, eine bescheidene Demokratisierung des Wahlrechts durchzusetzen: 13 Prozent der Bevölkerung durften nunmehr Abgeordnete in die «Volksvertretung» entsenden. Das industrielle Proletariat, das bisher im Parlament überhaupt nicht vertreten war, konnte der Ministerpräsident mit seinem Vorhaben nicht beeindrucken. Kurz bevor das Wahlgesetz verabschiedet wurde, am 20. Juni 1918, legten die Arbeiter der staatlichen Eisenbahnwerke in Budapest die Arbeit nieder. Als der Militärkommandant der Hauptstadt das Feuer auf die Streikenden eröffnen ließ, schlossen sich die Arbeiter aller Budapester Fabriken dem Ausstand an. Er dauerte neun Tage und konnte erst durch Vermittlung der Sozialdemokratischen Partei beendet werden. Die Hauptforderungen der Protestierenden waren politischer Natur: Im Vordergrund standen ein sofortiger Friedensschluß und der Rücktritt der Regierung Wekerle.

Ein Vierteljahr später endete der österreichisch-ungarische Dualismus. Am 16. Oktober 1918, knapp zwei Wochen, nachdem Wien sich dem deutschen Waffenstillstandsersuchen vom 4. Oktober angeschlossen hatte, ließ Kaiser Karl das von seinem vorletzten Ministerpräsidenten Max Hussarek-Heinlein verfaßte und gegengezeichnete «Völkermanifest» herausgeben. Darin rief er zur Bildung von Nationalräten, bestehend aus den jeweiligen Abgeordneten des Reichsrats, auf und verkündete den Umbau der Monarchie in einen Bundesstaat. Ohne es zu wollen, hatte er damit, wie Adam Wandruszka schreibt, «den Umsturz legalisiert und den Anstoß zur Auflösung der Monarchie gegeben».

Die Regierung Wekerle hatte sich ausbedungen, daß die Integrität der transleithanischen Reichshälfte nicht angetastet werden sollte, konnte aber nicht verhindern, daß die Sezessionsbestrebungen bei den Rumänen, Südslawen und Slowaken sich verstärkten. Am 24. Oktober traf in Budapest die Nachricht von einer Meuterei kroatischer Truppen ein; am gleichen Tag demonstrierten ungarische Offiziere für den Frieden und eine Regierung des als Reformer bekannten Grafen Mihály Károlyi. Ebenfalls am 24. Oktober bildeten die Unabhängigen, die Partei Károlyis, zusammen mit den bürgerlichen Radikalen und den Sozialdemokraten ein Nationalkomitee, das seine Tätigkeit mit einer Erklärung begann, in der es einen selbständigen Staat Ungarn forderte und das Selbstbestimmungsrecht anerkannte, gleichzeitig aber an der territorialen Integrität Ungarns festhielt. Am 29. Oktober ließ sich die Budapester Garnison auf das Nationalkomitee vereidigen. Zwei Tage später ernannte Erzherzog Josef im Auftrag von Kaiser Karl Károlyi zum Ministerpräsidenten. Dieser bildete eine Regierung, an der sich auch die Sozialdemokraten beteiligten. Am selben 31. Oktober wurde der frühere Ministerpräsident Graf Tisza ermordet. Gut zwei Wochen später, am 16. November 1918, verkündete die Regierung Károlyi offiziell das Erlöschen aller staatsrechtlichen Bindungen zwischen Ungarn und Österreich, den Thronverlust des Hauses Habsburg und die Errichtung der Ungarischen Volksrepublik. Am 11. Januar 1919 folgte die Ernennung Károlyis zum provisorischen Präsidenten der Republik.

Die Auflösung des historischen Ungarn, der Länder der Stephanskrone, konnte der Regierungswechsel in Budapest nicht mehr aufhalten. Am 17. Oktober war in Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, ein Nationalausschuß gegründet worden, der die Vereinigung mit Rumänien propagierte. Die rumänischen Abgeordneten des Budapester Parlaments erhoben in ihrer letzten Erklärung vor dieser Versammlung am 18. Oktober dieselbe Forderung für Siebenbürgen. Zuvor schon, am 5. und 6. Oktober, hatten Vertreter der südslawischen Parteien aus beiden Reichshälften in Zagreb, auf deutsch Agram, den bestehenden, mit tschechischer Unterstützung gebildeten Nationalausschuß zu einem erweiterten Nationalausschuß umgewandelt, der die Vereinigung aller Serben, Kroaten und Slowenen zu seinem Programm erhob. Am 20. Oktober verabschiedete der kroatische Landtag einen Gesetzentwurf, der die verfassungsmäßigen Verbindungen zwischen Kroatien, Slawonien, Dalmatien und Fiume, auf kroatisch Rijeka, mit der österreich-ungarischen Monarchie für beendet und diese Länder zu Teilen des «Staates der Serben, Kroaten und Slowenen» erklärte. Ebenfalls am 29. Oktober wurde in Ljubljana, auf deutsch Laibach, die Unabhängigkeit Sloweniens proklamiert. Am 1. November ließ sich der Nationalausschuß vom regionalen Militärkommandanten die Verwaltung Bosniens und der Herzegowina übertragen.

Die erstrebte Vereinigung mit Serbien nahm mehr Zeit in Anspruch. Am 6. November hielt der aus dem Exil in Korfu zurückgekehrte Prinzregent Alexander feierlich Einzug in Belgrad. Am 1. Dezember proklamierte er das «Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen». Daß er sich damit gegenüber dem Nationalkomitee in Zagreb durchsetzen konnte, lag auch an Italien, das unter Berufung auf das Londoner Abkommen vom April 1915 Anspruch auf große Teile der dalmatinischen Küste erhob und (obwohl das im Londoner Vertrag nicht vorgesehen war) inzwischen Fiume besetzt hatte. Das Vordringen der Italiener an der östlichen Adria war auch eine Folge ihres militärischen Triumphes über die Truppen der Donaumonarchie in der neuntägigen Schlacht von Vittorio Veneto, die am 24. Oktober, dem ersten Jahrestag der verheerenden Niederlage von Caporetto, begann und am 3. November mit der Kapitulation der österreichisch-ungarischen Verbände und der Vereinbarung über den Waffenstillstand zwischen den Westmächten und der Donaumonarchie in Padua endete. Am nämlichen 3. November fiel auch Trient in die Hände der italienischen Truppen. Mit dem Sieg über den habsburgischen Erzfeind schien sich Italien endlich die Möglichkeit zu bieten, in vollem Umfang das Programm der Heimholung der «unerlösten» Gebiete, der «Irredenta», zu verwirklichen.

Für die tschechischen Protektoren der südslawischen Einheit war der Weg in die Unabhängigkeit um einiges einfacher. In Prag wurde der Nationalausschuß von den bürgerlichen Nationalisten dominiert. Als Unterstützung ihres Strebens nach völliger Trennung vom Haus Habsburg konnten sie es verbuchen, daß am 30. Juni Italien und Frankreich, am 13. August Großbritannien und am 3. September auch Präsident Wilson die Selbständigkeit eines künftigen tschechoslowakischen Staates anerkannt hatten. Als am 27. Oktober Graf Julius Andrássy der Jüngere, der Außenminister des Kabinetts Lammasch, der letzten kaiserlichen Regierung, die USA um einen sofortigen Waffenstillstand auf der Grundlage der amerikanischen Note vom 18. Oktober ersuchte, wurde dies vom Nationalausschuß als das interpretiert, was es war: die Aufkündigung des Bündnisses mit dem Deutschen Reich und die Anerkennung des Anspruchs der Tschechen und Südslawen auf staatliche Unabhängigkeit. Am gleichen Tag, dem 27. Oktober, bat der Oberkommandierende der Armee in Böhmen den Nationalausschuß, auf die tschechischen Soldaten einzuwirken, damit diese mindestens bis zum Waffenstillstand auf ihren Posten ausharrten. Am 28. Oktober stellte der Nationalausschuß fest, der selbständige tschechoslowakische Staat sei ins Leben getreten. Am selben Tag übernahm der Nationalausschuß die militärischen Kommandos in Prag, Pilsen und Leitmeritz: Ministerpräsident Lammasch erkannte die neuen Machtverhältnisse auf seine Weise an, als er am 30. Oktober einen Abgesandten des Nationalausschusses in Wien als «Botschafter des tschechoslowakischen Staates» begrüßte.

Tatsächlich stand zu diesem Zeitpunkt noch nicht zweifelsfrei fest, ob die Slowaken bereit waren, sich mit den Tschechen zu vereinigen. Die Einheit der Tschechen und Slowaken war bislang ein überwiegend intellektuelles Projekt. Der slowakische Nationalausschuß erklärte am 30. Oktober unmittelbar nach seiner Gründung zwar, daß die Slowaken «sprachlich, kulturell und historisch ein Teil der tschechoslowakischen Nation» seien, gleichzeitig aber bestand er auf dem Selbstbestimmungsrecht der Slowaken. An die Spitze der ersten slowakischen Regierung trat der Führer der Slowakischen Nationalpartei, Vavro Šrobár, der kurz zuvor aus ungarischer Haft entlassen worden war und als einziges slowakisches Mitglied des Prager Nationalausschusses an der Verabschiedung des Gesetzes über die Gründung eines unabhängigen tschechoslowakischen Staates mitgewirkt hatte. Von Prag nach Bratislava (Preßburg) zu gelangen war indes schwieriger, als Šrobár und seine tschechischen Unterstützer angenommen hatten: Da die slowakische Hauptstadt noch in ungarischer Hand war, mußte die Regierung Šrobár ihre erste Sitzung im mährischen Skalitz abhalten.

Widerstand gegen die tschechoslowakische Staatsgründung kam von den Deutschen in Böhmen und Mähren, die in ihrer großen Mehrheit in Gebieten wohnten, die entweder an das «eigentliche» Österreich oder an das Deutsche Reich grenzten. Da in Wien mittlerweile die Sozialdemokraten den Ton angaben, wandten sich die bürgerlichen Abgeordneten aus Böhmen und Mähren an die Arbeiterpartei, um sie für eine gemeinsame Abwehr der tschechischen Staatsgründung zu gewinnen. In ihrer Antwort vom 3. Oktober sprachen sich die Sozialdemokraten für das Recht der slawischen Nationen aus, ihre eigenen Nationalstaaten zu bilden, lehnten aber gleichzeitig «unbedingt und für immer die Unterwerfung deutscher Gebiete unter diese Nationalstaaten» ab. «Wir fordern, daß alle Gebiete Österreichs zu einem deutschösterreichischen Staat vereinigt werden, der seine Beziehungen zu den anderen Nationen Österreichs und zum Deutschen Reich nach seinen Bedürfnissen regeln soll.»

Damit war die Linie vorgezeichnet, die die Vertreter Deutschösterreichs in den folgenden Monaten einschlugen. Am 21. Oktober traten die Abgeordneten der deutschsprachigen Gebiete der cisleithanischen Reichshälfte zu einer Sitzung zusammen, in der sie sich als «Provisorische Nationalversammlung des selbständigen deutschösterreichischen Staates» konstituierten. Am 30. Oktober verabschiedete die Nationalversammlung eine Provisorische Verfassung. An die Spitze der Provisorischen Regierung, der Politiker der Sozialdemokraten, der Christlichsozialen und der großdeutschen Deutschnationalen angehörten, trat, ebenfalls am 30. Oktober, der Sozialdemokrat Karl Renner als Staatskanzler. Das Außenministerium übernahm der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Victor Adler. Er starb, völlig unerwartet, am 11. November im Alter von 66 Jahren.

Die als schmachvoll empfundene Niederlage des kaiserlichen Heeres bei Vittorio Veneto, in deren Folge 400.000 Soldaten in italienische Kriegsgefangenschaft gerieten, und der Sturz der Monarchie in Deutschland trugen entscheidend dazu bei, daß sich auch in Österreich die republikanischen Tendenzen durchsetzten. Am 11. November erklärte Kaiser Karl auf Drängen seiner Berater wie der Vertreter der Provisorischen Nationalversammlung, daß er auf «jeden Anteil an den Staatsgeschäften» verzichte und im voraus die Entscheidung anerkenne, die Deutschösterreich im Hinblick auf seine künftige Staatsform treffen werde. Tags darauf verabschiedete die Provisorische Nationalversammlung die schon zitierte Entschließung, in der Deutschösterreich zur demokratischen Republik und zum «Bestandteil der Deutschen Republik» erklärt wurde.

Mit der Abdankung Karls als Kaiser von Österreich (noch nicht, auch wenn das eine Fiktion blieb, als König von Ungarn) endete die Geschichte des habsburgischen Vielvölkerreiches. Vier Jahrhunderte lang hatte es maßgeblichen Einfluß auf den «alten Kontinent» ausgeübt und, wenn auch nicht ununterbrochen, den Status einer europäischen Großmacht innegehabt. In Deutschland war das Haus Habsburg (oder, wie es seit der Heirat von Maria Theresia und Herzog Franz Stephan von Lothringen im Jahre 1736 offiziell hieß, das Haus Habsburg-Lothringen) als Feind der Freiheit aufgetreten, erst im Kampf gegen den Protestantismus, dann gegen den Liberalismus. Mit Österreich konnten die Deutschen Einheit und Freiheit nicht erlangen: Nicht zuletzt daran ist die Revolution von 1848/49 gescheitert. Nachhaltiger noch und keineswegs nur negativ zu bewerten war die Wirkung der habsburgischen Herrschaft in ihrem engeren Machtbereich. Ganz Ostmitteleuropa, von Galizien bis Dalmatien, von den Sudeten bis zu den Karpaten, hat die Donaumonarchie durch ihre Verwaltung, ihre Gerichte und Schulen, durch Post und Eisenbahn, Polizei und Armee und nicht zuletzt durch ihre dunkelgelb («habsburgergelb») angestrichenen Amtsgebäude einen unverkennbaren Stempel aufgedrückt.

Das Habsburgerreich war nicht der «Völkerkerker», den tschechische und südslawische Nationalisten in ihm sehen wollten. Die slawischen Völker hatten aber seit dem «dualistischen» Ausgleich mit Ungarn von 1867 darunter zu leiden, daß ihnen die Deutsch-Österreicher und die Magyaren nur mindere Rechte einräumten. Die Erbitterung, die dies erzeugte, untergrub seit dem späten 19. Jahrhundert die Grundlagen der Doppelmonarchie. Die Angst vor der Auflösung des Reiches ließ Österreich nach dem Mord von Sarajewo mit übertriebener Härte auf die Herausforderung durch den großserbischen Nationalismus reagieren und, von der Reichsleitung in Berlin dazu ermutigt, die Politik betreiben, die zum Ersten Weltkrieg führte.

Zur Wiener «Kriegspartei» gehörten in der Julikrise von 1914 auch der greise Kaiser Franz Joseph, der, gestützt auf seine große Popularität, auch eine ganz andere Rolle, die des Friedenswahrers, hätte übernehmen können. Die föderalistische Reform, die sein Nachfolger in letzter Stunde durchzuführen versuchte, kam zu spät, um die Monarchie noch zu retten. Das Streben nach Unabhängigkeit war stärker als die Staatsklugheit des letzten Kaisers. Ob die neu entstandenen Staaten, die sich Nationalstaaten nannten, es aber streng genommen nicht waren, besser mit den Problemen einer nationalen Gemengelage umgehen würden als die untergegangene «k. u. k.» Monarchie: Das war eine der vielen offenen Fragen in der Umbruchszeit von 1918/19.[11]

Offen blieb während des Krieges lange auch die polnische Frage. Von den drei Teilungsgebieten fühlte sich das österreichische, also das Kronland Galizien mitsamt der bis 1846 selbständigen Freien Stadt Krakau, am wenigsten in seiner nationalen Identität bedroht. Die dort lebenden Polen waren ebenso wie die Österreicher Katholiken; das unterschied die Lage dieses Teiles von Polen von der in den anderen beiden, die es mit einer andersgläubigen Teilungsmacht zu tun hatten: einer protestantischen im Fall Preußen-Deutschlands, einer orthodoxen im Fall Rußlands. Der einheimische Landadel Galiziens war die tonangebende Gruppe, bildete einen Teil der habsburgischen Führungsschicht und war im allgemeinen «österreichisch» gesinnt. Erst die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts in Cisleithanien im Jahre 1907 gab Bürgern, Arbeitern und Bauern die Möglichkeit, ihre Interessen politisch stärker zur Geltung zu bringen. Als gefährlich empfand die Regierung in Wien das Selbständigkeitsstreben der ukrainisch sprechenden Ruthenen, die sich in «Altruthenen» und «Ukrainer» aufgliederten: Während die «Altruthenen» sich «Großrußland» und der russischen Orthodoxie verbunden fühlten (und von panslawistischen und militant orthodoxen Kreisen des Zarenreiches aktiv gefördert wurden), waren die meist jüngeren und überwiegend griechisch-katholischen (das heißt dem Ritus nach orthodoxen, kirchenrechtlich aber mit Rom verbundenen) «Ukrainer» Befürworter eines nationalen Zusammenschlusses aller Ukrainer und darum ebenso antirussisch wie antiösterreichisch eingestellt.

Der preußische Teil des historischen Polen, bestehend aus dem Großherzogtum Posen und Westpreußen, war das am meisten industrialisierte, wohlhabendste und «bürgerlichste» der drei Teilungsgebiete. (1921, nach der Wiederherstellung eines unabhängigen polnischen Staates, belief sich der Anteil der Analphabeten in den ehemals preußischen Wojewodschaften auf 4,2 Prozent der über zehn Jahre alten Bevölkerung, während der Landesdurchschnitt bei 33,1 Prozent lag. Zehn Jahre später, 1931, waren in ganz Polen 60,6 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt; in Posen waren es weniger als 50 Prozent.) Die Polen waren im preußischen Abgeordnetenhaus und im deutschen Reichstag mit einer eigenen Fraktion vertreten; zwischen dem preußischen und dem polnischen Adel gab es manche familiären Beziehungen. Aber seit den 1880er Jahren wurden die germanisierenden Bestrebungen der Berliner Politik immer stärker; die polnische Sprache geriet ebenso unter Druck wie der polnische Großgrundbesitz. Von einem «Hineinwachsen» der Polen in das Deutsche Reich konnte, wenn man einmal von den ins Ruhrgebiet eingewanderten polnischen Arbeitern absieht, keine Rede sein.

Der in das Russische Reich eingegliederte Teil des alten Polen zerfiel in zwei sehr unterschiedliche Gebiete: die «geschichtlichen Ostmarken» mit einer überwiegend litauischen, weißrussischen und ukrainischen Bauernbevölkerung und das 1815 gebildete «Königreich Polen», auch «Kongreßpolen» genannt: ein mehrheitlich von ethnischen Polen bewohntes Gebiet mit kleineren Minderheiten von Deutschen, Juden, Litauern und Ukrainern. Die Ostmarken waren seit den 1860er, Kongreßpolen seit Mitte der 1880er Jahre einer systematischen Russifizierungspolitik ausgesetzt gewesen; erst seit der Revolution von 1905 trat hier eine gewisse Milderung ein. Im Zuge der Industrialisierung war, vor allem in den Gebieten um Warschau und Lodz, eine starke Arbeiterbewegung entstanden, aufgeteilt in die nationalpolnisch geprägte, von Józef Piłsudski geführte Polnische Sozialistische Partei (PPS) und die entschieden internationalistische Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen (SDKPiL), die Partei von Rosa Luxemburg und, seit diese 1899 nach Deutschland übergesiedelt und in der SPD aktiv geworden war, Feliks Dzierzyński, die starken Einfluß auf den linken Flügel der PPS ausübte. Eng mit dem rechten Flügel der PPS arbeitete die Polnische Sozialdemokratische Partei in Galizien und Schlesien unter Ignacy Daszyński zusammen, die innerhalb der cisleithanischen Sozialdemokratie erhebliches Gewicht besaß.

Im bürgerlichen Lager war die bedeutendste Gruppierung die 1886 gegründete Demokratische Liga, die sechs Jahre später von dem jungen Roman Dmowski zur Nationalen Liga umgebildet wurde. Dmowski sah in Deutschland den eigentlichen Gegner des Polentums, woraus sich für ihn die Notwendigkeit einer Aussöhnung zwischen Polen und Rußland ergab. Während Piłsudski, der aus einer in der Umgebung von Wilna ansässigen polnischen Kleinadelsfamilie stammte, in der «jagiellonischen» Tradition einer großen polnisch-litauischen Föderation, möglichst in den Grenzen von 1772, also der Zeit vor der Ersten Teilung Polens, stand, war Dmowski ein Vertreter der «piastischen» Denkschule, die in Anknüpfung an das vermeintliche Erbe des polnisch-schlesischen Herrschergeschlechts der Piasten Polen nach Westen hin, auf Kosten Deutschlands, vergrößern wollte.

Die von Dmowski nach der Revolution von 1905 gegründete, bei der Ersten Dumawahl im Jahr darauf sehr erfolgreiche Nationaldemokratische Partei, kurz «Endecja» genannte, stellte sich aber nicht nur gegen Deutschland, sondern auch gegen die Juden, denen der Vorwurf galt, sie beherrschten das städtische Handwerk und verhinderten so die Entstehung eines gesunden polnischen Mittelstandes, und gegen die Sozialisten als Feinde des Privateigentums und damit aller bürgerlichen Ordnung. Die Zunahme der autoritären Tendenzen im Zarenreich nach 1905 führte dann dazu, daß viele enttäuschte Nationaldemokraten mit der Partei Dmowskis brachen und sich Piłsudski anschlossen, der inzwischen seinerseits begonnen hatte, weit über die PPS hinaus eine Bewegung für die polnische Unabhängigkeit zu organisieren.

Mit Blick auf Russisch-Polen hat der deutsche Historiker Hans Roos die innenpolitischen Fronten wie folgt beschrieben: «Einem antirussischen Lager stand ein antideutsches gegenüber, einem sozialistisch-bürgerlichen ein bürgerlich-adeliges, einem auf Unabhängigkeit gerichtetes ein autonomistisches, einem revolutionären ein legales.» In Galizien war der Gegensatz zwischen Nationaldemokraten und Sozialisten kaum weniger stark ausgeprägt wie in Russisch-Polen. Als eine Art von dritter Kraft kam hier aber noch die «Krakauer Schule» hinzu, die auf eine enge Zusammenarbeit mit der «mildesten» Teilungsmacht, Österreich, hinwirkte. Galizien stellte sich vor allem den jüngeren Anhängern dieser Richtung als ein «polnisches Piemont» dar: Wenn es, womit man angesichts der wachsenden Gegensätze zwischen beiden Mächten rechnen mußte, zu einem Krieg zwischen Rußland und Österreich-Ungarn kam, sollte Galizien bei der Erkämpfung der polnischen Unabhängigkeit eine ähnliche Rolle übernehmen wie das Königreich Sardinien-Piemont bei der Einigung Italiens. Piłsudski setzte seine Hoffnungen ebenfalls auf einen Krieg zwischen den Teilungsmächten. Bereits im Juni 1914 sagte der damals Sechsundfünfzigjährige in bemerkenswerter Klarsicht voraus, daß, wenn ein derartiger Krieg ausbrechen sollte, zuerst die Mittelmächte Rußland und dann die Westmächte die Mittelmächte besiegen würden. Die Träger der polnischen Staatsidee müßten sich also, so Roos über das Kalkül Piłsudskis, «zuerst mit den Mittelmächten verbünden, um dann in der Peripetie des Krieges zu den Westmächten überzugehen … Der Ausbruch des Krieges brachte für ihn die Erhörung jenes Gebetes, mit dem der berühmte Dichter Adam Mickiewicz … einst Gott um einen Krieg zur Befreiung der unterdrückten Polen angefleht hatte.»

Zwei der Teilungsmächte gingen, was die Zukunft Polens betraf, ohne klare Zielvorstellungen in den Ersten Weltkrieg. Der deutsche Reichskanzler von Bethmann Hollweg entwickelte im August 1914 den Plan eines formell unabhängigen, eng mit Deutschland verbündeten Kongreßpolen; die russische Regierung zögerte, sich auf das Programm Dmowskis, ein um die deutschen Ostprovinzen und Galizien erweitertes, mit Rußland liiertes Kongreßpolen, festzulegen. Nur Österreich-Ungarn verfolgte schon zu Kriegsbeginn eine fest umrissene Idee, nämlich die Vereinigung von Galizien mit Kongreßpolen und die Umwandlung dieses Gebiets in ein Kronland des Habsburgerreiches. In Berlin, wo das Interesse am Baltikum stärker war als das an Polen, fand diese «austropolnische» Lösung zeitweilig Unterstützung. Die militärischen Erfolge der Deutschen und die Niederlage der Österreicher führten aber rasch zur Abkehr von diesem Modell. Am 5. November 1916 riefen, wie schon erwähnt, der deutsche Generalgouverneur in Warschau und der österreichische Generalgouverneur in Lublin das «Königreich Polen» als konstitutionelle Monarchie aus, die im wesentlichen aus Kongreßpolen bestehen und politisch, wirtschaftlich und militärisch ein Satellit der Mittelmächte sein sollte.

Unter den polnischen Politikern standen sich nach 1914 «Passivisten» wie Dmowski und «Aktivisten» wie Piłsudski gegenüber. Während die ersteren in Polen selbst erst dann tätig werden wollten, wenn sich eine Niederlage der Mittelmächte abzeichnete, wollten die letzteren im Interesse Polens in das Kriegsgeschehen eingreifen. Piłsudski, militärisch ein Autodidakt, überquerte am 6. August 1914 mit einer kleinen Freischar nordöstlich von Krakau die Grenze zu Kongreßpolen, ohne damit politisch oder militärisch etwas zu bewirken. Eine Woche später brachte ihn ein österreichisches Ultimatum dazu, sich dem neugebildeten Obersten Nationalkomitee in Krakau zu unterstellen.

Die von Piłsudski kommandierte «Westliche Legion» aus polnischen Freiwilligen konnte im Winter und Frühjahr 1915 einige eindrucksvolle militärische Erfolge verbuchen. Flankierend hatte Piłsudski durch befreundete Offiziere bereits im Herbst 1914 in Warschau eine Untergrundtruppe, die Polnische Militärorganisation (POW), ins Leben rufen lassen. Die von ihm aufgebaute Legion umfaßte im Herbst 1916 etwa 1000 Offiziere und 20.000 Mann. Ihre Umwandlung in ein Polnisches Hilfskorps der Mittelmächte lehnte er ab und trat, als diese trotzdem vollzogen wurde, als Kommandant zurück. Wenig später aber, im Januar 1917, entschied er sich, in den von dem deutschen Generalgouverneur von Beseler berufenen Provisorischen Staatsrat einzutreten und dort das Referat für Heeresfragen zu übernehmen. Eine Unterordnung unter die deutsche Führung war damit nicht beabsichtigt: Piłsudski wollte die militärischen Kräfte Polens so stark machen, daß sie nach der erwarteten Niederlage des Zarenreiches an der Seite der Westmächte entscheidend an der Niederwerfung der Mittelmächte mitwirken konnten.

Die russische Februarrevolution wurde auch für Polen zu einer wichtigen Zäsur. Am 30. März 1917 ließ die Provisorische Regierung in Petrograd ein Manifest herausgehen, in dem sie sich für ein großes unabhängiges Polen aussprach, das alle von Polen bewohnten Gebiete umfassen und mit Rußland durch eine freie Militärunion verbunden sein sollte. Im Zuge der beabsichtigten Föderalisierung des Russischen Reiches beschloß die Provisorische Regierung Anfang Juni, die nichtrussischen Soldaten in den russischen Streitkräften zu nationalen Verbänden zusammenzuschließen. Das daraufhin geschaffene Oberste Polnische Heereskomitee fand sogleich die Unterstützung der Nationaldemokraten, die inzwischen von Dmowski auf eine enge Zusammenarbeit mit den Westmächten eingeschworen worden waren. Dmowski, der seit Anfang 1916 von London aus um die Unterstützung der Westalliierten für seine Vorstellungen von einem unabhängigen, auf Kosten Deutschlands erweiterten Großpolen warb, rief im August 1917 in Lausanne als Exilregierung das Polnische Nationalkomitee ins Leben und stellte sich an seine Spitze. Ganz in seinem Sinne wirkte der international berühmte Pianist Ignacy Jan Paderewski in den USA auf Präsident Wilson und seine engsten Berater ein.

Die PPS und die Untergrundorganisation POW, die zeitweilig mit dem Warschauer Staatsrat kooperiert hatten, gingen Anfang Mai 1917 in die Opposition und im Juni zum offenen Kampf gegen die Mittelmächte über. Piłsudski schloß um dieselbe Zeit seine engeren Anhänger mit der PPS und der bäuerlichen Volkspartei zur Demokratischen Liga zusammen. Am 24. Juli 1917 legte er sein Mandat im Provisorischen Staatsrat nieder und befahl den ihm gegenüber loyalen Freiwilligen des Polnischen Hilfskorps, den vorgesehenen Eid auf den deutschen Kaiser zu verweigern. Die meisten der 6500 Legionäre, etwa 4000, und 164 von 275 ihrer Offiziere befolgten diese Weisung und wurden daraufhin von der deutschen Besatzungsmacht interniert. Am 22. Juli ließ Generalgouverneur von Beseler Piłsudski verhaften. In die preußische Festung Magdeburg verbracht, konnte Piłsudski bis zu seiner Freilassung Anfang November 1918 die politische Entwicklung in Polen nicht mehr beeinflussen. Seiner politischen Autorität aber konnte die erzwungene Abwesenheit nichts anhaben. Die Internierung machte Piłsudski vielmehr erst recht zu einem nationalen Mythos.

Kurz nach der Verhaftung Piłsudskis beschlossen die Regierungen in Berlin und Wien, dem Königreich Polen ein provisorisches Staatsoberhaupt in Gestalt eines Regentschaftsrats zu geben. Der demonstrative Rücktritt des Staatsrates am 25. August 1917, ein Protest gegen die ständige Gängelung durch die Besatzungsmächte, beschleunigte die Entwicklung. Am 12. September erklärten die beiden Kaiser, Wilhelm II. und Karl, in einem gemeinsamen Patent Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung weitgehend zur Sache der Polen. Am 27. Oktober wurde ein dreiköpfiger Regentschaftsrat, bestehend aus dem Warschauer Erzbischof Kakowski, dem Warschauer Stadtpräsidenten Fürst Lubomirski und dem Grafen Ostrowski, eingesetzt. Am 7. Dezember folgte die Berufung einer polnischen Regierung unter dem Vorsitz des Juristen Jan Kucharzewski.

Kaum hatte das Königreich Polen den Zustand der Autonomie erlangt, da änderte die zweite russische Revolution des Jahres 1917 die internationale Lage radikal. Die Machtergreifung der Bolschewiki zerstörte die Hoffnung der «Passivisten», Rußland werde weiterhin an der Seite der Westmächte seinen Beitrag zum Sieg über die Mittelmächte leisten. Im Zuge der Enteignung des Großgrundbesitzes verloren auch die polnischen Gutsbesitzer in den «Ostmarken» ihre Ländereien. Das in diesem Gebiet stationierte, dem Obersten Polnischen Heereskomitee unterstellte Erste Polnische Korps unter General Dowbor-Muśnicki trat daraufhin, um den polnischen Besitz in Land und Stadt zu schützen, in den bewaffneten Kampf gegen die Bolschewiki ein. Im Januar 1918 fiel die Festung Bobruisk, im Februar die Stadt Minsk in die Hände der polnischen Verbände, die in dieser Zeit «objektiv» als Verbündete der Mittelmächte agierten. Auch die Nationaldemokraten schwenkten jetzt um: Einer ihrer prominentesten Vertreter, Jan Stecki, übernahm das Amt des Innenministers in der Regierung Kucharzewski. Hans Roos beschreibt den Einfluß der russischen Ereignisse auf Polen wie folgt: «Hatte die Februarrevolution die polnische Linke der Politik der Mittelmächte entfremdet, so brachte die Oktoberrevolution umgekehrt starke Gruppen der Rechten der Besatzungsgewalt und der von ihr eingesetzten Regierung näher.»