In den folgenden Wochen wurden etwa 50.000 ungarische Juden, Männer wie Frauen, zu einem Fußmarsch ins Reichsgebiet gezwungen, auf dem viele von ihnen umkamen. Von den Überlebenden starben Tausende beim Bau von Befestigungsanlagen rund um Wien. 35.000 Juden wurden zum gleichen Zweck in der Umgebung von Budapest eingesetzt. Als im Dezember die sowjetischen Truppen immer näher rückten und der Rückzug der ungarischen Truppen in die Hauptstadt unvermeidbar wurde, veranstalteten Schlägertruppen der Pfeilkreuzler, die «Nyilas», auf den Donaubrücken und an den Ufern des Flusses ein furchtbares Blutbad unter den jüdischen Zwangsarbeitern.
In Budapest gab es um diese Zeit zwei Ghettos, von denen das kleinere, das «internationale», unter dem Schutz neutraler Länder wie der Schweiz und Schwedens stand. Nachdem die ungarische Regierung unter dem Druck des Auslands der Auswanderung von 8800 Juden nach Palästina zugestimmt hatte, gelang es der «Va’adat», die individuellen Ausreisezertifikate in Familienzertifikate umzuwandeln. Der Leiter der Abteilung «Fremde Interessen» in der Schweizer Gesandtschaft, Carl Lutz, stellte daraufhin Schutzpapiere für 40.000 Juden aus. Fast 35.000 dieser Papiere wurden von der Regierung Szálasi anerkannt. Das Vorhaben, etwa 40.000 ungarische Juden nach Palästina ausreisen zu lassen, scheiterte schließlich am Veto der SS. Carl Lutz mietete daraufhin in Zusammenarbeit mit dem ersten Sekretär der schwedischen Gesandtschaft, Raoul Wallenberg, und dem regimekritischen deutschen Diplomaten Gerhart Feine etwa 30 große Schutzhäuser an, in denen etwa 30.000 Budapester Juden bis zum Kriegsende wirksamen Schutz fanden. Neben Lutz und Wallenberg waren auch der päpstliche Nuntius und Diplomaten aus Spanien und Portugal an der Rettung von Tausenden ungarischer Juden beteiligt. Der bekannteste Helfer, Raoul Wallenberg, wurde 1945 vom NKWD in die Sowjetunion verschleppt. Sein letztes Lebenszeichen stammt aus dem Jahr 1947.
Die «Nyilas» setzten ihr mörderisches Treiben während der Rettungsaktionen der Diplomaten fort. Mitte Januar 1945 fand ihr letztes großes Massaker an den Ufern der Donau statt, dem in erster Linie jüdische Männer, Frauen und Kinder zum Opfer fielen. Zwischen 10.000 und 20.000 Juden wurden während des Winters 1944/45 von den antisemitischen Schlägerbanden umgebracht. Am 13. Februar nahm die Rote Armee die ungarische Hauptstadt ein. Von den ehedem 200.000 Budapester Juden überlebte nur knapp die Hälfte das Kriegsende.
Um die Jahreswende 1944/45 verstärkte Himmler seine Versuche, durch Zugeständnisse in der «Judenfrage» eine Brücke zu den Westalliierten zu schlagen. Der Reichsführer SS autorisierte Kontakte seiner Untergebenen zu Vertretern jüdischer Organisationen in der Schweiz und nahm Verbindung zu möglichen Vermittlern in Schweden und in der Schweiz auf. Dem ihm persönlich bekannten schweizerischen Bundesrat Jean-Marie Musy schlug er die Freilassung von zehntausenden Juden vor, um so den Grund für Verhandlungen mit den angelsächsischen Mächten zu legen. Tatsächlich traf im Januar 1945 ein Zug mit 1200 Juden aus Theresienstadt in der Schweiz ein. Im Februar kam der Vizepräsident des schweizerischen Roten Kreuzes, Folke Graf Bernadotte, nach Berlin, um mit Himmler über die Freilassung skandinavischer Internierter aus dem Konzentrationslager Neuengamme sowie von Juden aus Theresienstadt und Bergen-Belsen zu verhandeln, wobei der Reichsführer sich sehr kooperativ zeigte. Am 21. April empfing der Reichsführer SS sogar einen Vertreter des Jüdischen Weltkongresses, den aus Schweden angereisten Norbert Masur. Das Ergebnis des Gesprächs war bescheiden: Himmler sagte die Entlassung von 1000 jüdischen Frauen und einigen prominenten Ausländern unter den jüdischen Häftlingen des Konzentrationslagers Ravensbrück nach Schweden zu.
Von einer Wende im Vollzug der «Endlösung der Judenfrage» aber konnte keine Rede sein. Das zeigten die Vernichtungsaktionen, die bis in die letzten Kriegswochen hinein weitergingen. Im November 1944 ließ Himmler angesichts des Vormarsches der sowjetischen Truppen die Vergasungen in Auschwitz einstellen und die Gaskammern und Krematorien sprengen, um alle Spuren des Massenmordes zu verwischen. Entsprechend war die SS zuvor schon, soweit möglich, bei den weiter östlich gelegenen Vernichtungslagern vorgegangen. Aus den Massengräbern wurden die Leichen wieder ausgegraben und verbrannt. In Treblinka konnte die Vertuschung des Verbrechens, wie erwähnt, im Juli 1944 nicht zu Ende geführt werden.
Schon vor der Schließung von Auschwitz hatte die SS auf Grund des Drängens von Speer arbeitsfähige Juden zur Rüstungsarbeit nach Deutschland in Marsch gesetzt, unter anderem nach Dachau und in die Tunnel von Dora-Mittelbau im Harz, wo sie von der «Organisation Todt» unter mörderischen Arbeitsbedingungen bei der Produktion von V-2-Raketen eingesetzt wurden. Im Januar 1945 ließ Himmler sämtliche Lager im Osten evakuieren. Etwa 700.000 bis 800.000 KZ-Häftlinge, in ihrer Mehrzahl Juden, mußten Todesmärsche in Richtung Westen antreten. Rund 250.000 Menschen kamen dabei infolge von Erschöpfung oder Erfrieren, durch Erschießung oder Verbrennen bei lebendigem Leibe ums Leben. Vielerorts beteiligten sich auch Zivilisten, darunter Hitler-Jungen, an den Massakern.
Weit über 5000 jüdische Häftlinge aus Außenstellen des Konzentrationslagers Stutthof ließ der ostpreußische Gauleiter Erich Koch in der zweiten Januarhälfte, als sie auf dem Landweg entlang der Ostseeküste nicht mehr vorankamen, in der Nähe von Palmnicken erschießen. Ein ähnliches Schicksal erlitt der größte Teil der 3000 jüdischen Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald, die die SS im April auf den Marsch nach Theresienstadt schickte. Von den 45.000 Insassen des Lagers Buchenwald erlebte rund ein Drittel das Kriegsende nicht mehr. Kranke Häftlinge blieben in den Lagern zurück. In Auschwitz tötete die SS 200 von ihnen, ausschließlich Frauen, bevor sie endgültig abzog. Am 27. Januar 1945 nahm die Rote Armee das größte der deutschen Vernichtungslager ein und befreite die etwa 7000 überlebenden Häftlinge. Die Zahl der dort ermordeten Menschen belief sich auf 1,3 Millionen. Die Gesamtzahl der Opfer des Holocaust wird auf 5 bis 6 Millionen geschätzt.
An der Ermordung der europäischen Juden waren nicht nur Deutsche, sondern auch Judenfeinde und willfährige Helfer der SS in allen Teilen des von Deutschland beherrschten Europa beteiligt. Aber geplant und in Gang gesetzt hatte den Völkermord das nationalsozialistische Deutschland. Ohne den festen Willen zur Vernichtung der Juden, ohne die Disziplin des damit betrauten Personals, ohne die Kapazitäten der hochentwickelten Industriemacht Deutschland wäre das Projekt nicht zu verwirklichen gewesen. Daß sie von den Alliierten für dieses Menschheitsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden würden, dürften viele Deutsche schon im Frühjahr 1945 geahnt haben. Eine sehr viel radikalere Konsequenz aus der Ausrottung des europäischen Judentums sollte den Deutschen erst später bewußt werden: Ihr Selbstverständnis als Nation konnte nach dem, was sie den Juden angetan hatten, nie mehr dasselbe sein wie in der Zeit vor der tiefsten Zäsur der deutschen Geschichte: der Machtübertragung an Hitler im Jahr 1933.[24]
Kriegsende (I): Der Untergang des Deutschen Reiches
D Als das Jahr 1944 zu Ende ging, war der von Hitler angeordnete letzte große Vorstoß an der Westfront, die Ardennenoffensive, faktisch bereits gescheitert. Die Alliierten verloren dabei 76.000, die Deutschen 90.000 Mann. Der «Führer» erreichte mit dem Unternehmen lediglich, daß der Einmarsch der Amerikaner und Briten in Deutschland sechs Wochen später stattfand als geplant. Am 7. März 1945 fiel die unzerstörte Rheinbrücke bei Remagen nach heftigen Kämpfen in die Hände der Amerikaner. Sie errichteten dort ihren ersten Brückenkopf rechts des Rheins und gewannen damit eine Ausgangsposition für Vorstöße ins Bergische Land und ins Ruhrgebiet.
Die letzte Großoffensive der Roten Armee begann am 12. Januar 1945. Die Front verlief danach von der Memel über Warschau bis zu den Karpaten. Östlich davon gab es deutsche Truppen noch im «Kurlandkessel», den zu räumen sich Hitler hartnäckig weigerte. Da die Wehrmacht in Folge der Ardennenoffensive im Osten über keine Reserven mehr verfügte, konnten die sowjetischen Truppen binnen weniger Tage weit nach Westen vordringen. Ende Januar nahmen sie das unzerstört gebliebene oberschlesische Industriegebiet ein – ein tief einschneidender Vorgang, der Rüstungsminister Albert Speer zu einer Denkschrift an Hitler veranlaßte, die in der Feststellung gipfelte, die Kriegsbereitschaft und die Rüstungsproduktion des Reiches stünden damit vor dem Ende. Am 31. Januar errichtete Marschall Schukow einen Brückenkopf bei Küstrin an der Oder. Am gleichen Tag wurde Königsberg, wenn auch zunächst nur vorübergehend, eingeschlossen. Am 4. März gelang es den sowjetischen Truppen, durch einen Vorstoß zur Ostsee Ostpreußen vom übrigen Reich abzuschneiden.
Eine rechtzeitige Evakuierung der ostpreußischen Bevölkerung hatte Gauleiter Erich Koch konsequent verhindert, so daß die überstürzte Flucht nun für Zehntausende zur Katastrophe wurde. Viele Trecks wurden von sowjetischen Panzern überrollt oder von Tieffliegern beschossen; Pferdefuhrwerke brachen auf der teilweise dünnen Eisdecke des Frischen Haffes ein. Wer im kleinen Hafen von Pillau ein Schiff erreichte, war damit noch nicht gerettet. Von den Schiffen, die die Kriegsmarine nach Ostpreußen beordert hatte, wurden mehrere, darunter der ehemalige «Kraft-durch-Freude»-Dampfer «Wilhelm Gustloff», durch feindlichen Beschuß versenkt. 25.000 Menschen kamen bei der Flucht über die Ostsee nach Schleswig-Holstein oder Dänemark ums Leben. Schrecklich war auch das Schicksal der Ostpreußen, die der vorrückenden Roten Armee nicht mehr entkamen. Ungezählte Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt, arbeitsfähige Männer und Frauen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt, Menschen aller Altersstufen wahllos getötet. Auf über 100.000 wird die Zahl der Todesopfer unter den deutschen Zivilisten geschätzt, denen die Flucht nach Westen nicht gelang, oder die zu alt oder zu krank waren, um ihre Wohnungen zu verlassen.
Zehntausende von Flüchtlingen, die auf dem Landweg westwärts unterwegs waren, hielten sich Mitte Februar in und um Dresden auf. Dieser Sachverhalt war auch den Westalliierten bekannt, hinderte sie aber nicht daran, am 13./14. Februar das weltberühmte «Elbflorenz», das auch ein wichtiges Industriezentrum war, in ein flammendes Inferno zu verwandeln. Zwei nächtlichen Angriffswellen des britischen Bomber Command mit weit über 7000 Flugzeugen folgte in den Mittagsstunden des 14. Februar ein amerikanisches Bombardement. Zwischen 20.000 und 25.000 Menschen kamen dabei ums Leben.
Neben Hamburg, wo im Zuge der Operation «Gomorrha» im Juli 1943 35.000 Menschen starben, gehört Dresden zu den Städten, deren Zerstörung im Bombenkrieg sich dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen besonders eingeprägt hat. Das Flächenbombardement deutscher Städte war ein integraler, auf der Konferenz von Casablanca im Januar 1943 ausdrücklich beschlossener Bestandteil der alliierten Kriegführung. Die Luftangriffe galten nicht nur den Zentren der deutschen Industrie- und Rüstungsproduktion sowie den wichtigsten Verkehrsknotenpunkten und Hafenanlagen des Reiches, also strategischen Zielen, sondern zielten auch darauf ab, die Moral der Zivilbevölkerung zu brechen, und wurden deshalb von der Royal Air Force im Unterschied zum «strategic bombing» als «moral bombing» bezeichnet.
Dieser Zweck des Bombenkriegs wurde nicht erreicht. Statt die «Volksgenossen» zur Auflehnung gegen Hitler und sein Regime zu treiben, förderten die feindlichen Fliegerangriffe bei den Deutschen vielmehr das Gefühl, einer Schicksalsgemeinschaft anzugehören, die nur eines tun konnte: unter allen Umständen durchhalten. «Moralisch» war nichts am Bombenterror gegen wehrlose Frauen, Kinder und Greise. Die Flächenbombardements waren vielmehr ein Zeichen dafür, daß die Unmenschlichkeit des Aggressors auch den verändern kann, der sich ihm in den Weg stellt – bis hin zur praktischen Verleugnung der Menschlichkeit, in deren Namen der Verteidiger Krieg führt. Ebendiese Einsicht hatte einen englischen Kirchenführer, den Bischof von Chichester, George Bell, seit 1941 immer wieder zu Protesten gegen das sogenannte «moral bombing» veranlaßt. Diese und ähnliche Einsprüche blieben nicht folgenlos. Nach dem Luftangriff auf Dresden kam auch Churchill zu dem Schluß, daß eine Fortsetzung dieser Art von Flächenbombardement den übergeordneten Kriegszielen Großbritanniens mehr schadete als nützte und darum nicht länger zu rechtfertigen war.
Zur gleichen Zeit, in der die Rote Armee den Osten Deutschlands eroberte, standen noch immer deutsche Truppen in Norwegen, Dänemark, den nördlichen Niederlanden, im Kurland, im Protektorat Böhmen und Mähren, im nördlichen Kroatien, in Slowenien und in Norditalien. Am 9. April begann eine alliierte Großoffensive in der Emilia-Romagna, in deren Verlauf zehn Tage später Bologna befreit wurde. Am 27. April eroberten die Amerikaner Genua. Am gleichen Tag nahmen kommunistische Partisanen in der Nähe von Dorio am Comer See den als Wehrmachtssoldaten verkleideten Benito Mussolini auf der Flucht gefangen. Am 28. April wurde der «Duce» zusammen mit seiner Geliebten Clara Petacci erschossen und anschließend mit zwanzig weiteren Anhängern, darunter dem ehemaligen Parteisekretär Achille Starace, am Dach einer Tankstelle auf dem Piazzale Loreto in Mailand kopfabwärts aufgehängt. Die Repubblica di Salò, das letzte Stadium faschistischer Herrschaft in Italien, war definitiv an ihr Ende gelangt. Es begann eine Welle der blutigen antifaschistischen Säuberung, die ihren Höhepunkt im Frühsommer 1945 erreichte.
Einen Tag nach der Erschießung Mussolinis, am 29. April, wurde im alliierten Hauptquartier in Caserta in Anwesenheit sowjetischer Offiziere die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte in Italien unterzeichnet. Sie trat am 2. Mai um 14 Uhr in Kraft. Vorausgegangen waren Geheimgespräche, die SS-Obergruppenführer Karl Wolff, der deutsche Militärgouverneur in Norditalien, auf eigene Faust am 8. März mit Allen Welsh Dulles, dem Chef des amerikanischen Geheimdienstes, des Office of Strategic Services, in Zürich aufgenommen und am 19. März in Gegenwart von zwei hohen amerikanischen Generälen in Ascona fortgeführt hatte.
Für Stalin waren die Kontakte zwischen dem gemeinsamen Feind und den Westmächten ein Anlaß zu tiefem Mißtrauen. In einer telegraphischen Botschaft an Roosevelt vom 3. April äußerte der Diktator seinen Verdacht, die Briten und die Amerikaner seien darauf aus, mit deutscher Einwilligung widerstandslos in das Herz von Deutschland vorzustoßen, während die sowjetischen Armeen weiterhin mit deutschen Truppen kämpfen müßten – eine Unterstellung, die Roosevelt zwei Tage später scharf zurückwies. Eine solche Absicht gab es auf westlicher Seite in der Tat nicht. Der amerikanische Präsident und der britische Premierminister wußten sehr wohl, daß sie den nahen Sieg über Deutschland zum größten Teil den militärischen Anstrengungen der Sowjetunion verdankten. Sie betonten deshalb immer wieder demonstrativ, daß hinsichtlich der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches zwischen den drei Verbündeten volle Übereinstimmung bestehe.
Im Hinblick auf das Schicksal Ostmittel- und Südosteuropas aber konnte von einem Einvernehmen der Alliierten um diese Zeit schon nicht mehr die Rede sein. Am 6. März erzwang die Sowjetunion in Rumänien die Einsetzung einer Regierung, die formell ein Mehrparteienkabinett war, tatsächlich aber von den Kommunisten beherrscht wurde. Noch mehr beunruhigte Roosevelt und Churchill die Entwicklung in Polen. Die Sowjetunion betrieb dort mit Hilfe der Provisorischen Regierung die Einrichtung eines kommunistischen Satellitenregimes und hinderte Amerikaner und Briten daran, Vertreter in das von der Roten Armee «befreite» Land zu entsenden.
«Ein undurchsichtiger Vorhang hat sich über die Szene gesenkt», schrieb Churchill am 16. März 1945 an Roosevelt. Elf Tage später wies der britische Premier den amerikanischen Präsidenten darauf hin, «daß die Bestimmungen der Proklamation über das befreite Europa keine Anwendung auf Osteuropa finden und wir beide in diesen Gebieten nicht ein Jota Einfluß haben». Doch die Vereinbarungen von Jalta ließen genau das zu, was Churchill erst jetzt voll bewußt wurde: daß Polen und anderen Staaten in Ost- und Südosteuropa «die russische Version der Demokratie aufgezwungen» wurde.
In den folgenden Wochen steigerte sich Churchills Besorgnis hinsichtlich Polens. Im April bewog der Premier den früheren, Ende November 1944 zurückgetretenen Chef der polnischen Exilregierung, Stanislaw Mikolajczyk, zu einem Bekenntnis zur Freundschaft mit der Sowjetunion, der Anerkennung der modifizierten Curzon-Linie als Ostgrenze Polens und einen ausdrücklichen Verzicht auf Lemberg. Die Zurückdrängung der nichtkommunistischen Kräfte Polens ging gleichwohl unvermindert weiter. Ende März waren 16 führende Vertreter der nichtkommunistischen Untergrundbewegung, die die sowjetische Führung unter Zusicherung freien Geleits zu Gesprächen über die Bildung einer polnischen Einheitsregierung nach Moskau eingeladen hatte, verhaftet und in Untersuchungshaft genommen worden. Als Churchill am 29. April bei Stalin gegen dieses Vorgehen protestierte, erwiderte dieser, die Beschuldigten hätten hinter dem Rücken der Roten Armee aufrührerische Akte geplant und durchgeführt. In einem Schauprozeß, der am 18. Juni begann, wurden 13 der Angeklagten zu Gefängnisstrafen von vier Monaten bis zu zehn Jahren verurteilt und drei freigesprochen.
Am 4. Mai 1945 skizzierte der britische Premierminister in einer Aufzeichnung die Lage, auf die sich die Westmächte einstellen mußten. Erfolgte die Zoneneinteilung in Deutschland so, wie die Alliierten sie vereinbart hatten, würde «Polen ganz von russisch besetzten Ländern umschlossen und darin begraben. Wir würden dann praktisch eine russische Grenze bekommen, die vom Nordkap in Skandinavien, längs der schwedisch-finnischen Grenze, über die Ostsee zu einem Punkt knapp östlich von Lübeck, längs der gegenwärtig vereinbarten Zonengrenzen und der bayerisch-tschechischen Grenze nach Österreich, das nominell Vier-Mächte-Gebiet werden würde, und halbwegs durch dieses Land bis zum Isonzo verliefe, werden doch Tito und Rußland das Gebiet östlich dieses Flusses für sich beanspruchen. Demnach würde die russische Kontrolle die baltische Küste, ganz Deutschland bis zur vorgesehenen Zonengrenze, die gesamte Tschechoslowakei, einen großen Teil Österreichs, ganz Jugoslawien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien bis zur Grenze des ungefestigten Griechenland umfassen. Sämtliche großen Hauptstädte Mitteleuropas, Berlin, Wien, Budapest, Belgrad, Bukarest und Sofia fielen in diese Zone. Die Stellung der Türkei und Konstantinopels werden fraglos sofort zur Debatte kommen.»
Nach Churchills Überzeugung handelte es sich bei alledem um ein «Ereignis in der Geschichte Europas, für das es keine Parallele gibt und das die Westmächte am Ende ihres langen und wechselvollen Ringens unvorbereitet trifft». Schon die sowjetischen Reparationsforderungen an Deutschland würden so hoch sein, «daß Rußland die Besetzung beinahe unbeschränkt hinausziehen kann, auf alle Fälle so lange, bis Polen und viele andere Länder in der riesigen Zone des russisch kontrollierten Europas verschwunden sind und, wenn auch nicht notwendigerweise wirtschaftlich sowjetisiert, so doch jedenfalls unter Polizeiregime leben müssen».
Die Schlußfolgerungen lagen für den Premierminister klar zutage. «Wir haben einige bedeutende Pfänder in der Hand, die, richtig verwendet, zu einer friedlichen Regelung beitragen können. Erstens, bevor die Westmächte aus ihren gegenwärtigen Stellungen auf die vorgesehenen Zonengrenzen zurückfallen, müssen wir in bezug auf folgende Punkte bindende Zusicherungen haben: Polen, den temporären Charakter der russischen Besetzung Deutschlands, die in den russifizierten oder russisch kontrollierten Ländern des Donaubeckens einzuführende Ordnung mit besonderer Berücksichtigung Österreichs, der Tschechoslowakei und des Balkans. Zweitens könnten wir uns im Rahmen einer Generalbereinigung in bezug auf die Ausgänge aus dem Schwarzen Meer und der Ostsee entgegenkommend zeigen. Eine Lösung für alle diese Dinge ist aber nur zu finden, bevor die amerikanischen Armeen in Europa geschwächt werden. Sollten sie nach dem Abzug der amerikanischen Armee aus Europa und dem Abbau des Kriegsapparats der westlichen Welt noch ungelöst sein, dann sind die Aussichten für eine befriedigende Lösung und die Vermeidung eines dritten Weltkriegs nur sehr gering. Auf eine solche frühzeitige Kraftprobe und Generalbereinigung mit Rußland müssen wir jetzt unsere Hoffnungen setzen. Bis dahin bin ich dagegen, unsere Forderungen an Rußland betreffs Polen irgendwie abzuschwächen.»
Churchill brachte seine Sorgen und Forderungen in einem Augenblick zu Papier, in dem der neue Präsident der Vereinigten Staaten, Harry S. Truman, der Politik seines Landes noch nicht verbindlich die Richtung vorgab. Die tatsächliche Führung der USA schien, was die Beendigung des Krieges in Europa anging, eine Zeitlang beim Oberkommandierenden der amerikanischen und der westalliierten Truppen auf dem europäischen Kriegsschauplatz, General Dwight D. Eisenhower, zu liegen. Dieser zeigte, im Gegensatz zu Churchill, kein Interesse daran, die Truppen der Westalliierten so rasch wie möglich nach Berlin zu führen, um die Eroberung der Reichshauptstadt nicht oder jedenfalls nicht ganz der Roten Armee zu überlassen. Auch einen Vorstoß nach Prag hielt Eisenhower für weniger dringlich als der britische Premierminister. Vorrang hatte für den General die Besetzung Süddeutschlands bis hin zur tschechoslowakischen Grenze von 1937, wobei ihn die Befürchtung leitete, daß den Amerikanern noch massiver deutscher Widerstand in der angeblichen «Alpenfestung» drohte. Churchill versuchte zwar, Eisenhower zu einer Korrektur seiner Prioritäten zu bewegen, hatte damit aber, da Truman sich hinter den Oberkommandierenden stellte, keinen Erfolg. Das Gesamtinteresse der «westlichen Welt», von der Churchill in seiner Aufzeichnung vom 4. Mai sprach, hatte in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs nur einen klarsichtigen und beredten Fürsprecher: Winston Churchill.
Auch er trug freilich, obgleich er Stalin gegenüber nicht so gutgläubig gewesen war wie Roosevelt, eine Mitverantwortung für die Situation, die nun eingetreten war. Großbritannien und die USA hatten die Hauptlast der militärischen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Deutschland der Sowjetunion überlassen und die von Stalin geforderte Eröffnung einer «Zweiten Front» in Frankreich immer wieder hinausgeschoben. Dafür gab es jeweils einleuchtende militärische Gründe. Auf diese Weise hielten die beiden großen westlichen Demokratien aber auch die Verluste ihrer Armeen in Grenzen, und sie durften darauf hoffen, daß diese Haltung auch von den Wählerinnen und Wählern honoriert werden würde. Dazu kam das imperiale Interesse Großbritanniens am Mittelmeerraum und dem Erhalt des Commonwealth. Es hatte einen erheblichen Anteil daran, daß die Westmächte der Invasion in Nordafrika einen zeitlichen Vorrang vor einer Invasion auf dem europäischen Kontinent einräumten.
Der Preis dieser Politik bestand darin, daß die westlichen Demokratien der Sowjetunion einen großen Teil Deutschlands überlassen und faktisch ganz Ostmittel- und Südosteuropa ausliefern mußten. Was Roosevelt und Churchill Stalin in Teheran und Jalta zugestanden hatten, ließ sich nicht mehr rückgängig machen. Im übrigen bedeutete das Ende des Krieges in Europa noch nicht das Ende des Zweiten Weltkrieges. Für die Niederzwingung Japans vermeinte man in Washington wie in London noch der sowjetischen Hilfe zu bedürfen. An eine große Konfrontation mit Stalin war unter solchen Umständen im Frühjahr 1945 nicht zu denken.
Während der Ton von Churchills Warnungen vor der Gefahr aus dem Osten immer dringlicher wurde, ging der Vormarsch der Roten Armee, begleitet von Hunderttausenden von Vergewaltigungen und Plünderungen und zahllosen Morden an Zivilisten, weiter. Am 30. März wurde Danzig erobert, am 9. April Königsberg. Seit dem gleichen Tag war auch ganz Ungarn in sowjetischer Hand. Am 13. April zog die Rote Armee in Wien ein. Drei Tage später begann an der mittleren Oder und der Lausitzer Neiße der sowjetische Großangriff auf Berlin.
Vom Westen her rückten um dieselbe Zeit Briten und Amerikaner in Deutschland vor. Am 18. April nahmen Truppen der USA Magdeburg, tags darauf Leipzig ein. Am 26. April fiel Bremen in die Hände der Briten. Am 30. April besetzte die siebte US-Armee München, die einstige «Hauptstadt der Bewegung». Doch die westlichen Alliierten eroberten im April 1945 nicht nur deutsche Städte, sie befreiten auch deutsche Konzentrationslager: am 11. April Buchenwald, am 15. April Bergen-Belsen, am 29. April Dachau. Die Bilder und Filmaufnahmen von fast verhungerten Häftlingen und riesigen Leichenbergen gingen um die Welt und prägten sich tief in das Gedächtnis der entsetzten Zeitgenossen ein.
An einen «Endsieg» glaubte in den letzten Wochen des «Dritten Reiches» nur noch eine winzige Minderheit fanatischer Nationalsozialisten. «Das Volk hat die Nerven vollständig verloren und ist furchtbar aufgeregt und verängstigt», heißt es in einem Stimmungsbericht aus dem bayerischen Bad Aibling vom März 1945. Aus Berchtesgaden meldete der SD am 7. März, es sei «der breiten Masse ganz einerlei, wie das künftige Europa aussieht. Aus allen Gesprächen ist zu entnehmen, daß sich die Volksgenossen aller Schattierungen so bald als möglich den Lebensstandard der Vorkriegszeit herbeiwünschen und gar keinen Wert darauf legen, in die Geschichte einzugehen.» Ein Einwohner derselben Stadt wurde mit der Bemerkung zitiert: «Hätte man 1933 geahnt, daß sich die Ereignisse so zuspitzen würden, wäre Hitler nie gewählt worden.» Einem anderen Bericht zufolge wurde um diese Zeit auch die Meinung geäußert: «Der Führer wurde uns von Gott gesandt, aber nicht um Deutschland zu retten, sondern um Deutschland zu verderben. Die Vorsehung hat beschlossen, das deutsche Volk zu vernichten, und Hitler ist der Vollstrecker dieses Willens.»
Hitler war entschlossen, Deutschland und das deutsche Volk mit in den Abgrund zu reißen, falls der Krieg mit einer Niederlage des Reiches enden sollte. Am 19. März erließ er einen Befehl, überall, wo ein Gebiet dem Feind preisgegeben werden mußte, sämtliche militärischen, Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte zu zerstören. (Erst fünf Wochen später erfuhr er von Rüstungsminister Speer, daß dieser den Befehl nicht nur nicht ausgeführt, sondern die Ausführung verhindert hatte.) Die große Hoffnung des «Führers» war bis in den April hinein das Zerbrechen der Allianz zwischen den westlichen Demokratien und dem bolschewistischen Rußland. Als er die Nachricht vom Tod Roosevelts erhielt, wähnte er, von Goebbels in dieser Einschätzung bestärkt, daß nun der Bruch des feindlichen Bündnisses unmittelbar bevorstehe. Als diese Erwartung sich nicht erfüllte, äußerte er die Zuversicht, daß die Entscheidungsschlacht erst in Berlin geschlagen – und von ihm gewonnen werden würde.
Am 20. April, dem 56. Geburtstag Hitlers, erreichten sowjetische Panzer die Außenbezirke der Reichshauptstadt und nahmen Berlin unter Beschuß. Die meisten Würdenträger des «Dritten Reiches» sahen Hitler an diesem Tag zum letzten Mal. Kurz nach der Gratulationscour im Führerbunker verließen Göring, Himmler und die meisten Reichsminister, darunter Speer (dieser freilich noch nicht endgültig), Berlin. Zwei Tage später gab Goebbels bekannt, daß sich Hitler entschlossen habe, in Berlin zu bleiben.
Manche Vasallen des «Führers» interpretierten diese Entscheidung als Akt der Resignation, ja des faktischen Amtsverzichts. Göring, seit 1941 der prädestinierte Nachfolger Hitlers, teilte am 23. April vom Obersalzberg bei Berchtesgaden telegraphisch mit, daß er, falls er bis 22 Uhr nichts anderes aus Berlin höre, an die Spitze des Reiches treten werde. Im Führerbunker hatte man keinen Zweifel daran, was Görings Absicht war: Er wollte in Kapitulationsverhandlungen mit den Westmächten eintreten. Hitler erzwang den Rücktritt Görings von allen s einen Ämtern und ordnete Hausarrest für den bisherigen «Reichsmarschall» an.
Weit schärfer fiel die Reaktion Hitlers aus, als am 28. April bekannt wurde, daß Himmler sich fünf Tage vorher in Lübeck mit dem Vizepräsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes, Folke Graf Bernadotte, getroffen und über diesen den Westalliierten die Kapitulation des Reiches angeboten habe. Hitler sprach vom «schamlosesten Verrat in der deutschen Geschichte» und befahl, wenn auch vergeblich, die sofortige Verhaftung und, wenn möglich, die Liquidation Himmlers.
Um dieselbe Zeit kämpften sich sowjetische Truppen bis zum Potsdamer Platz, in die unmittelbare Nähe der Reichskanzlei und des Führerbunkers, durch. Die Verteidiger von Berlin, neben regulären Soldaten auch Hitler-Jungen und ältere Männer des «Volkssturms», hatten nicht die geringste Chance mehr gegen die Rote Armee. Diese verlor bei der «Schlacht um Berlin», die sich jetzt dem Ende zuneigte, nochmals 100.000 Mann – und damit fast so viele Soldaten wie die Amerikaner auf dem gesamten europäischen Kriegsschauplatz.
In der Nacht vom 28. zum 29. April 1945 fiel Hitlers Entscheidung, aus der Niederlage die Konsequenz zu ziehen, die er für diesen Fall immer wieder angekündigt hatte und auf die seine Politik letztlich, wenn auch ihm selber unbewußt, angelegt war: den Selbstmord. In den frühen Morgenstunden des 29. April diktierte er sein politisches Testament, in dem er die Schuld am Krieg dem internationalen Judentum gab und «die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassengesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum» verpflichtete. Zum neuen Staatschef und Oberkommandierenden der Streitkräfte ernannte Hitler Großadmiral Karl Dönitz, den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, der sein Quartier im holsteinischen Plön aufgeschlagen hatte. Neuer Reichskanzler wurde Goebbels.
Am 30. April gegen 16 Uhr tötete sich Hitler durch einen Schuß in die Schläfe. Mit ihm starb, durch Einnahme von Gift, seine langjährige Lebensgefährtin Eva Braun, die er tags zuvor geheiratet hatte. Der Rundfunk verbreitete am späten Abend des 1. Mai um 22 Uhr 26 die Nachricht, «daß unser Führer Adolf Hitler heute nachmittag in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen ist». Hitlers Nachfolger als Reichskanzler lebte um diese Zeit schon nicht mehr: Goebbels hatte einige Stunden zuvor seine vier Kinder durch Blausäure töten lassen und dann zusammen mit seiner Frau Selbstmord begangen. Die Leichen von Joseph und Magda Goebbels wurden wie tags zuvor die von Adolf und Eva Hitler im Garten der Reichskanzlei weisungsgemäß mit Benzin übergossen und verbrannt. Dort fanden sie am 2. Mai, nachdem die Verteidiger von Berlin vor der Roten Armee kapituliert hatten, die ersten Sowjetsoldaten, die in das einstige Machtzentrum des Deutschen Reiches gelangten.
Trauer löste die Meldung vom Tod Hitlers nur bei wenigen aus. Die meisten Deutschen nahmen sie mit einer Mischung aus Apathie und Erleichterung auf. Wo immer die alliierten Truppen näherrückten, versuchten die einstigen «Volksgenossen», Symbole des «Dritten Reiches» wie Führerbilder, Hakenkreuzfahnen, nationalsozialistische Uniformen und Parteiabzeichen so rasch wie möglich verschwinden zu lassen.
Der Glaube an das Charisma des «Führers» hatte es Hitler mehr als alles andere ermöglicht, sich zwölf Jahre lang an der Macht zu behaupten. Die späte Einsicht, daß seine Herrschaft zur Katastrophe für Deutschland geworden war, brach schließlich den Bann, in den er die Mehrheit der Deutschen geschlagen hatte. Dieser Bann war die Voraussetzung der weltgeschichtlichen Rolle gewesen, die Hitler seit 1933 spielte. Kein anderer Mensch hat den Gang der Geschichte im 20. Jahrhundert in einem solchen Maß beeinflußt wie er. Kaum ein großes Ereignis der Zeit nach 1945 steht nicht in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit seiner Herrschaft.
Hitler ist in die Geschichte eingegangen als der große Zerstörer von Traditionen und Werten, die vordem in der westlichen Welt, einschließlich Deutschlands, als selbstverständlich gegolten hatten. Soweit antikoloniale Befreiungsbewegungen durch den von ihm entfesselten Weltkrieg Auftrieb erhielten, war das ein Kollateralnutzen seines Wirkens. Was die Nachwelt von ihm in Erinnerung behielt, waren vor allem die Millionen von Menschen, die durch seine Obsessionen ihr Leben verloren, obenan die Juden, die er mehr als alle anderen haßte. Als sein Reich zusammenbrach, waren die meisten Deutschen wie benommen: Daß ihre frühere Begeisterung für den «Führer» die Verbrechen erst ermöglicht hatte, mit denen sie nun von den Siegern konfrontiert wurden, wollten 1945 nur wenige einsehen.
Die Reichsregierung, die Hitlers Nachfolger Karl Dönitz am 2. Mai bildete, verlegte ihren Sitz nach Flensburg. Ihr wichtigstes Ziel war es, möglichst viele deutsche Truppen, um ihnen die sowjetische Kriegsgefangenschaft zu ersparen, vor den Westmächten kapitulieren zu lassen. Der ersten regionalen Kapitulation in Italien, die am 2. Mai in Kraft trat und von Dönitz nachträglich gebilligt wurde, folgten noch am Abend desselben Tages eine zweite im mecklenburgischen Schloß Ludwigslust und am 3. Mai eine weitere in Stendal westliche der Elbe – beide gegenüber den Amerikanern.
Am 4. Mai unterzeichnete Admiral von Friedeburg in Dönitz’ Auftrag im Hauptquartier des britischen Oberbefehlshabers Feldmarschall Montgomery in der Lüneburger Heide eine regionale Teilkapitulation aller deutschen Truppen in den Niederlanden, in Nordwestdeutschland und Dänemark und erreichte dafür die mündliche Zusage Montgomerys, deutschen Soldaten, die noch gegen die Rote Armee kämpften, den Übertritt in britische Kriegsgefangenschaft zu ermöglichen. Etwa 1,85 Millionen deutsche Soldaten, viele von ihnen mehr oder weniger individuell und unorganisiert, konnten in der ersten Maiwoche der sowjetischen Kriegsgefangenschaft entgehen, indem sie sich Briten und Amerikanern ergaben. Zwischen dem 2. und 8. Mai erreichten auch Hunderttausende von Flüchtlingen den Teil Deutschlands, in dem sie vor Drangsalierungen und Vergewaltigungen durch Angehörige der Roten Armee sicher waren.
Zur gleichen Zeit wurde vielerorts, unter anderem im nördlichen Jugoslawien und im Protektorat Böhmen und Mähren, noch gekämpft. Am 5. Mai erhob sich in Prag die tschechische Widerstandsbewegung. Ihr Aufstand wurde von SS-Verbänden und, in der Anfangsphase, von einer Division der Wlassow-Armee bekämpft, die kurz darauf zu den Tschechen überlief. Die amerikanischen Truppen unter General Patton, die inzwischen den westlichen Teil der Tschechoslowakei bis hin zu der (mit der Sowjetunion vereinbarten) Demarkationslinie Karlsbad-Pilsen-Budweis besetzt hatten, griffen nicht in die Kämpfe ein. Erst am 9. Mai rückte die Rote Armee in Prag ein und zog damit einen Schlußstrich unter die deutsche Herrschaft im Protektorat Böhmen und Mähren.
Vier Tage zuvor hatte Generalfeldmarschall Kesselring in München die Kapitulation der deutschen Truppen in Süddeutschland und im Westen Österreichs vollzogen. Am gleichen Tag, dem 5. Mai, traf Dönitz’ Abgesandter, Admiral von Friedeburg, in Eisenhowers Hauptquartier in Reims ein. Sein Versuch, Zeit zu gewinnen, um den in Jugoslawien und Böhmen kämpfenden Truppen den Weg in die amerikanische Kriegsgefangenschaft zu öffnen, schlug fehl. Der Oberkommandierende der westlichen alliierten Truppen bestand auf der bedingungslosen Kapitulation an allen Fronten, die in der Nacht vom 8. zum 9. Mai in Kraft treten sollte. Dönitz mußte sich fügen. Mit seiner Zustimmung und in seinem Auftrag unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl, der Chef des Wehrmachtsführungsstabes, in den frühen Morgenstunden des 7. Mai in Reims die Kapitulationsurkunde.
Auf Stalins Drängen hin wurde der Kapitulationsakt am 9. Mai, kurz nach Mitternacht, im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst wiederholt, wobei diesmal deutscherseits Vertreter aller drei Waffengattungen, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, für das Heer, Großadmiral Hans Georg von Friedeburg für die Kriegsmarine und Generaloberst Hans-Jürgen Stumpff für die Luftwaffe, unterzeichneten. Der Waffenstillstand war kurz zuvor, um 0.01 Uhr, in Kraft getreten. In Europa war damit der Zweite Weltkrieg beendet.
Die Reichsregierung unter Großadmiral Dönitz in Flensburg überdauerte die Kapitulation noch um zwei Wochen. Am 23. Mai ließ General Eisenhower auf sowjetisches und französisches Drängen ihr von den Briten toleriertes Schattendasein durch die Verhaftung sämtlicher Mitglieder der Regierung beenden. Das Deutsche Reich von 1871 hörte damit endgültig zu bestehen auf.
Am selben Tag nahm sich der oberste Exekutor des Judenmordes, Heinrich Himmler, der unter falschem Namen untergetaucht und am 21. Mai von britischem Militär festgenommen worden war, durch Verschlucken einer im Mund verborgenen Giftkapsel das Leben. Der höchste der Paladine Hitlers, die zu dieser Zeit noch lebten, war Hermann Göring. Er war am 9. Mai von Angehörigen der amerikanischen Streitkräfte bei Berchtesgaden verhaftet worden. Auch ihm sollte es noch gelingen, sich seiner Verantwortung zu entziehen. Er war zwar einer der zwölf Angeklagten im Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, die vom Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg am 30. September und 1. Oktober 1946 zum Tod durch den Strang verurteilt wurden. Am Abend des 15. Oktober aber, dem Tag vor der geplanten Hinrichtung, tat Göring dasselbe wie Himmler: Er beging durch Einnahme von Gift Selbstmord.[25]
Die Teilung Europas (II): Umwälzungen und Vertreibungen
Am 13. Mai wandte sich Winston Churchill in einer Rundfunkansprache an seine Landsleute, um den Sieg der Alliierten in Europa zu würdigen und den Soldaten Großbritanniens, des Commonwealth und der amerikanischen Verbündeten dafür zu danken, daß sie die Militärmacht Hitlers und Mussolinis bezwungen hatten. Gegen Ende der Rede erinnerte er aber nicht nur daran, daß Japan noch nicht niedergeworfen war, sondern auch an Gefahren, die den Idealen der westlichen Verbündeten in Europa drohten: «Noch müssen wir dafür sorgen, daß drüben auf dem Kontinent die einfachen und ehrenhaften Ziele, für die wir in den Krieg gezogen sind, in den auf unseren Sieg folgenden Monaten nicht vergessen oder einfach beiseite gewischt werden und daß Worte wie ‹Freiheit› und ‹Befreiung› nicht ihrer wahren Bedeutung, so wie wir sie immer verstanden haben, entkleidet werden. Es hätte wenig Sinn, Hitlers Kumpane für ihre Verbrechen zu bestrafen, sofern nicht Recht und Gerechtigkeit herrschten und wenn an die Stelle der deutschen Eroberer totalitäre Polizeiregime träten.»
In einem Telegramm an Präsident Truman war Churchill tags zuvor noch deutlicher geworden. Er sprach darin erstmals von dem «eisernen Vorhang», der vor der sowjetischen Front niedergegangen sei. «Es ist kaum zu bezweifeln, daß der gesamte Raum östlich der Linie Lübeck-Triest-Korfu schon binnen kurzem völlig in ihrer Hand sein wird. Zu all dem kommen noch die weiten Gebiete, die die amerikanischen Truppen zwischen Eisenach und der Elbe erobert haben, die aber, wie ich annehmen muß, nach der Räumung durch Ihre Truppen in ein paar Wochen gleichfalls der russischen Machtsphäre einverleibt sein werden … Die Aufmerksamkeit unserer Völker aber wird sich mit der Bestrafung Deutschlands, das ohnehin ruiniert und ohnmächtig darniederliegt, beschäftigen, so daß die Russen, falls es ihnen beliebt, innerhalb sehr kurzer Zeit bis an die Küsten der Nordsee und des Atlantik vormarschieren können.» Es sei daher unbedingt lebenswichtig, «zu einer Verständigung mit Rußland zu kommen, beziehungsweise zu sehen, wo wir mit Rußland stehen, und das sofort, ehe wir unsere Armeen bis zur Ohnmacht schwächen und uns auf unsere Besatzungszonen zurückziehen.»
Der britische Premierminister wußte, wovon er sprach: Er beschrieb einen Prozeß, den seine und Roosevelts Zugeständnisse an Stalin im Hinblick auf Südost- und Ostmitteleuropa mit ermöglicht hatten. In Bulgarien war schon am 9. September 1944 durch einen Putsch der neugeschaffenen Vaterländischen Front eine prosowjetische Regierung unter dem früheren Ministerpräsidenten Kimon Georgiew gebildet worden, in der die Kommunisten Schlüsselressorts wie die des Innern und der Justiz innehatten. Im Winter 1944/45 begann eine rigorose Verfolgung früherer Regierungsmitglieder. Nach einem Hochverratsprozeß gegen 162 Angeklagte wurden Anfang Februar 1945 96 Todesurteile verhängt. Die Verurteilten, darunter alle Mitglieder des im September 1944 eingesetzten neuen Regierungsrates, der für den im August 1943 im Alter von sechs Jahren auf den Thron gelangten Sohn von Zar Boris III., Simeon II., die Funktionen des Staatsoberhaupts wahrnahm, wurden unmittelbar darauf erschossen. In Rumänien hatte die am 6. März eingesetzte sowjetfreundliche Regierung unter Ministerpräsident Petru Groza unter dem maßgeblichen Einfluß der Kommunisten damit begonnen, den Einfluß der nichtkommunistischen Kräfte mit König Michael an der Spitze zurückzudrängen. Die Posten des Innen- und des Justizministers waren auch in Bukarest mit Kommunisten besetzt worden.
Vorsichtiger verfuhr die Sowjetunion in Ungarn. Hier hatten aus dem Moskauer Exil zurückgekehrte Kommunisten in dem von der Roten Armee eroberten Szeged im Dezember 1944 eine Nationale Unabhängigkeitsfront ins Leben gerufen. Durch Akklamation gewählte Abgeordnete bildeten am 21. Dezember 1944 in Debrecen eine Provisorische Nationalversammlung, die tags darauf den zur Roten Armee übergelaufenen Generaloberst Béla Miklós von Dálnoki zum Ministerpräsidenten wählte. Die Kommunisten besetzten in seiner Regierung vier Ministerien, darunter das des Innern, und sicherten sich dadurch die Verfügung über die Polizei. Unter sowjetischer Ägide entstanden in allen Ortschaften Nationale Komitees, die gesetzesvertretende Verordnungen erließen, Gerichtsentscheidungen annullierten und Verhaftungen anordneten. Im März 1945 erzwang die Kommunistische Partei eine Agrarreform, die nicht nur den Großgrundbesitz, sondern auch mittlere Güter beseitigte und ein kaum rentables Kleinstbauerntum schuf, von dem die Kommunisten hofften, daß es sich später freiwillig in den Schutz einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, also einer kollektiv organisierten Landwirtschaft, begeben würde.
In der wiederentstehenden Tschechoslowakei profitierte die Sowjetregierung davon, daß sich die Exilregierung unter Edvard Beneš seit 1943 Moskau angenähert und im Dezember jenes Jahres mit der Sowjetunion einen Freundschafts- und Beistandsvertrag geschlossen hatte. Obwohl die Sowjetunion sich im Dezember 1944 die Karpato-Ukraine, einen Teil der früheren Tschechoslowakei, einverleibte, setzte Beneš diesen Kurs unbeirrt fort. Ende Januar 1945 brach seine Regierung die Beziehungen zur polnischen Exilregierung in London ab und erkannte statt ihrer das prosowjetische Lubliner Komitee als provisorische Regierung Polens an. Kein anderes Land war Stalin bis zu diesem Zeitpunkt in Sachen Polen derart weit entgegengekommen.
Im März 1945 verständigten sich die tschechoslowakischen Exilgruppen unter maßgeblicher Beteiligung der Kommunisten in Moskau auf ein gemeinsames Programm – die Grundlage der am 5. April im slowakischen Kaschau (Košice) gebildeten Regierung der Nationalen Front der Tschechen und Slowaken unter dem Sozialdemokraten Zdenek Fierlinger, in der der kommunistische Parteiführer Klement Gottwald einer der stellvertretenden Ministerpräsidenten und der mit den Kommunisten sympathisierende General Ludvík Svoboda Innenminister wurde. Das Amt des Staatspräsidenten übernahm wieder Beneš. Die Vereinbarungen sahen die Nationalisierung von Schwerindustrie, Bergbau und Banken und eine durchgreifende Bodenreform vor. Der Slowakei wurde weitgehende Autonomie zugesagt. Den Deutschen und Ungarn, soweit sie nicht aktiv gegen die separatistischen Kräfte gekämpft hatten, entzog die Übereinkunft der Nationalen Front die Staatsbürgerschaft. Das Münchner Abkommen vom September 1938, das die Tschechoslowakei zur Abtretung des Sudetenlandes an Deutschland gezwungen hatte, war auf Drängen Beneš’ bereits im Juli 1942 vom britischen Kriegskabinett annulliert worden. Gleichzeitig hatte die Londoner Regierung ihr Einverständnis mit einer Umsiedlung der deutschen Minderheit erklärt.
Die «Beneš-Dekrete», von der Provisorischen Nationalversammlung am 18. März 1946 nachträglich gebilligte Präsidialerlasse aus der Zeit von Mai bis Oktober 1945, schufen die quasigesetzliche Grundlage für die nachträgliche Aberkennung der Staatsbürgerschaft der meisten Deutschen und Magyaren, ihre entschädigungslose Enteignung, den Einzug ihrer Sparguthaben, ihre Arbeitspflicht zwecks Entfernung von Kriegsschäden und die Bestrafung der nationalsozialistischen Verbrecher, von Verrätern und Helfershelfern. In der Phase der «wilden» Vertreibungen bis zur praktischen Umsetzung der entsprechenden Beschlüsse der Potsdamer Dreimächtekonferenz ab Ende Januar 1946 wurden etwa 800.000 Deutsche vertrieben. Dabei kam es zu furchtbaren Gewalttaten von aus dem Exil zurückgekehrten Truppenverbänden, von Revolutionsgarden, mancherorts aber auch von Zivilisten. Massaker fanden zwischen Mai und Juli 1945 in Landskron (Landskroun), Postelberg (Postoloprty), Saaz (Zatec) und Aussig (Ústí nad Labem) statt. Hunderte von Menschen kamen bei der Deportation der Deutschen aus Brünn zur österreichischen Grenze ums Leben, die meisten von ihnen infolge von Krankheiten und fehlender Versorgung mit dem Nötigsten. Ungezählt blieben die Selbstmorde von Sudetendeutschen in Arbeits- und Internierungslagern, in denen sie sich bis zur «regulären» Ausweisung aufhalten mußten.
Vorsichtige Schätzungen der Zahl der Deutschen, die bei den «wilden» Vertreibungen aus der Tschechoslowakei zu Tode kamen, belaufen sich auf 13.000 bis 30.000. Ein von der Provisorischen Nationalversammlung verabschiedetes Gesetz vom 8. Mai 1946 verfügte nachträglich die Straffreiheit derer, die im Zuge der «odsun» (Abschiebung) gegen geltende Gesetze verstoßen hatten. Mit den Magyaren verfuhr die ČSR milder als mit den Deutschen, was vor allem am Widerstand der Budapester Regierung gegen Abschiebungen lag. Auf Grund eines Umsiedlungsvertrages vom Februar 1946 wurden 68.000 ethnische Ungarn aus dem slowakischen Landesteil gegen 77.000 in Ungarn lebende Slowaken ausgetauscht. Die Mehrheit der über 500.000 Magyaren verblieb im Lande. Von den über 2,8 Millionen Sudetendeutschen lebten 1950 noch etwa 200.000 in der Tschechoslowakei.
Nach dem, was die Deutschen den Tschechen im Protektorat Böhmen und Mähren angetan hatten, dürften 1945 nur noch sehr wenige Tschechen ein friedliches Zusammenleben mit den Deutschen auf dem Boden des wiedererstandenen tschechoslowakischen Staates für möglich gehalten oder gar gewünscht haben. Dazu kam, daß die große Mehrheit der Sudetendeutschen durch die Unterstützung der Partei Henleins sich gegen die Tschechoslowakei gestellt und 1938/39 ihrer Zerschlagung zugestimmt hatte. Die Rückendeckung durch die Alliierten gab der Idee der «odsun» eine internationale Legitimation, auch wenn diese mit den Prinzipien der Atlantik-Charta und der Charta der Vereinten Nationen nicht zu vereinbaren war. Die Gewaltexzesse, die die «wilden» Vertreibungen begleiteten, machten aber einmal mehr deutlich, daß die Enthumanisierung von Politik und Kriegführung unter Hitler eine unheilvolle Dynamik in Gang gesetzt hatte: Im Kampf gegen die nationalsozialistische Aggression wandten auch demokratische Gegner Hitlers Mittel an, die zutiefst inhuman waren.
In Polen übten die Kommunisten bei Kriegsende bereits sehr viel mehr Macht aus als in der Tschechoslowakei. Am 19. Januar 1945 hatte General Leopold Okulicki, obwohl er sich keinen Illusionen darüber hingab, daß die deutsche Fremdherrschaft nun von einer sowjetischen abgelöst werden würde, die von ihm befehligte Heimatarmee, die Armia Krajowa, aufgelöst und die Soldaten von ihrem Eid entbunden. Befolgt wurde Okulickis letzter Befehl – der Aufruf, unter schwierigsten Umständen mit dem Wiederaufbau des Landes zu beginnen – von den meisten Angehörigen der Heimatarmee, aber längst nicht von allen. Über 10.000 gingen in den Untergrund, um dort Widerstand gegen die Sowjetisierung Polens zu leisten.
Am 1. Februar verlegte die kommunistisch dominierte Provisorische Regierung unter dem Sozialisten Edward Osóbka-Morawski ihren Sitz von Lublin nach Warschau. Trotz zahlloser Verhaftungen und Deportationen von Gegnern der Kommunisten erklärte sich der frühere, im November 1944 zurückgetretene Chef der Londoner Exilregierung, Stanislaw Mikolajczyk, auf Drängen Churchills im Juni bereit, in Moskau mit den polnischen Kommunisten Boleslaw Bierut und Wladislaw Gomulka über die Bildung einer polnischen Einheitsregierung zu verhandeln. Da die Westmächte die Regierung Osóbka- Morawski und die Sowjetunion die Londoner Exilregierung unter Tomasz Arciszewski nicht anerkannten, konnte Polen nicht an der ersten Konferenz der Vereinten Nationen in San Francisco teilnehmen und auch nicht am 26. Juni die Charta der UNO unter zeichnen. Am 28. Juni kam schließlich das «Erweiterte Kabinett der nationalen Einheit» zustande, in dem Mikolajczyk, der ehemalige Generalsekretär der Bauernpartei, den Posten eines stellvertretenden Ministerpräsidenten sowie das Landwirtschaftsministerium und der Sozialist Jan Stanczyk das Arbeits- und Wohlfahrtsministerium übernahmen. Das wichtige Ministerium für Öffentliche Sicherheit blieb in den Händen des Kommunisten Stanislaw Radkiewicz. Der eher symbolischen Umbildung des Kabinetts folgten zwischen dem 29. Juni und dem 5. Juli die Anerkennungen der «Provisorischen Regierung der nationalen Einheit» durch Frankreich, Großbritannien und die USA. Am 15. Oktober unterzeichnete Polen die Charta der Vereinten Nationen und wurde damit in den Kreis ihrer Gründungsmitglieder aufgenommen.
Die maßgebende unter den Parteien, die kommunistische Polnische Arbeiterpartei, zählte zu dieser Zeit etwa 190.000 Mitglieder; den von ihr abhängigen Parteien, den Sozialisten und der neuen Bauernpartei, gehörten 124.000 beziehungsweise 150.000 Mitglieder an. Die früheren Rechtsparteien, die Nationaldemokraten und die Parteien der Sanacja, die Anhänger Piłsudskis, galten als «faschistisch» und waren vom politischen Leben ausgeschlossen. Die Vormachtstellung der Kommunisten beruhte darauf, daß sie binnen kurzem alle Schlüsselstellungen besetzt hatten und ihr Protektor, die Sowjetunion, auch nach dem Abzug der Roten Armee im Sommer 1945 über zahlreiche Militärbasen im Lande verfügte. Außerdem unterhielt das sowjetische Innenministerium, das NKWD, schlagkräftige Spezialtruppen in Polen, die der Regierung bei der Bekämpfung des antikommunistischen Untergrundes halfen.
Das Gesicht Polens änderte sich durch den Ausgang des Krieges radikal. Etwa 6 Millionen polnische Staatsbürger hatten infolge des Krieges ihr Leben verloren; davon waren 80 bis 90 Prozent Juden und etwa 12 Prozent ethnische Polen. Die materiellen Verluste werden auf 49 Milliarden Dollar (im Wert von 1939) geschätzt. Im Osten büßte Polen 47 Prozent seines Vorkriegsterritoriums und 23 Prozent der Bevölkerung von 1939 ein. Wilna und Lemberg, die eine große Rolle in der polnischen Geschichte gespielt hatten, lagen nun auf dem Gebiet der Sowjetunion. Danzig und Breslau, zwei deutsch geprägte Städte, gehörten fortan zu Polen.
Der Historiker Wlodzimierz Borodziej spricht im Hinblick auf die Jahre 1944 bis 1947 von der «größten Völkerwanderung», die Polen je erlebt habe. «Die neue Grenzziehung im Osten beließ die große Mehrheit der Belorussen und Ukrainer in der Sowjetunion. Seit Herbst 1944 begann entlang der neuen Ostgrenze ein Bevölkerungsaustausch, der die nationale Identität mit der staatlichen zur Deckung bringen sollte. Teils unter Zwang wurden knapp eine halbe Million Ukrainer und 36.000 Belarussen in die Sowjetunion ausgesiedelt. Aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten, aus Lagern und Ansiedlungsorten kamen über die Ostgrenze nach offiziellen Angaben mindestens 1,1 Millionen Menschen, darunter 250.000 Juden. Während die Deportierten von 1940/41 freiwillig Richtung Westen fuhren, gaben die ‹Evakuierten› aus den ehemaligen Ostgebieten die eigene Heimat aus Furcht vor dem neuen Besatzungsregime auf. Die große Mehrzahl der Ostpolen und Juden siedelte sich in den neuen West- und Nordgebieten an.»
Die etwa 4 bis 5 Millionen deutschen Staatsbürger, die im Mai 1945 noch östlich der künftigen polnischen Westgrenze lebten, wurden zum größten Teil bereits vor der Grenzfestlegung auf der Potsdamer Konferenz vom Juli und August 1945 vertrieben – oftmals, wenn auch nicht so häufig wie in der Tschechoslowakei, unter Anwendung von brutaler Gewalt. Die Verhältnisse in den Arbeits- und Internierungslagern, darunter ehemaligen Konzentrationslagern, in denen Deutsche auf die Ausreise warten mußten, waren so furchtbar, daß die Todesrate bei den Gefangenen nach einer späteren polnischen Schätzung zwischen 20 und 50 Prozent lag. Im Lande bleiben durften deutsche Staatsbürger, die man für das Polentum zurückzugewinnen oder zu ihm zu bekehren hoffte. Das galt vor allem für Oberschlesier, Kaschuben und Masuren.
Das neue Polen war ethnisch sehr viel homogener als das alte und darum in sehr viel höherem Maß als dieses ein Nationalstaat. Es war auch, wie Borodziej feststellt, ungleich «proletarischer» als das Polen von 1939. Es hatte durch den Krieg und die deutsche und die sowjetische Besatzungspolitik 57 Prozent seiner Rechtsanwälte, 39 Prozent der Ärzte, 27 Prozent der katholischen Geistlichen und 29 Prozent der Hochschullehrer verloren. Ein großer Teil der emigrierten Eliten kehrte nicht mehr aus dem Exil zurück, darunter Intellektuelle, Künstler, Politiker, Beamten und Offiziere. Das kommunistisch geführte Polen, wie es aus dem Krieg hervorging, war nicht das Land, für das sie, ob mit Waffen oder Worten, seit 1939 gekämpft hatten.
Die Besetzung durch die Rote Armee war nicht die einzige Möglichkeit, eine kommunistische Partei an die Macht zu bringen oder ihr zumindest einen entscheidenden Anteil an der Macht zu verschaffen. In Jugoslawien waren nicht sowjetische Truppen, sondern die Partisanen Josip Broz Titos die eigentlichen Befreier von der deutschen Fremdherrschaft, und sie waren dies nicht zuletzt infolge der massiven Unterstützung durch die Westmächte. In keinem anderen europäischen Land war der Zweite Weltkrieg im gleichen Maß auch ein Bürgerkrieg gewesen wie hier. Dieser Bürgerkrieg war, als das Deutsche Reich am 8./9. Mai 1945 kapitulierte, noch nicht zu Ende. Die kommunistischen Partisanen holten in den folgenden Wochen zu den letzten vernichtenden Schlägen gegen ihre innerjugoslawischen Gegner aus: gegen die Anhänger des im Herbst 1944 beseitigten serbischen Satellitenregimes von Milan Nedic und alle Kollaborateure, gegen die großserbischen Tschetniks unter Draza Mihajlovic und die faschistischen Ustaschi in Kroatien unter Ante Pavelić.
Am 9. Mai 1945 rückte Titos Partisanenarmee in Zagreb ein. Die Abrechnung mit den Ustaschi und den slowenischen Antikommunisten in den vom Deutschen Reich annektierten Landesteilen wurde dadurch erleichtert, daß die britischen Truppen, die inzwischen in Kärnten und der Steiermark standen, über 100.000 kroatische Soldaten und Angehörige der Ustascha-Milizen sowie etwa 20.000 Slowenen an die Einheiten Titos auslieferten. Es folgten Massenexekutionen, beginnend mit der von Maribor (Marburg) an der Drau im Mai 1945, denen Tausende von politischen Gegnern zum Opfer fielen. In Slowenien wurden Zehntausende Menschen erschossen oder erschlagen und in Gräben, Bergwerkstollen und in Karsthöhlen verscharrt. Unter den Toten, die über ein halbes Jahrhundert später, nach der Auflösung Jugoslawiens, von der nachkommunistischen Regierung Sloweniens in rund 600 Massengräbern registriert wurden, fand man Zehntausende von Kroaten, Slowenen, deutschen Soldaten und Angehörigen der deutschen Minderheit, sowie zahlreiche Serben, Montenegriner, Italiener und Ungarn.
Von den politischen Führern der Antikommunisten konnte sich Nedic, der in Österreich verhaftet worden war, im Februar 1946 einem Prozeß durch Selbstmord entziehen. Mihajlovic gelang es, sich ein Jahr lang in Bosnien zu verbergen; er wurde im März 1946 in einem Schauprozeß zusammen mit anderen Führern der Tschetniks zum Tode verurteilt und hingerichtet. Dasselbe Schicksal erlitt im Juni 1947 der kroatische Marschall Slavko Kvaternik, der 1941/42 als Staatsoberhaupt an der Spitze Kroatiens gestanden hatte, im Oktober 1942 aber von Pavelić aller Ämter enthoben worden war. Der «Poglavnik» Pavelić entkam 1945 mit kirchlicher Hilfe über Österreich nach Italien und gelangte Ende 1948 als Gast des argentinischen Diktators Juan Peron nach Buenos Aires. Nach dessen Sturz floh Pavelić nach Spanien, wo er im Dezember 1959 im Deutschen Krankenhaus in Madrid starb.
Die Ermordung von Angehörigen der deutschen Minderheit war Teil des Vorhabens, das Zusammenleben mit den vor Jahrhunderten eingewanderten Donauschwaben für immer zu beenden. Das Gros der ethnischen Deutschen wurde in Lagern untergebracht, in denen auf Grund von Mißhandlungen, Krankheiten und mangelhafter medizinischer Versorgung Zehntausende umkamen. Die Ausreise der Überlebenden kam erst allmählich, nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949, in Gang. Der Staat Titos wollte aber nicht nur die in Jugoslawien lebenden Deutschen loswerden, sondern sich auch überwiegend deutschsprachige Gebiete Österreichs aneignen und an der Besetzung Österreichs beteiligt werden – eine Forderung, die die Alliierten zurückwiesen. In Südkärnten eingedrungene Partisanen besetzten Mitte Mai 1945 Klagenfurt, mußten aber die okkupierten Gebiete Ende Mai wieder räumen. Was vorerst blieb, war der jugoslawische Anspruch auf Gebiete in Kärnten und der Steiermark, in denen es eine starke slowenische Minderheit gab.
Ein sehr viel ernsteres internationales Problem erwuchs aus dem jugoslawischen Versuch, die Grenzregelungen der Verträge von St. Germain und Rapallo aus den Jahren 1920/21 zu Lasten Italiens zu revidieren. Schon vor dem Eintreffen der Westalliierten hatten jugoslawische Verbände Ende April ganz Istrien, Anfang Mai auch Triest, Fiume (Rijeka) und Gorizia (Görz) besetzt, «Nationale Befreiungsausschüsse» gebildet und eine Volksbewegung für den Anschluß an Jugoslawien organisiert. Als britische und amerikanische Einheiten im Mai in Triest und Gorizia einrückten, begann ein Konflikt, in dessen Mittelpunkt rasch der Streit um die Zukunft Triests rückte. Am 9. Juni wurde Jugoslawien durch ein Dreimächteabkommen die Militärverwaltung über Istrien übertragen. Triest, Pola (Pula) und das Isonzotal aber mußten Titos Truppen wieder räumen. Elf Tage später wurde in Duino eine Demarkationslinie festgelegt: Pola, Triest und das Isonzotal blieben unter vorläufiger alliierter Militärverwaltung, Jugoslawien wurde der Besitz von Fiume, Zara (Zadar), dem größten Teil von Istrien und den bisher italienischen Inseln vor der dalmatinischen Küste, also Gebieten mit ganz überwiegend slowenischer oder kroatischer Bevölkerung, in Aussicht gestellt.
Die innenpolitische Machtfrage wurde in Jugoslawien 1945 sehr rasch geklärt. Bereits im Mai verließ die Rote Armee das Land. Im August wurde, um mindestens formell einer alliierten Empfehlung zu entsprechen, der Antifaschistische Rat der Nationalen Befreiung Jugoslawien um 121 politisch tätige Persönlichkeiten, darunter 39 frühere Parlamentarier, erweitert, wobei sich die Kommunisten und ihre Verbündeten eine Zweidrittelmehrheit sicherten. Der erweiterte Antifaschistische Rat erklärte sich zum provisorischen Parlament des demokratischen föderativen Jugoslawien und verabschiedete ein Wahlgesetz, das «Kollaborateure» von der Wahl der Volksvertretung ausschloß und das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre herabsetzte.
Noch während des Wahlkampfes schied der frühere Exil-Ministerpräsident Ivan Šubašic, der Außenminister in Titos Koalitionskabinett, desillusioniert über das rücksichtslose Vorgehen der Kommunisten, im Oktober aus der Regierung aus. Die Wahlen zu den beiden Kammern der Konstituante brachten der kommunistischen «Volksfront» am 11. November 1945 eine Mehrheit von über 90 Prozent im Bundesrat und von knapp 89 Prozent im Nationalitätenrat. In ihren ersten Beschlüssen erklärte die Konstituante Jugoslawien zur Republik und alle vom Antifaschistischen Rat erlassenen Gesetze für rechtens. Am 31. Januar 1946 trat eine Verfassung in Kraft, die sich an die sowjetische von 1936 anlehnte und Jugoslawien zu einer Föderativen Volksrepublik machte, die aus sechs Teilrepubliken bestand: Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Mazedonien.
Noch rascher als in Jugoslawien vollzog sich die kommunistische Machtergreifung in Albanien. Die kleine, 1941 gegründete Kommunistische Partei hatte unter Anleitung Titos und mit seiner tatkräftigen Hilfe im Mai 1944 einen dem Anschein nach überparteilichen Antifaschistischen Rat der Nationalen Befreiung ins Leben gerufen, der ebenso wie sein jugoslawisches Vorbild von den Westmächten und besonders von Großbritannien materiell und militärisch unterstützt wurde. Den Vorsitz im Exekutivorgan des Rates, dem Nationalen Befreiungskomitee, sicherte sich der Mann an der Spitze des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, der Gymnasiallehrer Enver Hodscha (Hoxha). Eine im Süden Albaniens aktive konkurrierende Organisation, die Nationale Front, hatte zwar gegen die italienischen Okkupanten und das von ihnen eingesetzte Satellitenregime in Tirana gekämpft, kooperierte aber mit den Deutschen, die nach der Kapitulation des faschistischen Italien im September 1943 in Albanien einmarschierten und nominell die Unabhängigkeit des Landes wiederherstellten.
Den Kampf gegen die Deutschen nahm mit beträchtlichem Erfolg die kommunistisch geführte Nationale Befreiungsarmee auf. Ihre Aktionen beschleunigten im Herbst 1944 den Abzug der Wehrmacht aus der Mitte und dem Norden Albaniens. Am 22. Oktober, noch vor der Eroberung Tiranas, ließ sich das Nationale Befreiungskomitee von einer ad hoc einberufenen Versammlung, dem Zweiten Antifaschistischen Kongreß zur Nationalen Befreiung, zur Demokratischen Regierung Albaniens erklären. Damit waren die Kommunisten faktisch bereits an der Macht. Am 2. Dezember 1945 verschaffte sich Hodschas Demokratische Einheitsliste durch eine manipulierte Parlamentswahl den Schein einer demokratischen Legitimation. Am 11. Januar 1946 proklamierte die neugewählte Nationalversammlung die Albanische Volksrepublik. Die kommunistische Umwälzung konnte fortan in «legalen» Formen weitergehen.
Daß Stalin sich in den Ländern Ostmittel- und Südosteuropas, die unter direktem Einfluß der Sowjetunion standen, mit der Einrichtung kommunistischer Regime mehr Zeit ließ als Tito und Hodscha, hatte gute Gründe. Der Generalsekretär der KPdSU achtete 1945 sorgfältig darauf, in den von der Roten Armee besetzten Ländern die demokratische Fassade zu wahren und wo immer möglich Koalitionsregierungen zu etablieren, in denen die kommunistische Hegemonie nicht allzu deutlich in Erscheinung trat. Er schlug diesen sogenannten «Mittelweg» nicht nur deshalb ein, weil er den westlichen Demokratien keine schlagenden Argumente für ihre Kritik an den entstehenden «Volksdemokratien» liefern wollte. Er tat es auch im Interesse der kommunistischen Parteien Westeuropas, die in vier Ländern, nämlich Frankreich, Italien, Belgien und Dänemark an der Regierung beteiligt waren.
In Frankreich waren die Kommunisten im April 1944 auf die wiederholte Aufforderung General de Gaulles hin in das Nationale Befreiungskomitee eingetreten. In der am 10. September 1944 gebildeten, von de Gaulle geführten Provisorischen Regierung der Französischen Republik stellten sie den Gesundheits- und den Luftfahrtminister. In Italien war der Parteiführer Palmiro Togliatti bis zum 8. Juni 1945 stellvertretender Ministerpräsident unter Ivanoe Bonomi und im nachfolgenden Kabinetts unter Ferruccio Parri Justizminister. Ein Parteibuch der Kommunisten besaßen außerdem der Finanzminister des Kabinetts Bonomi und zunächst, bis Ende Juli 1945, auch des Kabinetts Parri. Auch in Belgien waren die Kommunisten «gouvernemental» geworden: Sie beteiligten sich, ebenso wie die Christlichen Demokraten und die Liberalen, an der Koalitionsregierung unter dem Sozialisten Achille van Acker. In Dänemark stellte die Kommunistische Partei den Verkehrsminister im «Befreiungsministerium» unter dem Sozialdemokraten Vilhelm Buhl. Die kommunistischen Minister verhielten sich in allen vier Ländern loyal und unternahmen nichts, was als Vorbereitung eines gewaltsamen Umsturzes hätte gedeutet werden können.
Solche Entwicklungen wären 1945 auch nicht im Sinne Stalins gewesen. Sein vorrangiges Interesse war es, den sowjetischen Einfluß dort zu festigen und auszubauen, wo die Rote Armee die Machtmittel besaß, um die Regierungen und das politische Leben wirksam in ihrem Sinn zu lenken. Nirgendwo war diese Voraussetzung in so hohem Maß gegeben wie in dem Teil Deutschlands, der nun die sowjetische Besatzungszone bildete. Sie war aus Stalins Sicht nicht nur das Prunkstück des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland. Sie war auch das Unterpfand für eine weitere Steigerung der sowjetischen Macht in Europa. Solange die USA noch eine große Militärmacht in Europa unterhielten, war es zweckmäßig, sie nicht ohne Not zu provozieren. Hatten die Vereinigten Staaten ihre Truppen erst einmal über den Atlantik zurückgezogen, würden die Kräfteverhältnisse in Europa andere sein – eine für die Sowjetunion durchaus erfreuliche Perspektive.[26]
Neuanfänge und Traditionen: Deutschland nach der Kapitulation
Mit der politischen Umwälzung in ihrem Teil Deutschlands begann die Sowjetunion bereits vor der deutschen Kapitulation. Am 2. Mai 1945, dem Tag, an dem die Verteidiger der Reichshauptstadt ihre Waffen streckten, traf eine Gruppe emigrierter deutscher Kommunisten unter Führung des ehemaligen sächsischen Reichstagsabgeordneten Walter Ulbricht, eines Mitglieds des Politbüros der KPD seit 1927, in Berlin ein. Ihre Aufgabe war es, die Sowjetunion bei der Umgestaltung ihres Besatzungsgebiets im kommunistischen Sinn systematisch zu unterstützen. Am 14. Mai setzte der sowjetischen Stadtkommandant von Berlin, General Bersarin, einen Magistrat für Groß-Berlin unter einem parteilosen Oberbürgermeister ein, wobei alle Schlüsselstellungen in den Händen von Kommunisten lagen. Entsprechend verfuhr die sowjetische Besatzungsmacht in anderen Städten ihrer Zone.
Eine Direktive Stalins in bezug auf Deutschland konnte alle Welt seiner Moskauer Siegesrede vom 9. Mai entnehmen: Die Sowjetunion, erklärte er, feiere den Sieg, aber sie schicke sich nicht an, «Deutschland zu zerstückeln oder zu vernichten». Das war eine klare Absage an die Zerstückelungspläne, wie sie der Generalsekretär der KPdSU noch auf den Konferenzen von Teheran und Jalta vertreten hatte. Mittlerweile war Stalin offenkundig zu der Überzeugung gelangt, daß die Sowjetunion, nachdem sie sich das nördliche Ostpreußen einverleibt und Polen auf Kosten Deutschlands westwärts verschoben hatte, ihre Interessen am besten wahren konnte, wenn sie von ihrer verbleibenden Besatzungszone aus Einfluß auf ganz Deutschland nahm. Um das zu tun, war es wichtig, das, was vom Deutschen Reich territorial noch übrig war, nicht in voneinander unabhängige Staaten aufzuspalten.
Am 5. Juni zogen die vier Siegermächte die logische Konsequenz aus der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches: Sie übernahmen die oberste Regierungsmacht in dem von ihnen besetzten Gebiet. Die in Berlin von den vier Oberkommandierenden Eisenhower für die USA, Schukow für die Sowjetunion, Montgomery für das Vereinigte Königreich und de Lattre de Tassigny für Frankreich abgegebene «Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme der obersten Regierungsgewalt in Deutschland» enthielt die in der militärischen Kapitulationsurkunde vom 8./9. Mai angekündigten allgemeinen Kapitulationsbedingungen. Die Präambel stellte ausdrücklich fest, daß es «in Deutschland keine zentrale Regierung oder Behörde» gebe, die fähig wäre, «die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ordnung, für die Verwaltung des Landes und für die Ausführung der Forderungen der siegreichen Mächte zu übernehmen». Die Übernahme der obersten Regierungsgewalt durch die vier Alliierten schloß «alle Befugnisse der deutschen Regierungen, Verwaltungen oder Behörden der Länder, Städte und Gemeinden» ein. Die «Berliner Erklärung» hielt auch fest, was die Übernahme der Regierungsgewalt durch die Alliierten nicht bewirkte: eine «Annektierung Deutschlands».
Ausgeübt wurde die oberste Regierungsgewalt durch die Oberbefehlshaber in ihrer jeweiligen Besatzungszone und in allen Deutschland als ganzes betreffenden Angelegenheiten gemeinsam in dem von ihnen gebildeten Alliierten Kontrollrat. Entsprechendes galt für die Viersektorenstadt Berlin, wo für die Angelegenheiten, die die gesamte Stadt betrafen, die Alliierte Kommandantur zuständig war. Zwischen dem 1. und dem 4. Juli besetzten sowjetische Truppen die zuvor von den Amerikanern und Briten geräumten westlichen Gebiete von Sachsen, Thüringen und Mecklenburg. Gleichzeitig zogen Amerikaner, Briten und Franzosen in die ihnen vorbehaltenen Sektoren von Berlin ein. Die französische Besatzungszone im Südwesten Deutschlands wurde, wie in Jalta vereinbart, aus dem geplanten Bestand der amerikanischen und der britischen Zone herausgenommen.
Formal ähnlich verfuhren die Alliierten in Österreich. Allerdings wurde in Wien, anders als in Berlin, die Innenstadt gemeinsam von den vier Alliierten verwaltet, und im Unterschied zu Deutschland verfügte Österreich im Sommer 1945 auch bereits über eine eigene Regierung. Am 27. April hatte die Sowjetunion eine provisorische Koalitionsregierung unter dem früheren Staatskanzler Karl Renner eingesetzt, der außer Renners Sozialisten auch die Christlich-Sozialen und die Kommunisten angehörten. Am 1. Mai setzte die Regierung Renner die Verfassung von 1920 (in der Fassung von 1929) wieder in Kraft; eine Woche später veranlaßte sie die Bildung von Landesregierungen in den wiederhergestellten Bundesländern. Am 20. Oktober wurde die provisorische Regierung in Wien von den Westmächten anerkannt.
Die ersten Anzeichen eines politischen Neuanfangs in Deutschland gab es noch vor der Kapitulation des Reiches in der späteren britischen Besatzungszone. Die stärkste Aktivität entfaltete ein früherer sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter: Kurt Schumacher, der im März 1943 nach einem zehnjährigen Martyrium aus dem Konzentrationslager Dachau entlassen worden war. Am 19. April – neun Tage, nachdem die Amerikaner Hannover besetzt hatten – berief er ebendort ein vorbereitendes Treffen zur Wiedergründung der SPD ein. Am 6. Mai entstand in Hannover der erste sozialdemokratische Ortsverein. Hannover wurde zum «Vorort» der Sozialdemokratischen Partei in der britischen und der amerikanischen Zone, das «Büro Schumacher» zur vorläufigen Parteizentrale.
Die erste Partei, die sich nach dem «Zusammenbruch» neu konstituierte, war die KPD. Ihre Wiedergründung fand am 11. Juni in Berlin statt – einen Tag, nachdem die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) die Gründung von «antifaschistisch-demokratischen» Parteien und von Gewerkschaften zugelassen hatte. Der Gründungsaufruf der Kommunistischen Partei Deutschlands war betont national und «reformistisch» gehalten. Die KPD bekannte sich zum freien Handel und zur privaten Unternehmerinitiative auf der Grundlage des Privateigentums und äußerte die Auffassung, daß es falsch wäre, «Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen», da dieser Weg nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland entspreche. Vielmehr schrieben die entscheidenden Interessen des deutschen Volkes Deutschland einen anderen Weg vor: die «Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk».
Offen war im Sommer 1945, wie sich das Verhältnis zwischen KPD und SPD entwickeln würde. Unter den Anhängern beider Parteien waren viele, wenn nicht die meisten der Meinung, daß Hitler ohne die tiefe Spaltung der «marxistischen» Arbeiterbewegung nicht an die Macht gekommen wäre, die Überwindung des historischen Gegensatzes folglich das Gebot der Stunde sei. Die «Gruppe Ulbricht» räumte, in voller Übereinstimmung mit Stalin, dem Wiederaufbau der KPD die oberste Priorität ein; verfügte die Partei erst einmal über eine schlagkräftige Organisation, konnte und mußte sie die «Einheit der Arbeiterklasse» zu ihren Bedingungen herstellen. Kurt Schumacher war ein entschiedener Gegner aller Vereinigungspläne. In seinen «Politischen Richtlinien für die SPD in ihrem Verhältnis zu den anderen politischen Faktoren» vom August 1945 formulierte er mit unerbittlicher Schärfe: «Die Kommunistische Partei ist unlösbar an eine einzige der Siegermächte, und zwar an Rußland als nationalen und imperialistischen Staat und seine außenpolitischen Ziele gebunden.» In dem Maß, wie Schumacher seine Stellung in der Sozialdemokratie der westlichen Besatzungszonen festigte, wurde diese Position auch die der West-SPD.
Die erste «bürgerliche» Partei, die nach dem Krieg neu entstand, war die Christlich-Demokratische Union (CDU). Sie war ein Versuch, den Konfessionalismus in Deutschland zu überwinden und Katholiken und Protestanten in einer alle Schichten ansprechenden Volkspartei zusammenzuführen. Die Gründungsorte waren Köln, Berlin und Frankfurt, wo im Juni 1945 die ersten Zusammenschlüsse erfolgten. Der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer, der von den Amerikanern am 4. Mai 1945 wieder in sein früheres Amt als Oberbürgermeister von Köln eingesetzt worden war, gehörte nicht zu den Parteigründern: Er schwankte in den ersten Monaten nach Kriegsende noch, ob er das katholische Zentrum wiederbeleben oder sich der neuen interkonfessionellen Partei anschließen sollte. Erst Ende August trat er in die CDU ein. Im Juli 1945 begann sich auch der deutsche Liberalismus neu zu formieren – unter verschiedenen Namen, aber mit dem gemeinsamen Ziel, die alte Spaltung in eine links- und eine rechtsliberale Partei zu vermeiden.
Die amerikanische Besatzungsmacht hielt sich gegenüber deutschen Parteigründungen zunächst zurück. Die Direktive 1067 der Joint Chiefs of Staff (JCS), die Präsident Truman am 10. Mai bestätigte, verkündete nicht nur die Maxime, daß die amerikanische Politik nicht auf die Befreiung, sondern auf die Besetzung Deutschlands als besiegter Feindstaat abziele. Sie enthielt darüber hinaus auch ein Verbot jeglicher politischen Betätigung. Durchhalten ließ sich diese Maßgabe in der Praxis ebensowenig wie die in der gleichen Direktive ausgegebene Parole «No fraternization» (Keine Verbrüderung). Wenn man die Deutschen «umerziehen», aus Anhängern des Nationalsozialismus Demokraten machen wollte, mußte man ihnen die Gelegenheit geben, sich in politischer Verantwortung zu üben. Da das 1945 auf höherer Ebene noch nicht möglich war, galt es «unten», auf gemeindlicher und kommunaler Ebene, anzufangen. Die Amerikaner vertrauten viel zu sehr der Idee der «Graswurzeldemokratie», als daß sie sich über längere Zeit hinweg dieser Einsicht hätten verweigern können.
In den Gemeinden und Städten der amerikanischen Zone, vor allem in Bayern, waren es häufig katholische Pfarrer, wenig später auch frühere Gewerkschaftsführer, deren Urteil die Besatzungsoffiziere und ihre Berater einholten, wenn es um die Frage ging, welche Deutschen man mit Verwaltungsaufgaben betrauen konnte. Wichtig waren auch der Sachverstand und die personellen Kenntnisse deutscher Emigranten, von denen einige in enger Abstimmung mit dem Exil-Vorstand der SPD in London vom amerikanischen Geheimdienst, dem Office of Strategic Services, schon im März 1945 nach Deutschland eingeschleust wurden und mancherorts eine aktive Rolle bei der Bildung «antifaschistischer» Arbeiterinitiativen spielten. Von deutschen Emigranten waren auch die «Weißen Listen» zusammengestellt worden, die die Namen politisch unbelasteter Deutscher und erwiesener Hitler-Gegner enthielten. Die Unterstützung, die die sowjetische Besatzungsmacht deutschen Parteigründungen zuteil werden ließ, tat ein übriges, um das politische Betätigungsverbot im Sommer 1945 zu Fall zu bringen. Wenn die demokratischen Prinzipien, zu denen sich die Westmächte bekannten, sich auch in Deutschland durchsetzen sollten, mußte man auf die Kräfte zurückgreifen, die die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik, getragen hatten.
Älter als die demokratische war eine andere deutsche Tradition, die die westlichen Alliierten ihren Zwecken nutzbar zu machen suchten: die föderalistische. Sie schien geeignet, dem Wiedererstehen einer starken Zentralgewalt einen Riegel vorzuschieben. Angesichts der Erfahrungen mit dem totalitären Einheitsstaat des «Dritten Reiches» durfte man auch erwarten, daß viele Deutsche einem ausgeprägten Föderalismus Sympathie entgegenbringen würden. Die sowjetische Besatzungsmacht gab sich ebenfalls föderalistisch: Sie gliederte am 9. Juli ihre Zone in die fünf Länder Thüringen, Sachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Gegenüber den kurz zuvor gebildeten, weithin von Kommunisten kontrollierten, der SMAD unterstellten elf Zentralverwaltungen der Sowjetzone hatten die Landesregierungen freilich nur geringes Gewicht.
In den Westzonen erstreckte sich der Aufbau von Landesverwaltungen über einen längeren Zeitraum, der mit der Ernennung einer bayerischen Regierung unter dem früheren Vorsitzenden der Bayerischen Volkspartei, Fritz Schäffer, als Ministerpräsident durch die Amerikaner am 28. Mai 1945 begann und mit der von der britischen Besatzungsmacht angeordneten Bildung des Landes Niedersachsen am 1. November 1946 endete. Einen Sonderstatus nahm das Saarland ein, das nach den alliierten Vereinbarungen zur französischen Zone gehörte, von Frankreich aber dem eigenen Wirtschaftsgebiet angegliedert, also von Deutschland abgetrennt wurde.
Einig waren sich die Besatzungsmächte im Prinzip darin, daß es den Nationalsozialismus und den deutschen Militarismus ein für alle Mal zu beseitigen galt. Die «Berliner Erklärung» vom 5. Juni ordnete die Festnahme der «hauptsächlichen Naziführer» und aller noch namhaft zu machenden Personen an, die im Verdacht standen, «Kriegs- oder ähnliche Verbrechen begangen, befohlen oder ihnen Vorschub geleistet zu haben».
Von Anfang an gab es jedoch auch deutliche Unterschiede zwischen den Alliierten, was die Stoßrichtung und die Methoden des Kampfes gegen den Nationalsozialismus (oder, wie die sowjetischen und deutschen Kommunisten vorzugsweise sagten, «Faschismus») anging. Die westlichen Demokratien wollten in erster Linie schuldig gewordene Personen zur Rechenschaft ziehen, die Sowjetunion darüber hinaus die «Klassenverhältnisse» abschaffen, die nach marxistisch-leninistischer Lesart den «Faschismus» hervorgebracht hatten, und darum dem Junkertum und der kapitalistischen Großbourgeoisie die Herrschaftsgrundlage entziehen. Der «Antifaschismus» hatte im sowjetischen Verständnis vor allem die Funktion, die Hegemonie der Kommunisten zu sichern. Am 14. Juli 1945, dem 14. Jahrestag des Verbots aller politischen Parteien außer der NSDAP, wurde in der sowjetischen Besatzungszone die «Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien», der sogenannte «Antifa-Block», gegründet. Ihm gehörten die KPD, die SPD, die CDU und die Liberaldemokratische Partei Deutschlands an. Die Führungsrolle der KPD wurde nicht formell festgeschrieben, faktisch war sie aber schon damals gewährleistet.
Das Land, in dem die vier Besatzungsmächte die oberste Regierungsgewalt ausübten, war im Wortsinn weitgehend ruiniert. Die großen und viele mittlere Städte hatten sich durch den alliierten Bombenkrieg in eine Trümmerwüste verwandelt; viele Verkehrsverbindungen, darunter neun Zehntel des Schienennetzes, waren zerstört oder unterbrochen; Millionen von Menschen, neben den Ausgebombten und den Flüchtlingen aus dem Osten Zwangsverschleppte, die sogenannten «Displaced Persons», aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa, darunter Überlebende des Holocaust, waren in primitiven Notunterkünften untergebracht oder auf der Wanderschaft. Die Reichsmark hatte ihren Kaufpreis zum größten Teil verloren; die Ersparnisse der Deutschen waren durch die Art und Weise der nationalsozialistischen Kriegsfinanzierung weitgehend vernichtet; die Versorgung mit Lebensmitteln war so unzulänglich, daß viele, vor allem die Stadtbewohner, Hunger litten; der Brennstoffmangel ließ für die kalte Jahreszeit das Schlimmste befürchten. Radikal erschüttert waren viele der bislang gültigen, gern «bürgerlich» genannten Vorstellungen von Moral, namentlich der Respekt vor fremdem, sei es privatem, sei es öffentlichem, Eigentum.
Zumindest auf dem Papier galt auch Anfang Juli 1945 noch die vom Geist des Morgenthau-Plans geprägte Direktive JCS 1067 vom Mai, wonach keine Maßnahme ergriffen werden durfte, die die «wirtschaftliche Aufrichtung Deutschlands» oder die «Aufrechterhaltung oder Stärkung der deutschen Wirtschaft» zum Ziel hatte. Wenn sich die USA an diese Devise hielten, drohte in Deutschland eine unvorstellbare Katastrophe. Sie hätte nicht nur die Besatzungstruppen in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch die Öffentlichkeit der westlichen Demokratien, obenan die amerikanische, gegen die Führung der USA aufgebracht. Auf einen solchen Konflikt mit der eigenen Bevölkerung und den eigenen Werten konnten es die Vereinigten Staaten nicht ankommen lassen. Deswegen war damit zu rechnen, daß Präsident Truman die Konferenz der wichtigsten drei Siegermächte, der USA, der Sowjetunion und Großbritanniens, die am 17. Juli 1945 in Potsdam begann, zu einer offiziellen Kurskorrektur nutzen würde.[27]
Potsdam: Das Verdikt der «Großen Drei»
Ein Treffen der «Großen Drei» lag nach der deutschen Kapitulation gewissermaßen in der Luft. In Teheran und Jalta hatten sich die führenden Staatsmänner der USA, der Sowjetunion und Großbritanniens über gewisse allgemeine Grundzüge der Nachkriegsordnung verständigt. Nachdem das nationalsozialistische Deutschland von ihren Truppen niedergerungen war, mußte im einzelnen geklärt werden, wie sie in Deutschland und Mitteleuropa weiter vorgehen wollten. An die Hinzuziehung einer weiteren Macht dachte man nicht: Frankreich war zwar inzwischen wieder als Großmacht anerkannt und hatte sowohl in Deutschland wie in Österreich eine Besatzungszone erhalten. Aber Stalin hatte nicht das geringste Interesse daran, mit drei statt mit zwei Westmächten zu verhandeln, und weder Truman noch Churchill sahen einen Grund, weshalb sie dem eigenwilligen General an der Spitze Frankreichs eine Gelegenheit geben sollten, die Abstimmung unter den Alliierten noch schwieriger zu machen, als sie ohnehin zu werden versprach. Schließlich hatte de Gaulle im Frühjahr 1945 durch eine Besetzung des italienischen Aostatals und durch die Entsendung von Truppen nach Libanon und Syrien die beiden angelsächsischen Mächte in einer Weise herausgefordert, die in beiden Fällen an den Rand eines militärischen Konflikts führte.
Am frühesten und nachdrücklichsten drängte Churchill auf eine Zusammenkunft mit Truman und Stalin. Bereits am 11. Mai trat er mit diesem Anliegen an den amerikanischen Präsidenten heran. Die größte Sorge des britischen Premiers war, daß die Sowjetunion es darauf anlegte, ihren Einfluß in Europa immer weiter auszudehnen. Nur ein starker und gemeinsam handelnder angelsächsischer Westen hatte nach Churchills Überzeugung eine Chance, dem «imperialistischen Ausdehnungsdrang des kommunistischen Rußland» wirksam entgegenzutreten. Deshalb verwahrte sich der Premier Ende Mai gegenüber dem von Truman entsandten Sonderbotschafter Joseph E. Davies mit großer Schärfe gegen den in Washington erwogenen Plan, einem Treffen der großen Drei eine separate Konferenz des amerikanischen Präsidenten und des sowjetischen Partei- und Regierungschefs vorzuschalten: Unter solchen für Großbritannien und das Commonwealth verletzenden Bedingungen werde sich die britische Regierung an einem alliierten Treffen nicht beteiligen; sie bestehe vielmehr darauf, von Anfang an als gleichberechtigter Partner behandelt zu werden.
In einem Memorandum vom 27. Mai, das er dem seit seiner Moskauer Botschafterzeit als betont sowjetfreundlich geltenden Diplomaten übergab, hob Churchill seinen Protest gegen eine amerikanisch-sowjetische Zweierkonferenz auf die Ebene des Grundsätzlichen. «Man muß im Auge behalten, daß Großbritannien und die Vereinigten Staaten durch die gleichen Ideale verbunden sind, nämlich durch das Ideal der Freiheit und die in der amerikanischen Verfassung niedergelegten Grundsätze, die mit einigen modernen Zusätzen in der Atlantik-Charta eine bescheidene Wiederholung finden. Die Sowjetregierung huldigt einer anderen Philosophie, nämlich dem Kommunismus und der schrankenlosen Anwendung der Polizeigewalt, welche letztere sie in allen Staaten, die ihren befreienden Armeen zum Opfer gefallen sind, einführt. Der Premierminister kann sich nicht leicht zu dem Gedanken durchringen, daß für die Vereinigten Staaten Großbritannien und Sowjetrußland einfach zwei fremde Mächte sind, die ihnen ungefähr gleichviel gelten und mit denen man die aus dem vergangenen Krieg herrührenden Schwierigkeiten bereinigen muß … Die hohen Ideale und Grundsätze, für die Großbritannien und die Vereinigten Staaten gelitten haben, sind nicht bloß eine Sache des Gleichgewichts der Kräfte. Sie sind vielmehr die Eckpfeiler für die Rettung der Welt.»
Truman bestritt zwar sogleich, daß er eine amerikanisch-sowjetische Vorkonferenz auf höchster Ebene beabsichtigt habe, die Befürchtungen Churchills, der neue Präsident könne gegenüber der Sowjetunion eine Politik des Appeasement verfolgen, vermochte er aber nicht zu entkräften. Unter dem Einfluß von Außenminister James F. Byrnes, Joseph Davies und Harry Hopkins, dem früheren engsten Berater Roosevelts, neigte Truman in den ersten Monaten seiner Amtszeit dazu, in Stalin den pragmatischen Führer einer fürs erste saturierten Macht und in Churchill einen das sowjetische Expansionsstreben maßlos übertreibenden, fast schon hysterischen Antikommunisten zu sehen. In den Verhandlungen, die Hopkins im Auftrag des Präsidenten Ende Mai und Anfang Juni 1945 mit Stalin in Moskau führte, fielen die Würfel über das künftige Schicksal Polens: Der Washingtoner Emissär stimmte jener letztlich nur symbolischen Erweiterung des kommunistisch dominierten Warschauer Kabinetts um exilpolnische und «bürgerliche» Politiker zu, die dann Anfang Juli von Washington und London mit der diplomatischen Anerkennung der Regierung Osóbka-Morawski honoriert wurde. Truman lag zu dieser Zeit alles daran, die Sowjetunion zu einem baldigen Eintritt in den Krieg gegen Japan zu bewegen und die amerikanisch-sowjetische Zusammenarbeit über das Kriegsende hinaus aufrechtzuerhalten.
Die sowjetische Politik war nicht der einzige Grund, weshalb Churchill sich für die rasche Einberufung einer amerikanisch-britisch-sowjetischen Dreierkonferenz aussprach. Als er sein Memorandum vom 27. Mai verfaßte, stand er schon nicht mehr an der Spitze einer «Nationalen Regierung», sondern eines rein konservativen Kabinetts. Die Labour Party hatte auf ihrem Parteitag in Blackpool beschlossen, aus der faktischen Allparteienregierung auszuscheiden, woraufhin Churchill König Georg VI. am 23. Mai sein Rücktrittsgesuch unterbreitete und von diesem erneut mit der Regierungsbildung beauftragt wurde. Eine der ersten Amtshandlungen des wiederernannten Premierministers war die Auflösung des im November 1935 gewählten Unterhauses, das seine Legislaturperiode wegen des Krieges zweimal, zuletzt im Dezember 1944, verlängert hatte. Die Neuwahl wurde auf den 5. Juli angesetzt. Der frühe Termin lag im Interesse der Tories, die ganz darauf setzten, daß Churchills Popularität als Kriegspremier sich bei Wahlen kurz nach dem Sieg über Deutschland zu ihren Gunsten auswirken würde. Da die meisten britischen Soldaten nur im Ausland abstimmen konnten und der Transport ihrer Wahlurnen Zeit beanspruchte, beschloß das Unterhaus, die Urnen für die Dauer von drei Wochen zu versiegeln. Das Wahlergebnis konnte folglich erst am 26. Juli bekanntgegeben werden. Der Wahlausgang war bis dahin ungewiß. Die Dreierkonferenz mußte also, soweit es nach Churchill ging, vorher zusammentreten – zu einem Zeitpunkt, an dem niemand bezweifeln konnte, daß er der britische Premierminister war.
Als Termin der Konferenz verständigten sich Truman, Churchill und Stalin Ende Mai auf den 15. Juli, als Ort auf Berlin. Tatsächlich begann das Treffen zwei Tage später als zunächst geplant und nicht in der zerstörten ehemaligen Reichshauptstadt, sondern im benachbarten, etwas weniger verwüsteten Potsdam. Das überragende Thema der ersten acht Tage war die polnische Westgrenze. Stalin forderte unter Berufung auf das Verlangen der polnischen Regierung einen Grenzverlauf an Oder und Lausitzer (oder Görlitzer) Neiße, während Churchill und, mit deutlich geringerem Nachdruck, Truman auf einer weiter östlich gelegenen Grenze, entlang der Oder und der Glatzer Neiße, bestanden. Das Hauptargument des britischen Premierministers war, daß die Bevölkerung zwischen den beiden gleichnamigen Flüssen rein deutsch war und Deutschland genug Probleme hatte, Millionen von Vertriebenen aus den Ostgebieten unterzubringen und zu versorgen; die Lebensmittel und das Brennmaterial innerhalb der Grenzen von 1937 müßten für alle Deutschen verfügbar sein, unabhängig von der Zone, in der sie lebten. In diesem Standpunkt ließ sich Churchill auch nicht von der polnischen Delegation unter Staatspräsident Bierut beirren, die den Vertretern der drei Mächte am 24. Juli ihre Position darlegen konnte.
Am folgenden Tag flog der britische Premier nach London zurück, um zugegen zu sein, wenn am 26. Juli das Wahlergebnis bekanntgegeben wurde. Die überlegene Siegerin war zur Überraschung der meisten Beobachter die Labour Party, die 393 Abgeordnete stellte, während die Konservativen nur 197 Mandate erlangten. (Die Stimmenanteile der beiden großen Parteien lagen bei 49,7 und 36,2 Prozent; die Liberalen kamen auf 9 Prozent und 12 Sitze.) Im Vordergrund des kurzen Wahlkampfes hatten die Wirtschafts- und die Sozialpolitik gestanden, nicht die Verdienste des Kriegspremiers und seiner Partei. Die Mehrheit der Briten wollte endlich die Reformen verwirklicht sehen, die ihnen während des Krieges durch den Beveridge-Report von 1942 versprochen, aber (mit Ausnahme des Education Act vom August 1944, der das schulpflichtige Alter auf das 15. Lebensjahr anhob und kostenlosen Unterricht auch an öffentlichen höheren Schulen einführte) nicht in Angriff genommen worden waren. Die Labour-Parole «Laßt uns der Zukunft ins Auge sehen» (Let us face the future) war zugkräftiger gewesen als die patriotische Parole, den bewährten Staatsmann Churchill im Amt zu bestätigen. Der Mann an der Spitze der unterlegenen Partei konnte sich mit der Gewißheit trösten, daß die meisten seiner Landsleute, auch wenn sie für Labour gestimmt hatten, seine historische Leistung sehr wohl zu würdigen wußten: Kein anderer westlicher Regierungschef hatte so viel zum Sieg über das nationalsozialistische Deutschland und der Erhaltung der freiheitlichen Demokratie beigetragen wie er – der nunmehr siebzigjährige Winston Churchill.
Sein Nachfolger, der ehemalige Vizepremier und bisherige Oppositionsführer Clement Attlee, hatte von Anfang an auf Bitten Churchills als Mitglied der britischen Delegation an der Potsdamer Konferenz teilgenommen. Mit den Problemen aber, die dort zur Entscheidung anstanden, waren er und der neue Außenminister Ernest Bevin, der an die Stelle von Anthony Eden trat, ungleich weniger vertraut als ihre Vorgänger. In der heiß umstrittenen Frage der polnischen Westgrenze fühlten sich beide nicht an das unerbittliche Nein gebunden, das Churchill der polnischen und sowjetischen Forderung nach der Lausitzer Neiße entgegengesetzt hatte. Das politische Gewicht, das Großbritannien in die Waagschale der «Großen Drei» werfen konnte, wurde seit dem 26. Juli geringer, das der Amerikaner größer: Darin lag die erste außenpolitische Wirkung des Regierungswechsels in London.
Trumans Widerstand in Sachen westliche Neiße war schon in den ersten acht Tagen der Konferenz weniger hart gewesen als der Churchills. Nach dem 26. Juli setzte sich bei den Amerikanern, und vor allem bei Außenminister Byrnes, die Ansicht durch, daß man der sowjetischen Seite im Hinblick auf die Westverschiebung Polens ein gutes Stück entgegenkommen könne, wenn sich Stalin bei einer anderen kontroversen Materie, der Reparationsfrage, kompromißbereit zeige. Dazu kam das Gefühl des Zeitdrucks: Truman wollte zum einen möglichst rasch in die USA zurückkehren, um sich dort wieder ganz dem siegreichen Abschluß des Krieges gegen Japan widmen zu können, zum anderen ging es ihm darum, das Gros der amerikanischen Truppen so schnell wie möglich aus Europa abzuziehen und im Fernen Osten einzusetzen.
Die in Potsdam erzielte Vereinbarung über die polnische Westgrenze war nur scheinbar ein Kompromiß. Die Grenze sollte im Norden unmittelbar westlich von Swinemünde beginnen (womit Stettin an Polen fiel), dann der Oder und der westlichen Neiße entlang bis zur tschechoslowakischen Grenze verlaufen. Die deutschen Ostgebiete wurden, mit Ausnahme des nördlichen Ostpreußen, polnischer Verwaltung unterstellt, die endgültige Grenzregelung einem Friedensvertrag vorbehalten. Das nördliche Ostpreußen mit Königsberg wurde sowjetischer Verwaltung unterstellt, wobei die Westmächte zusagten, den Anspruch der Sowjetunion auf dieses Gebiet in einem Friedensvertrag zu unterstützen.
Die polnische Verwaltung in den deutschen Ostgebieten bedeutete nicht, daß Polen den Status einer fünften Besatzungsmacht mit Vertretung im Alliierten Kontrollrat erhielt. Völkerrechtlich waren die Verwaltungsbefugnisse in den deutschen Ostgebieten ein Provisorium, tatsächlich aber übte Polen in seinen neuen Westgebieten souveräne Staatsgewalt aus. Damit hatten sich die USA und Großbritannien der Kraft der vollendeten Tatsachen gebeugt: Angesichts der Eroberung der fraglichen Territorien durch die Rote Armee und der anhaltenden Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten sprach alles dafür, daß der Provisoriumsvorbehalt in bezug auf die deutschen Gebiete östlich von Oder und Lausitzer Neiße, ein Viertel des Territoriums des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937, sich als ein bloßes Stück Papier erweisen würde. Deutschland in den Grenzen von 1937, der auch von Stalin akzeptierte Ausgangspunkt der Potsdamer Konferenz, verwandelte sich durch ebendiese Konferenz in eine juristische Fiktion. Das wirkliche Deutschland bestand aus dem von den vier Alliierten besetzten und vom Alliierten Kontrollrat regierten Gebiet: Es war das aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangene Deutschland in den Grenzen von 1945, also ohne Ostpreußen, Hinterpommern, die brandenburgische Neumark und Schlesien.
In der Reparationsfrage kamen die Westalliierten Stalin ebenfalls entgegen, wenn auch nicht so weit wie in der polnischen Grenzfrage. Die erstrebte Mitwirkung an der Kontrolle des Ruhrgebiets erreichte die Sowjetunion in Potsdam nicht, wohl aber eine Anerkennung ihres Anspruchs auf Reparationsleistungen aus den drei westlichen Besatzungszonen. Einig waren sich die «Großen Drei» zumindest im Prinzip darin, daß die Reparationen innerhalb der nächsten zwei Jahre aus der Demontage von deutschen Industrieanlagen, und zwar mit dem Ziel der Vernichtung des deutschen Kriegspotentials, sowie aus deutschem Auslandsvermögen entnommen werden sollten. Reparationsleistungen aus der laufenden Produktion, wie sie die Sowjetunion in ihrer Besatzungszone praktizierte, sah das Potsdamer Abkommen nicht vor.
Entsprechend einer Empfehlung der in Jalta eingesetzten Alliierten Reparationskommission erhielt die Sowjetunion, die am meisten unter dem von Hitler entfesselten Krieg gelitten hatte, 56 Prozent der Reparationen aus allen Besatzungszonen sowie 10 Prozent aus den Industrieanlagen, die in den westlichen Zonen zu demontieren waren. Dazu kamen weitere 15 Prozent dieser Anlagen, für die die Sowjetunion im Austausch Nahrungsmittel, Kohle, Kali, Zink, Holz, Ton- und Petroleumprodukte aus ihrer Besatzungszone zu liefern hatte. Die Reparationsansprüche Polens waren aus dem sowjetischen Reparationsanteil zu befriedigen. Österreich, dem vermeintlich «ersten Opfer» Hitlers, blieben auf amerikanisches Drängen hin Reparationszahlungen erspart. Im Hinblick auf das deutsche Auslandsvermögen verzichteten die USA und Großbritannien zugunsten der Sowjetunion auf Ansprüche in Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Oberösterreich und Finnland, während die Sowjetunion ihrerseits keine Ansprüche auf deutsches Auslandsvermögen westlich der genannten Gebiete und auf das Gold erhob, das die Westmächte in den zeitweise von ihnen okkupierten Teilen der sowjetischen Besatzungszone erbeutet hatten.
Die Potsdamer Reparationsregelung war ein konfliktträchtiges Provisorium. Auf britisches Drängen hin unterblieb die von der Sowjetunion geforderte Festlegung der Gesamthöhe der Reparationen auf 20 Milliarden Dollar. Da jede Besatzungsmacht die Reparationen aus ihrer Zone entnehmen sollte, hing alles von der Bereitschaft der Alliierten zur Zusammenarbeit ab. Doch schon bald nach dem Treffen der «Großen Drei» wurde deutlich, daß die Sowjetunion ihre Reparationen entgegen den Potsdamer Vereinbarungen wie schon zuvor in hohem Maß aus der laufenden Produktion entnahm. Damit gefährdete sie nicht nur die Versorgung der deutschen Bevölkerung in der eigenen Besatzungszone, sie brach auch ihre Zusage, auf dem Wege des Austausches Lebensmittel und andere Güter in die westlichen Besatzungszonen zu liefern. Unter diesen Bedingungen war die erklärte Absicht von Truman, Attlee und Stalin, Deutschland in den Grenzen von 1945 als wirtschaftliche Einheit zu behandeln, nicht zu verwirklichen.
Die praktische Umsetzung dieser Maxime wurde indes auch von einer westlichen Besatzungsmacht boykottiert: Frankreich, das an der Potsdamer Konferenz nicht teilgenommen hatte, kündigte in einer Note vom 7. August 1945 in kaum verschlüsselter Form sein Veto gegen die Errichtung deutscher zentraler Verwaltungsabteilungen an, die nach dem Willen der anderen drei Besatzungsmächte die Alliierten bei der Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands unterstützen sollten. Seine Stellungnahme zur Potsdamer Reparationsabsprache behielt sich Frankreich, obwohl es der alliierten Reparationskommission beitrat, noch vor. Generell betrachtete Paris nur die Potsdamer Beschlüsse als für sich bindend, denen es im nachhinein ausdrücklich zugestimmt hatte.
Die möglichen Folgen des Ausschlusses Frankreichs von der Potsdamer Konferenz hatten Truman, Churchill und Stalin offenbar nicht bedacht. Neben dem dilatorischen Charakter des Reparationskompromisses trug der französische Einspruch gegen deutsche Zentralverwaltungsstellen entscheidend dazu bei, daß die wirtschaftliche Einheit Deutschlands ein bloßes Postulat blieb. Die in Teheran und Jalta in Aussicht genommene «Zerstückelung» Deutschlands hatten die «Großen Drei» in Deutschland zwar ad acta gelegt, einer Teilung des besetzten Deutschland aber keinen Riegel vorgeschoben. Ob es je wieder zu einer wirtschaftlichen und staatlichen Einheit Deutschlands kommen würde, war im Sommer 1945 völlig offen.
Im Gegensatz zur polnischen Westgrenze und dem Reparationsproblem waren die meisten anderen Aspekte der deutschen Frage nur wenig oder gar nicht umstritten. Das erste Ziel ihrer Deutschlandpolitik beschrieben die drei Alliierten im Potsdamer Abkommen mit den Worten: «Der deutsche Militarismus und Nationalismus werden ausgerottet, und die Alliierten treffen nach gegenseitiger Vereinbarung in der Gegenwart und in der Zukunft auch andere Maßnahmen, die notwendig sind, damit Deutschland niemals mehr seine Nachbarn oder die Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt bedrohen kann». Gleichzeitig versicherten die Verbündeten, daß es nicht ihre Absicht sei, «das deutsche Volk zu vernichten oder zu versklaven». Die Alliierten wollten vielmehr «dem deutschen Volk die Möglichkeit geben, sich darauf vorzubereiten, sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage von neuem wiederaufzubauen. Wenn die eigenen Anstrengungen des deutschen Volkes unablässig auf die Erreichung dieses Zieles gerichtet sein werden, wird es ihm möglich sein, zu gegebener Zeit seinen Platz unter den freien und friedlichen Völkern der Welt einzunehmen.»
Zur Erreichung des alliierten Programms sollte Deutschland gemäß den «Politischen Grundsätzen» des Potsdamer Abkommens vollständig abgerüstet und entmilitarisiert, seine Industrie, soweit sie für kriegerische Zwecke benutzt werden konnte, ausgeschaltet beziehungsweise überwacht werden. Die NSDAP war zu vernichten, ihre Nebenorganisationen wie SS, SA, SD und Gestapo waren ebenso aufzulösen wie die Land-, See- und Luftstreitkräfte und der Generalstab. Alle nationalsozialistischen Gesetze, die Menschen auf Grund ihrer Rasse, Religion oder politischen Überzeugung diskriminierten, mußten außer Kraft gesetzt werden. Die Kriegsverbrecher und ihre Helfer waren zu verhaften und vor Gericht zu stellen, die nationalsozialistischen Parteiführer und alle Personen, die der alliierten Besetzung und ihren Zielen gefährlich waren, zu verhaften und zu internieren. Eine erste Liste der Hauptkriegsverbrecher sollte am 1. September veröffentlicht werden. Über die Methode des Verfahrens gegen diese Tätergruppe wollten sich die «Großen Drei» so schnell wie möglich verständigen.
Im Sinne der «endgültigen Umgestaltung des deutschen politischen Lebens auf demokratischer Grundlage und einer eventuellen friedlichen Mitarbeit Deutschlands am internationalen Leben» waren das Erziehungs- und das Gerichtswesen sowie die Verwaltung, beginnend mit der kommunalen Selbstverwaltung, in demokratischem Geist neu zu organisieren. In ganz Deutschland waren alle demokratischen politischen Parteien zuzulassen und zu fördern; ihnen stand das Recht zu, Versammlungen einzuberufen und öffentliche Diskussionen durchzuführen. Gewählte Volksvertretungen sollten so rasch wie möglich auf Gemeinde-, Kreis-, Provinz- und Landesebene eingeführt werden. Soweit es die Notwendigkeit der militärischen Sicherheit erlaubte, sollten die Freiheit der Rede, der Presse und der Religion gewährt, die religiösen Einrichtungen respektiert und die Schaffung freier Gewerkschaften gestattet werden. Die Voraussetzung der Erfüllung solcher alliierten Versprechungen aber war die Einsicht der Besiegten: «Das deutsche Volk muß überzeugt werden, daß es eine totale militärische Niederlage erlitten hat und daß es sich nicht der Verantwortung entziehen kann für das, was es selbst dadurch auf sich geladen hat, daß seine eigene mitleidlose Kriegführung und der fanatische Widerstand der Nazis die deutsche Wirtschaft zerstört und Chaos und Elend unvermeidlich gemacht haben.»
In den «Wirtschaftlichen Grundsätzen» wurde Deutschland die Vernichtung seines Kriegspotentials und eine konsequente Dezentralisierung seiner Wirtschaft aufgegeben. Ziel der Dezentralisierung war es, die «bestehende übermäßige Konzentration der Wirtschaftskraft» in Form von Kartellen, Syndikaten, Trusts und anderen Monopolvereinigungen zu vernichten. Bei der Reorganisation des Wirtschaftslebens war das Hauptgewicht auf die Entwicklung der Landwirtschaft und der «Friedensindustrie für den inneren Bedarf (Verbrauch)» zu legen. Die alliierte Kontrolle der deutschen Wirtschaft sollte auf das Maß des Notwendigen beschränkt werden. Die Reparationen sollten dem deutschen Volk genügend Mittel belassen, um ohne Hilfe von außen zu existieren. Die Einnahmen aus der Ausfuhr von Erzeugnissen aus der laufenden Produktion und der Warenbestände hatten in erster Linie der Bezahlung der Einfuhren zu dienen, für die bei der Aufstellung des «Haushaltsplanes Deutschlands» die nötigen Mittel bereit zu stellen waren. In diesem Zusammenhang kam den deutschen Verwaltungsstellen große Bedeutung zu – einem Apparat, der nie entstehen sollte, weil das Veto Frankreichs ihn verhinderte.
Keinen Streit gab es unter den Alliierten über die gewaltigen Bevölkerungsverschiebungen, die die Neuordnung der europäischen Landkarte zur Folge hatte. Während des Zweiten Weltkriegs hatte Churchill immer wieder das Beispiel des griechisch-türkischen Bevölkerungstransfers nach dem Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923 angeführt: Auf Grund dieser Vereinbarung waren damals 1,5 Millionen Griechen aus Kleinasien, dem Pontusgebiet und Ostthrakien nach Griechenland und 400.000 Türken aus Mazedonien, Thessalien und aus dem Epirus in die Türkei umgesiedelt worden. Einen ähnlichen Bevölkerungsaustausch hatte im November 1919 der Vertrag von Neuilly zwischen der Türkei und Bulgarien vorgesehen. Vertraglich geregelte Zwangsumsiedlungen erschienen den britischen und amerikanischen Staatsmännern der vierziger Jahre auf Grund dieser Präzedenzfälle völkerrechtlich unbedenklich.
Im konkreten Fall, der in Potsdam zur Entscheidung anstand, sprachen die Erfahrungen mit der deutschen Politik des letzten Jahrzehnts für einen Bevölkerungstransfer. An ein friedliches Zusammenleben von Polen, Tschechen und Deutschen jenseits der Grenzen des verbliebenen deutschen Territoriums war nach allem, was die Deutschen ihren Nachbarn angetan hatten, nicht ernsthaft zu denken. Hätten die «Großen Drei» Millionen von Deutschen auf den Gebieten Polens und der Tschechoslowakei belassen, wäre das aus der Sicht der Sieger ein Beitrag zur Förderung eines aggressiven deutschen Irredentismus und damit einer abermaligen Gefährdung des europäischen Friedens gewesen.
Die Alliierten beschlossen daher auf sowjetisches, polnisches und tschechoslowakisches Drängen die «Überführung der deutschen Bevölkerung oder von Bestandteilen derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind», nach Deutschland, wobei «jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise» erfolgen sollte. Einklagbar war dieser humanitäre Vorbehalt nicht, seine Funktion war es denn auch eher, beruhigend auf die Öffentlichkeit in den westlichen Demokratien einzuwirken, der die Gewaltsamkeit der bisherigen «wilden» Vertreibungsaktionen durchaus nicht entgangen war. Eine angemessene Verteilung der Vertriebenen auf die einzelnen Besatzungszonen, wie das Potsdamer Abkommen sie vorsah, erwies sich ebenfalls als illusorisch: Frankreich weigerte sich im August 1945, seine Zone für Flüchtlinge und Vertriebene zu öffnen.
Als die Potsdamer Konferenz am 2. August 1945 zu Ende ging, gab es, zumindest auf dem Papier, ein neues Gremium, auf das sich die «Großen Drei» verständigt hatten: den Rat der Außenminister, in dem außer den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und Großbritannien auch Frankreich und China vertreten sein sollten. Seine wichtigste Aufgabe war es, Friedensverträge für Italien, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Frankreich aufzusetzen und diese dann den Vereinten Nationen vorzulegen. (Frankreich und China sollten an den Beratungen der Friedensverträge beteiligt werden, sofern sie die Waffenstillstandsabkommen mit den betreffenden Staaten unterzeichnet hatten). Außerdem sollte der Rat eine friedliche Regelung für Deutschland vorbereiten, damit das entsprechende Dokument durch «eine für diesen Zweck geeignete Regierung Deutschlands» angenommen werden könne, nachdem eine solche Regierung gebildet worden sei.
Einige Vereinbarungen der «Großen Drei» wurden zwar nicht als «geheim» eingestuft, aber zunächst nicht veröffentlicht. Darunter waren die Absprachen, den Rückzug der britischen und der sowjetischen Truppen aus Iran durch den sofortigen Abzug der alliierten Truppen aus Teheran einzuleiten und das Schwarzmeerengenabkommen von Montreux aus dem Jahr 1936 zu revidieren, das der Türkei die volle Souveränität über die Dardanellen, das Marmarameer und den Bosporus zurückgab. Der letztere Punkt lief auf eine westliche Unterstützung der sowjetischen Forderung hinaus, an der Kontrolle der Meerengen beteiligt zu werden – ein Verlangen, dem freilich die Türkei hätte zustimmen müssen (was sie nicht tat).
Auf der Potsdamer Konferenz hatte keiner der Teilnehmer die Absicht verfolgt, Deutschland zu teilen. Anders als Frankreich lag den «Großen Drei» aus unterschiedlichen Gründen daran, das besetzte Land als wirtschaftliche und, soweit möglich, künftig auch als politische Einheit zu behandeln. Für die USA und Großbritannien war diese Festlegung das einzige Mittel, Einfluß auf die Entwicklung der sowjetischen Besatzungszone zu nehmen und von dort den Anteil an Sachlieferungen für ihre Besatzungszonen zu erhalten, zu dem die sowjetische Seite sich in Potsdam verpflichtet hatte. Die Sowjetunion setzte ihrerseits darauf, in die westlichen Besatzungszonen hineinzuwirken und doch noch die (in Potsdam von Briten und Amerikanern nicht definitiv abgelehnte) Unterstellung des Ruhrgebiets, des industriellen Herzens Deutschlands, unter eine Vier-Mächte-Kontrolle zu erreichen. Kam es in diesen Streitfragen zu keiner Einigung, so war die geographische Linie klar erkennbar, der entlang das besetzte Gebiet in zwei Teile zerfallen würde: Es war die Grenze, die zwischen der britischen und der amerikanischen Zone auf der einen, der sowjetischen Zone auf der anderen Seite verlief.
Auf den ersten Blick war Stalin der Gewinner der Potsdamer Konferenz. Er hatte die Westverschiebung Polens in dem Ausmaß erreicht, das er anstrebte, und in der Reparationsfrage seine Forderungen bis auf die Festlegung der Obergrenze bei 20 Milliarden Dollar und die Internationalisierung des Ruhrgebiets durchgesetzt. Wäre er auch im Hinblick auf das Industrierevier an Rhein und Ruhr erfolgreich gewesen, hätte das der Sowjetunion zu entscheidendem Einfluß auf den Westen Deutschlands verholfen und darüber hinaus ihre Position in Westeuropa erheblich verstärkt. Dieser Triumph blieb Stalin versagt. Sein Griff nach der Ruhr stieß nicht nur bei den Briten, in deren Besatzungszone das Industriegebiet lag, auf hartnäckigen Widerstand, sondern auch bei der unbestrittenen Führungsmacht des Westens, den USA. Deren Präsident zog aus dem Gang der Potsdamer Verhandlungen einen weitreichenden Schluß: Auch wenn die Sowjetunion noch in den Krieg im Fernen Osten eintreten sollte, wollte er ihr nicht das Recht zugestehen, sich auch an der Besetzung Japans zu beteiligen. Mit Stalin über die deutsche und die eng mit ihr verknüpfte polnische Frage zu feilschen war unvermeidbar gewesen. Ähnliche Verhandlungen nach dem Sieg über das ostasiatische Kaiserreich zu führen war Truman nicht bereit.
Für die Deutschen erbrachte das Treffen der «Großen Drei» ein zwiespältiges Ergebnis. Das Potsdamer Abkommen, das kein Friedensvertrag war, aber einen solchen auf absehbare Zeit ersetzte, war, was die Gebietsverluste, die wirtschaftlichen Lasten und die politischen Auflagen anging, ungleich härter als der Vertrag von Versailles. Doch Potsdam stand auch für die endgültige Trennung der Vereinigten Staaten vom Geist des Morgenthau-Plans. Sein Urheber gehörte der amerikanischen Regierung nicht mehr an: Am 5. Juli hatte Truman das mündliche Rücktrittsgesuch von Finanzminister Henry Morgenthau umstandslos angenommen – ein Gesuch, das seinerseits eine Reaktion darauf war, daß der Präsident Morgenthaus Bitte, an der Potsdamer Konferenz teilzunehmen, brüsk abgelehnt hatte. Was das Potsdamer Abkommen über Demontagen sagte, war zwar schwer zu erfüllen, aber doch etwas völlig anderes als ein Programm zur Entindustrialisierung und Reagrarisierung Deutschlands.
Auch politisch gab das Konferenzergebnis den Deutschen Anlaß zu bescheidenen Hoffnungen. Sie erhielten die Zusicherung individueller Freiheitsrechte und demokratischer Mitbestimmung, womit die amerikanische Besatzungsmacht der bisher gültigen Direktive JCS 1067 eine Absage erteilte. Wohl begründet war ein gewisser politischer Optimismus deutscherseits freilich nur in den westlichen Besatzungszonen und den Westsektoren von Berlin. Was Stalin unter «Demokratie» verstand, unterschied sich fundamental von den Auffassungen der Amerikaner, Briten und Franzosen. Das hatte er nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch überall dort bewiesen, wo 1944/45 Kommunisten mit sowjetischer Hilfe in staatliche Schlüsselpositionen gelangt waren.
Alles, was die Westmächte zu diesem Thema in Potsdam mahnend zu Protokoll gaben, bestärkte Stalin in der Überzeugung, daß sie sich mit den vollendeten Tatsachen in Südost- und Ostmitteleuropa letztlich abgefunden hatten. Mochte die deutsche Frage auch noch offen sein, so gab es doch nichts mehr daran zu deuteln, daß Europa auf unabsehbare Zeit in eine östliche und eine westliche Interessensphäre gespalten war. Churchills Wort vom «Eisernen Vorhang» beschrieb nach dem Abschluß der Potsdamer Konferenz die Wirklichkeit des alten Kontinents noch treffender als zuvor.[28]
Kriegsende (II):
Die Atombombe und die Kapitulation Japans
Am frühen Morgen des 16. Juli 1945, des Tages vor dem Beginn der Potsdamer Konferenz, gelang einer Gruppe amerikanischer und britischer Kernphysiker und ihren Mitarbeitern in der Wüste von New Mexico bei Alamogordo ein Experiment, das die Welt verändern sollte: die erste Explosion einer Atombombe. Der erfolgreiche Versuch war das Ergebnis jahrelanger, von der Regierung der USA finanziell massiv unterstützten Forschungen, des sogenannten «Manhattan-Projekts».
Die wichtigste politische Triebkraft der amerikanischen Anstrengungen war die Angst, Hitlers Deutschland könne, gestützt auf die Forschungen deutscher Atomphysiker wie Otto Hahn, Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker, noch vor den Vereinigten Staaten in die Lage versetzt werden, die neue Massenvernichtungswaffe herzustellen und anzuwenden. Diese Furcht erwies sich als unbegründet: Hitler war nur an kurzfristig nutzbaren «Wunderwaffen» interessiert und dachte nicht daran, gigantische Mittel in die Entwicklung einer Technologie zu investieren, von der ungewiß war, wann sie, wenn überhaupt, militärisch verwertbar werden würde. Die Folge war, daß die deutsche Kernforschung hinter der angelsächsischen weit zurückblieb: 1944 erreichte sie etwa den Stand, auf dem das von Roosevelt eingesetzte Uran-Komitee im Juli 1941 seine Arbeit aufnahm. Es gab deutsche Kernwaffenversuche, und zwar im Oktober 1944 auf Rügen und Anfang März 1945, unter der Regie der SS, bei Ohrdruf, einer Außenstelle des Konzentrationslagers Buchenwald, in Thüringen. Von der Fähigkeit, Atomwaffen zum Einsatz zu bringen, aber war das Reich bei Kriegsende noch weit entfernt.
Die Zerstörungskraft von «Trinity», so der Deckname der in New Mexico gezündeten Atombombe, übertraf die Erwartungen von J. Robert Oppenheimer, dem Mann an der Spitze der in Los Alamos arbeitenden Teams, bei weitem. Der Wissenschaftsredakteur der «New York Times», William L. Laurence, der das streng geheime Ereignis von Alamogordo aus etwa 30 Kilometer Entfernung beobachten konnte, sah einen Flammenausbruch, «wie er nie zuvor auf diesem Planeten erblickt worden war, und der eine kurze Zeitspanne, die einem die ganze Ewigkeit dünkte, Erde und Himmel mit dem Licht vieler Sonnen erfüllte … Dann löste sich aus der großen Stille ein gewaltiger Donner. In einem kurzen Zeitraum wiederholte sich das Phänomen, das wir als Licht beobachtet hatten, nun als Laut. Es war wie die Explosion von Tausenden von schwersten Bomben, die gleichzeitig an einem Ort losgehen. Der Boden erzitterte unter unseren Füßen wie bei einem Erdbeben.»
Präsident Truman, der am 15. Juli in Potsdam eingetroffen war, erfuhr unmittelbar nach der Explosion vom Gelingen des Experiments. Er war schon vorher entschlossen gewesen, die neue Waffe, sobald sie erprobt war, einzusetzen, falls ein rasches Kriegsende im Fernen Osten zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar war. Am 18. Juni hatte ihm Admiral Leahy, sein Stabschef, vorgerechnet, daß nach den Erfahrungen der Schlacht um Okinawa von April bis Juni 1945 bei einer Invasion der japanischen Hauptinseln etwa 268.000 amerikanische Soldaten fallen würden – etwa so viele, wie bisher an allen Fronten des Zweiten Weltkriegs ihr Leben verloren hatten. Wie Kriegsminister Stimson und Außenminister Byrnes ging auch der Präsident davon aus, daß Japan bei Fortsetzung des Kriegs mit konventionellen Waffen erst in mehreren Monaten, möglicherweise auch erst im Herbst 1946 kapitulieren würde. Da die Atombombe die Chance bot, das Leben von Hunderttausenden von «GI’s» zu bewahren, mußte sie, wenn Tokio den Kampf nicht einstellte, erstmals über einer japanischen Stadt abgeworfen werden: Darin war sich Truman mit seinen engsten Beratern wie auch mit Churchill einig. Als amerikanische Innenpolitiker, die Truman und Byrnes, auch er ein ehemaliger Senator, im Sommer 1945 in erster Linie immer noch waren, dachten beide stets auch an die heimische Wählerschaft: Sie würde es der eigenen Führung nicht verzeihen, wenn sie einen blutigen und verlustreichen Krieg fortsetzte, obwohl sie über die technischen Möglichkeiten verfügte, ihn rasch zu beenden.
Nachdem Truman genauer über die Ergebnisse des Experiments in der Wüste von New Mexico informiert worden war, teilte er am 24. Juli Stalin am Rande der 8. Vollsitzung der Potsdamer Konferenz beiläufig mit, daß die USA jetzt über ein neues Kampfmittel von ungewöhnlicher Zerstörungskraft verfügten. Der sowjetische Ministerpräsident reagierte gelassen und bemerkte lediglich, er hoffe, daß die Vereinigten Staaten die Bombe mit gutem Nutzen gegen Japan einsetzen würden. Tatsächlich war Stalin längst durch den Bericht eines sowjetischen Spions, des aus Deutschland nach Großbritannien emigrierten Kernphysikers Klaus Fuchs, der am «Manhattan-Projekt» beteiligt war, über die Explosion von Alamogordo in Kenntnis gesetzt worden.
Die Entscheidung über den Abwurf einer Atombombe über Japan war zu diesem Zeitpunkt noch nicht gefallen. Vor einem eventuellen Einsatz der neuen Waffe sollte Japan die Gelegenheit erhalten, den Krieg zu beenden. In einem Ultimatum vom 26. Juli, der «Potsdamer Erklärung», forderten Truman, Churchill und der Präsident der nationalchinesischen Regierung, Marschall Tschiang Kai-schek (der nicht in Potsdam anwesend war), das Kaiserreich auf, bis spätestens 3. August die Waffen zu strecken und so der völligen Vernichtung seiner Streitkräfte und der Verwüstung der japanischen Inseln zu entgehen.
Die Bedingungen der Verbündeten waren «unumstößlich»: Die für den «verantwortungslosen Militarismus» und die aggressive Eroberungspolitik Verantwortlichen waren auszuschalten und die Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen; wie schon in der Proklamation von Kairo vom November 1943 angekündigt, sollten die Territorien und die Souveränität Japans auf die Gebiete beschränkt werden, die es vor dem Beginn seiner Expansionspolitik besessen hatte; bis zur Errichtung einer neuen, demokratischen und friedlichen Ordnung würde Japan in noch näher zu bestimmendem Umfang besetzt werden. Über den Tenno sagte die Potsdamer Erklärung nichts: Weder forderte sie seine Abdankung und Verurteilung oder den Übergang von der Monarchie zur Republik, noch deutete sie die Bereitschaft der Alliierten an, Kaiser Hirohito auf dem Thron zu belassen. Auch fehlte eine direkte Drohung mit dem Einsatz einer Atombombe.
An der Spitze der japanischen Regierung stand seit dem 7. April 1945 der greise Admiral Suzuki Kantaro, der das Vertrauen des Kaisers genoß und auf Drängen friedensbereiter Kräfte ins Amt gelangt war. Auf Betreiben von Außenminister Togo Shigenori nahm der frühere Premierminister Fürst Konoe im Juli in Moskau Gespräche auf, um die neutrale Sowjetunion zu einer Vermittlungsaktion bei den Westmächten zu bewegen. Die sowjetischen Verhandlungspartner reagierten überaus reserviert und hielten die Japaner hin. In Potsdam kamen die Bemühungen Konoes zur Sprache, und sie blieben nicht ohne Wirkung: Daß die Potsdamer Erklärung von Japan, anders als im Fall Deutschland, nur die bedingungslose Kapitulation der Streitkräfte, nicht aber die des Staates forderte und den Japanern für die Zukunft politische Selbstbestimmung, den Zugang zu Rohstoffen und die Teilnahme am Welthandel in Aussicht stellte, war durchaus als Signal an jene Kräfte in Tokio zu sehen, die einen raschen Friedensschluß erstrebten.
Die japanische Führung aber war zutiefst gespalten: Die gemäßigten Kräfte um Außenminister Togo sahen in der Potsdamer Erklärung positive Ansatzpunkte, hielten aber eine Klärung der Frage für notwendig, wie die Alliierten zur künftigen Stellung von Kaiser Hirohito standen. Die radikalen Militaristen um Armeeminister Anami und General Umezu, den Stabschef der Armee, betrachteten die Annahme des Ultimatums als unvereinbar mit der Ehre Japans. Am Ende ausführlicher Erörterungen im Obersten Kriegsrat empfahl Togo am 28. Juli, zunächst die sowjetische Antwort auf die Mission Konoes abzuwarten. In einer anschließenden Pressekonferenz erklärte Premierminister Suzuki, man habe sich für ein «mokusatsu» entschieden, was schwer zu übersetzen war, aber auf ein «Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen» hinauslief. Armeeminister Anami gab daraufhin die Parole aus, die tags darauf die Schlagzeilen der nationalistischen Presse bestimmte: «Zurückweisung durch Ignorieren». Aus amerikanischer Sicht war das ein klares Nein – und damit ein Zeichen, den Abwurf der ersten Atombombe vorzubereiten.
Als Ort des Luftangriffs bestimmten die Einsatzplaner ein industrielles und militärisches Zentrum, die Hafenstadt Hiroshima. Aus etwa 680 Meter Höhe brachte dort am 6. August 1945 um 8 Uhr 15 die Besatzung des Bombers «Enola Gay» auf Befehl von Präsident Truman den «Little Boy», die erste als Kriegswaffe eingesetzte Atombombe, zur Explosion. Etwa 80.000 der insgesamt 355.000 Einwohner waren sofort tot; 60.000 Menschen starben bis zum Ende des Jahres 1945, weitere 60.000 in der Folgezeit an radioaktiver Verstrahlung. Vier Fünftel der Gebäude von Hiroshima wurden am 6. August zerstört oder schwer beschädigt.
Am 8. August, zwei Tage nach dem Abwurf von «Little Boy», erklärte die Sowjetunion Japan den Krieg. Ein Kapitulationsersuchen Tokios lag den Amerikanern zu diesem Zeitpunkt nicht vor, obwohl Truman tags zuvor für den Fall, daß Japan nicht unverzüglich um Frieden bat, mit Luftschlägen von bisher unbekannter Zerstörungskraft gedroht hatte. Der Grund des Schweigens war die anhaltende Zerstrittenheit der Führung: Der Oberste Kriegsrat konnte nur einstimmige Beschlüsse fassen, und die kamen wegen des Gegensatzes zwischen Moderaten und Radikalen nicht zustande. Infolgedessen ordnete der amerikanische Präsident den Abwurf einer weiteren Atombombe an – der letzten der drei im Rahmen des «Manhattan-Projekts» hergestellten Bomben. «Fatman», so der Name der Bombe, wurde am 9. August um 11 Uhr über der Hafenstadt Nagasaki abgeworfen, und zwar direkt über einer Rüstungsfabrik des Konzerns Mitsubishi. 39.000 der 270.000 Einwohner kamen direkt um, weitere 31.000 starben bis Ende 1945. Der Zerstörungsgrad der Gebäude lag bei 40 Prozent.
Auch nach dem Abwurf der zweiten Atombombe waren die Verfechter der harten Linie in Tokio noch nicht bereit, zu den Bedingungen der Potsdamer Erklärung zu kapitulieren. Am späten Abend des 9. August, kurz vor Mitternacht, schaltete sich Kaiser Hirohito in die Beratungen des Obersten Kriegsrates ein. Als Premierminister Suzuki ihn bat, sich zwischen den Positionen der Gemäßigten und der Radikalen zu entscheiden, stellte sich der Monarch auf die Seite von Außenminister Togo, der für die Annahme des Ultimatums eintrat. Kurz darauf informierte das Außenministerium die Kriegsgegner über die japanische Botschaft in Bern, daß Japan zur Kapitulation bereit sei, sofern die Sieger nichts verlangten, was die Rechte des Kaisers als souveräner Herrscher beeinträchtigen würde.
Auf diese Forderung ließ sich die Regierung der USA nach Konsultationen von Großbritannien, China und der Sowjetunion nur in der Form ein, daß sie versprach, die Entscheidung über die endgültige Staatsform dem freien Willen des japanischen Volkes zu überlassen und Japan nur solange besetzt zu halten, bis die Zwecke der Potsdamer Erklärung erfüllt waren. Am frühen Morgen des 12. August lag die von Außenminister Byrnes unterzeichnete Note in Tokio vor. Am 14. August akzeptierte der Oberste Kriegsrat auf Drängen des Tenno die amerikanische Note. Ein Umsturzversuch rebellierender Truppeneinheiten am Abend desselben Tages schlug fehl. Einige der radikalen Nationalisten unter den Militärs und Politikern begingen Harakiri.
Am 15. August informierte Hirohito in einer Rundfunkansprache die Japaner über die Annahme der Note, ohne die Worte «Niederlage», «Übergabe» oder «Kapitulation» zu benutzen. Er verurteilte den Abwurf von Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, erklärte aber auch unzweideutig, daß eine Fortführung des Kampfes den endgültigen Zusammenbruch und die Auslöschung der japanischen Nation bedeuten würde. Tags darauf erließ der Tenno den Befehl zur Feuereinstellung an allen Fronten. Die bedingungslose Kapitulation der japanischen Streitkräfte nahm der Oberbefehlshaber der amerikanischen Truppen, General Douglas MacArthur, am 2. September 1945 kurz nach 9 Uhr morgens in Gegenwart von Vertretern der Sowjetunion, Chinas, Großbritanniens, Australiens, Neuseelands, Kanadas und Frankreichs an Bord des Kriegsschiffs «Missouri», das in der Bucht von Tokio ankerte, entgegen. Auf japanischer Seite unterzeichneten der neue Außenminister Shigemitsu Mamoru und der Generalstabschef des Heeres, General Umezu Yoshijiro, die Urkunde. Damit war der Zweite Weltkrieg auch in Asien zu Ende.
Als der amerikanische Präsident vom Bombenabwurf auf Hiroshima erfuhr, befand er sich auf hoher See – auf der Heimreise von der Potsdamer Konferenz in die Vereinigten Staaten. Er reagierte mit großer Erleichterung, ja Freude auf die Nachricht aus dem Fernen Osten. Die Entscheidung, Atombomben über Japan abzuwerfen, hatte Truman ohne moralische Skrupel getroffen: Aus seiner Sicht war die neue Waffe ein legitimes, ja notwendiges Mittel, um einen furchtbaren Krieg zum frühestmöglichen Zeitpunkt und mit der geringstmöglichen Zahl amerikanischer Opfer zu beenden. Daß durch die Bombenabwürfe eine nicht abzuschätzende Zahl von japanischen Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, getötet werden würde, nahm man in Washington billigend in Kauf. Bei konventionellen Bombenangriffen waren bereits Hunderttausende von Menschen ums Leben gekommen, allein in Tokio am 9./10. März 1945 85.000. Die Gewöhnung an die massenhafte Tötung von Zivilisten durch Bomben hatte auch in den west lichen Demokratien die moralischen Hemmschwellen der Verantwortlichen fortschreitend abgesenkt. Die Atombombe erlaubte eine gewaltige Steigerung der Vernichtungskapazität, und das machte sie strategisch wertvoll. Die Langzeitfolgen radioaktiver Verstrahlung bewegten die Akteure kaum.
Anhaltspunkte dafür, daß Truman und seine engsten Berater sich bei der Entscheidung über den Abwurf von Atombomben über Japan von den verbreiteten rassischen Vorurteilen gegenüber den «Japs» leiten ließen, gibt es nicht. Vermutlich wäre die neue Massenvernichtungswaffe auch im Krieg gegen Deutschland eingesetzt worden, wenn sie früher zur Verfügung gestanden hätte. Es spricht auch nichts für die Annahme, daß der Präsident von der Überlegung beeinflußt war, man müsse zumindest einmal praktischen Gebrauch von der Atombombe machen, um der Welt ein für alle Mal zu zeigen, daß Krieg fortan kein Mittel der Politik mehr sein konnte. Vertreten wurde dieser Gedanke von zwei maßgebenden naturwissenschaftlichen Beratern der Regierung, den Präsidenten des Massachusetts Institute of Technology und der Harvard-Universität, Karl T. Compton und James B. Conant. Würde die Waffe im gegenwärtigen Krieg nicht benutzt, schrieb Compton am 11. Juni 1945 an Kriegsminister Stimson, «so würde der Welt keine angemessene Warnung zuteil im Hinblick auf das, was zu erwarten wäre, wenn erneut ein Krieg ausbrechen sollte» (the world would have no adequate warning as to what was to be expected if war should break out again). Das war eine weit in die Zukunft reichende Erwägung – und vielleicht gerade deswegen jenseits des Horizonts derer, die im Sommer 1945 über den Einsatz von Atombomben zu entscheiden hatten.
Die schärfste wissenschaftliche Kritik am Abwurf der ersten Atombomben hat seit 1965 der Historiker Gar Alperovitz, der Wortführer einer «revisionistischen» Richtung innerhalb der amerikanischen Geschichtswissenschaft, geübt. Seine zentrale These lautet, daß Japan im Sommer 1945 unmittelbar vor dem militärischen Zusammenbruch gestanden habe, weshalb ein Einsatz von Atomwaffen zwecks Verkürzung des Krieges gar nicht erforderlich gewesen wäre. Truman und seinen Beratern sei es denn auch in Wirklichkeit um ein ganz anderes Ziel gegangen: die Einschüchterung der Sowjetunion. Von einer Demonstration nuklearer Stärke in Fernost habe sich die amerikanische Führung positive Auswirkungen auf die sowjetische Politik in Europa versprochen, und schon auf der Potsdamer Konferenz sei Truman, nachdem er über das Experiment von Alamogordo Näheres erfahren habe, Stalin gegenüber sehr viel härter als zuvor aufgetreten.
Tatsächlich hatte sich die Einsicht in die Unvermeidbarkeit der Kapitulation in der japanischen Führung vor dem 6. August 1945 noch keineswegs durchgesetzt. Der Krieg hätte ohne den Abwurf von Atombomben noch sehr viel länger gedauert: In dieser Einschätzung hatten Truman und seine engsten Mitarbeiter recht. Mit Blick auf die Sowjetunion kam Außenminister Byrnes seit dem 21. Juli – dem Tag, an dem Truman und er ausführlich über die Explosion von Alamogordo informiert wurden – zu dem Schluß, daß ihr Eintritt in den Krieg gegen Japan nun nicht mehr nötig sei. Byrnes hoffte zunächst auch, daß die neugewonnene militärische Stärke der Vereinigten Staaten einen positiven Einfluß auf die sowjetische Politik in Europa haben könnte, stand damit aber in der amerikanischen Delegation in Potsdam allein. Truman legte seit dem 21. April keinen Wert mehr darauf, daß die Sowjetunion Japan den Krieg erklärte, unternahm aber nichts, um diesen Schritt zu verhindern. Eine andere politische Wirkung des Ereignisses in der Wüste von New Mexico ist zu vermuten: Die Atombombe dürfte Truman in der Absicht bestärkt haben, die Sowjetunion nicht an der Besetzung Japans zu beteiligen und ihr so die Möglichkeit zu nehmen, den USA dort ähnliche Schwierigkeiten zu bereiten wie in Deutschland.
Was Europa anging, vollzogen die Vereinigten Staaten im Sommer 1945 keine antisowjetische Kehrtwende – auch nicht im Hinblick auf die vor allem von Kriegsminister Stimson befürwortete Zusammenarbeit zwischen den USA und der Sowjetunion bei der Rüstungskontrolle. Von einer Verhärtung der amerikanischen Position gegenüber Moskau auf der Potsdamer Konferenz seit dem 21. Juli konnte keine Rede sein. Vielmehr setzten die Vereinigten Staaten weiterhin auf Kooperation mit der Sowjetunion, wobei sie das Vorhandensein einer sowjetischen Einflußsphäre in Südost- und Ostmitteleuropa faktisch akzeptierten. Die Atombombe war eine militärtechnologische Revolution, die die politischen Gewichte im westlichen Lager, im Verhältnis zur Sowjetunion und damit im globalen Maßstab zugunsten Amerikas verschob. Eine «atomare Diplomatie» im Sinne von Alperovitz aber betrieben die Vereinigten Staaten 1945 nicht. Der Kalte Krieg begann erst später.
Der Eintritt der Sowjetunion in den Krieg gegen Japan am 8. August 1945 war zwar spät, gewissermaßen in letzter Sekunde, erfolgt, aber dieser Schritt war doch sehr viel mehr als ein symbolischer Akt. Die Rote Armee stieß unmittelbar nach der Kriegserklärung in die Mandschurei vor und entsandte Truppen in den Nordteil Koreas sowie auf die Kurilen und nach Sachalin, die beide dem sowjetischen Staatsgebiet einverleibt wurden. (Im Fall der vier südlichsten Kurilen, die nicht zu den 1875 vom Zarenreich an Japan abgetretenen Inseln gehörten, bedeutete das die Annexion von japanisch besiedeltem Territorium, gefolgt von der Vertreibung der dort lebenden Bevölkerung.) In Korea dauerten die Kämpfe noch bis zum 20. April an. Die Kapitulation der japanischen Truppen nahm, einer Absprache mit den USA gemäß, nördlich des 38. Breitengrades die sowjetische, südlich davon die amerikanische Seite entgegen. Damit wurde eine Demarkationslinie ins Leben gerufen, die sich bald als äußerst konfliktträchtig erweisen sollte.
In China erfolgte die Kapitulation der japanischen Truppen gegenüber Marschall Tschiang Kai-schek am 9. September. Knapp acht Wochen zuvor, am 14. August, hatte die Sowjetunion mit Chiang einen Freundschafts- und Bündnisvertrag abgeschlossen, in dem sie sich die von den Westmächten in Jalta zugestandenen Rechte in bezug auf die Mandschurei, eine Marinebasis in Port Arthur (Lüshun) nebst weiteren Privilegien auf der Halbinsel Laodong bestätigen ließ und die Anerkennung der Unabhängigkeit der Äußeren Mongolei durch die nationalchinesische Regierung. Innenpolitisch bedeutete der Vertrag eine Stärkung der Kuomintang, der Partei Chiangs, im Machtkampf mit den chinesischen Kommunisten unter Mao Zedong, was dieser nur als Affront empfinden konnte.
Mao hatte in den Jahren zuvor im Norden Chinas einen zähen Guerillakrieg gegen die Japaner geführt. Im August 1945 beteiligte er sich mit seinen Truppen an der sowjetischen Invasion in Nordchina. Auf sowjetisches Drängen und amerikanische Vermittlung hin führte Mao ab Ende August in Tschungking, dem provisorischen Sitz der nationalchinesischen Regierung, Verhandlungen mit Tschiang Kai-schek. Sie mündeten am 10. Oktober in eine gemeinsame Erklärung, in der beide Seiten ihre Bereitschaft zu friedlicher Zusammenarbeit zu Protokoll gaben. Das Kommuniqué sollte ein Stück Papier bleiben. Es führte ebensowenig zu einer Verständigung zwischen den gegnerischen Lagern wie eine weitere, von den Amerikanern mehr oder minder erzwungene Übereinkunft vom 25. Februar 1946 über Truppenstärken und Truppenverteilung. Im April brachen heftige Kämpfe zwischen Nationalisten und Kommunisten aus; im Frühjahr 1947 begann der offene Bürgerkrieg. Er endete zwei Jahre später mit dem Sieg der Kommunisten und der Vertreibung der Kuomintang vom chinesischen Festland nach Taiwan.
In vielen von Japan besetzten Kolonien europäischer Mächte gab es nach der Kapitulation des Kaiserreiches Versuche, eine Rückkehr der früheren Herrschaftsverhältnisse zu verhindern. In Java, einem Teil von Niederländisch-Indien, riefen zwei Führer der Unabhängigkeitsbewegung, Achmed Sukarno und Mohammed Hatta, unter dem Druck der nationalistischen Jugendbewegung Pemuda am 17. August 1945 die Republik Indonesien aus. Die Streitkräfte Sukarnos und Hattas konnten außer Java auch Sumatra und die südlich von Sumatra gelegene Insel Madura unter ihre Kontrolle bringen und hätten wohl auf der ganzen Linie triumphiert, wenn ihnen nicht britisch-indische Truppen, unterstützt von Verbänden japanischer Soldaten, die zu diesem Zweck aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden waren, massiv entgegengetreten wären. Im Oktober 1946 lösten niederländische Truppen die britischen ab. Dem Versuch der Kolonialmacht, mit der Republik zu einer Verständigung zu kommen, war nur ein kurzfristiger Erfolg beschieden. Nach mehreren blutigen «Polizeiaktionen» in den Jahren 1947 bis 1949 mußte sich die Regierung in Den Haag dem Druck der Weltöffentlichkeit und vor allem der USA beugen und im Dezember 1949 Indonesien in die Unabhängigkeit entlassen.
Unter den von Japanern besetzten französischen Kolonien war Vietnam diejenige, wo die Nachricht von der Kapitulation des Kaiserreiches die stärksten Demonstrationen für die Unabhängigkeit auslöste. Am 28. Oktober 1945 dankte der von den Japanern im März wieder eingesetzte Kaiser Bao Dai ab; am 2. September rief der Führer der Kommunisten, Ho Chi Minh, in Hanoi die Demokratische Republik Vietnam aus. Der japanischen Okkupation folgte im Norden zunächst eine Besetzung durch nationalchinesische, im Süden durch britisch-indische Truppen, die sich wie in Niederländisch-Indien auf Einheiten aus ehemaligen japanischen Kriegsgefangenen stützen konnten. Im September kam es zu ersten Zusammenstößen der Viet Minh, der Streitkräfte von Ho Chi Minh, mit französischen Soldaten, die die Briten aus japanischer Kriegsgefangenschaft befreit hatten. Im Oktober trafen 35.000 Mann französischer Kolonialtruppen unter General Leclerc, dem Befreier von Paris, im Süden Vietnams ein. Rund ein Jahr später begann, nachdem alle Versuche Ho Chi Minhs, mit Frankreich zu einem Ausgleich zu gelangen, gescheitert waren, der erste Indochinakrieg.
Wie die Niederländer und die Franzosen sahen sich auch die Briten nach der Kapitulation Japans in vielen ihrer südostasiatischen Kolonien mit Kräften konfrontiert, die auf die Unabhängigkeit drängten. Starke antikoloniale Bewegungen gab es in Singapur, Malaya und vor allem in Birma, wo der Versuch, die Kolonialherrschaft wiederherzustellen, den hartnäckigsten Widerstand hervorrief. Die japanische Fremdherrschaft hatte in Birma wie in anderen besetzten Ländern die Kräfte gestärkt, die jede Art von kolonialer Bevormundung ablehnten: Wenn es eine positive Wirkung des japanischen Imperialismus gab, dann war es diese.
Den Vereinigten Staaten fiel es am leichtesten, den veränderten Verhältnissen Rechnung zu tragen: Sie hatten ihrer Quasikolonie, dem «Commonwealth» der Philippinen, 1935 die staatliche Unabhängigkeit für 1945 versprochen. Im Juli 1946 lösten sie diese Zusage mit kriegsbedingter Verzögerung ein, wobei sie sich eine Reihe von handelspolitischen Privilegien und einige militärische Stützpunkte sicherten. Die europäischen Kolonialmächte brauchten mehr Zeit, um zu begreifen, daß der Zweite Weltkrieg die Grundlagen ihrer Herrschaft in Asien nachhaltig untergraben hatte. Je später sie zu dieser Einsicht kamen, desto kostspieliger und blutiger sollte der Abschied von ihren Illusionen werden.[29]
Schuld und Sühne: Die Zäsur von 1945 (I)
Die Zahl der Menschen, die weltweit unmittelbar oder mittelbar durch den Zweiten Weltkrieg ums Leben kamen, wird auf bis zu 60 Millionen geschätzt. Darunter waren mehr Zivilisten als Soldaten, wobei die Angaben über die Zahl der Ziviltoten weit auseinandergehen. Zu den Ziviltoten gehörten die von den Nationalsozialisten ermordeten Juden, Polen, Russen, Weißrussen, Ukrainer, Sinti und Roma, die zivilen Opfer der Bürgerkriege in Jugoslawien und Griechenland, von Geiselerschießungen, Deportationen, Vertreibungen und Bombenkrieg, aber auch die Millionen von Hungertoten, die in vielen Statistiken gar nicht auftauchen.
Die Zahl der gefallenen oder in Kriegsgefangenschaft gestorbenen Soldaten lag bei mindestens 27 Millionen und war damit mehr als dreimal so hoch wie die Zahl der getöteten Kombattanten des Ersten Weltkriegs, die auf 8,5 Millionen geschätzt wird. Die größten Opferzahlen hatten die Sowjetunion und China mit 27 beziehungsweise 13,5 Millionen zu beklagen. Es folgten Deutschland mit 6,35, Indien mit über 3 und Japan mit über 2 Millionen Toten, gefallene Soldaten und umgekommene Zivilisten jeweils zusammengerechnet.
Von «reinen» Bürgerkriegen abgesehen, wurden seit dem Dreißigjährigen Krieg in keinem europäischen Krieg die Grenzen zwischen Kombattanten und Zivilisten so sehr zum Verschwinden gebracht wie im Zweiten Weltkrieg. Auch wenn dieser Krieg keineswegs überall ein «totaler» war, so war er doch weit totaler als der Erste Weltkrieg. Das Gebot der Haager Landkriegsordnung von 1907, Angriffe nur auf militärische Ziele zu richten und die Zivilbevölkerung soweit wie möglich zu schonen, wurde nicht nur von den diktatorisch regierten Angreiferstaaten, sondern zunehmend auch von den westlichen Demokratien mißachtet. Das «moral bombing» der Alliierten diente erklärtermaßen dem Zweck, den Durchhaltewillen der Zivilbevölkerung zu brechen und so den Aggressorstaaten den Massenrückhalt zu nehmen.
Die Flächenbombardements auf deutsche und japanische Städte waren aber nicht der einzige Bereich, in dem die demokratischen Westmächte sich den brutalen Kampfmethoden der Feinde annäherten. Auch zu den von den Westmächten sanktionierten Massenvertreibungen wäre es 1945 nicht gekommen, hätte Deutschland in dem von ihm beherrschten Europa nicht mörderische «ethnische Säuberungen» in großem Stil vorgenommen. In den Worten der Historiker Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffel: «Die Vernichtung der deutschen Armeen sowie die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße und aus Böhmen lag in der Konsequenz der deutschen Eroberung und Besatzung.»
Weder die Flächenbombardements noch die Vertreibungen waren im zeitgenössischen Verständnis Kriegsverbrechen: Bei den alliierten Bombenangriffen handelte es sich aus der Sicht der Verantwortlichen um eine angemessene Reaktion auf die deutsche beziehungsweise japanische Aggression; bei den Zwangsmigrationen verwiesen die Westmächte auf vertraglich vereinbarte Vorbilder aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und besonders auf den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch auf der Grundlage des Vertrags von Lausanne von 1922.
Kriegsverbrechen waren im übrigen weder ein Novum des Zweiten Weltkriegs, noch gab es sie nur auf der Seite der Diktaturen, die ihn ausgelöst hatten und auf deren Konto die meisten Kriegsgreuel gingen. Die Liste der sowjetischen Kriegsverbrechen war ebenfalls lang, und sie begann nicht erst mit der Ermordung Tausender polnischer Offiziere bei Katyn im Frühjahr 1940. Auf der Seite der Westalliierten war die Bindung an das Völkerrecht stärker als bei ihrem kommunistischen Verbündeten, aber auch hier wurden Taten verübt, die unter den Begriff «Kriegsverbrechen» fallen. Im Frühjahr 1945 kam es in der ersten Phase der Besetzung auch im Westen Deutschlands zu Plünderungen, Vergewaltigungen und Gewaltexzessen alliierter Soldaten. Den alliierten Kriegsverbrechen zuzurechnen war auch die unmenschliche Behandlung von mehreren Hunderttausend kriegsgefangenen deutschen Soldaten in etwa 20 «Lagern» auf Wiesen am linken Rheinufer, wo die «Behausungen» aus selbstgegrabenen Erdlöchern unter freiem Himmel bestanden und mindestens 8000 der Insassen umkamen.
1945 erschien der Begriff «Kriegsverbrechen» vielen Rechtsgelehrten und Politikern der westlichen Demokratien zu schwach, um das, was das nationalsozialistische Deutschland und seine Verbündeten der Menschheit angetan hatten, angemessen zum Ausdruck zu bringen. Drei Jahrzehnte zuvor, am 14. Mai 1915, hatten Großbritannien, Frankreich und das russische Zarenreich in einer gemeinsamen Protestnote das Osmanische Reich angesichts der Massaker an den Armeniern eines «Verbrechens gegen die Menschlichkeit und die Zivilisation» beschuldigt. Auf diesen Begriff kamen die Siegermächte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurück. Am 8. August 1945 nahmen die Vertreter der «Großen Drei» und Frankreichs, entsprechend einer Vereinbarung der Potsdamer Konferenz, das Londoner Abkommen an, wonach sich die Strafgewalt des zu errichtenden Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg auf Verbrechen gegen den Frieden im Sinne der Planung, Vorbereitung, Entfesselung oder Durchführung eines Angriffskrieges, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erstrecken sollte.
Das Recht, auf dessen Grundlage in Nürnberg (und nach diesem Vorbild kurz darauf auch in Tokio) Urteile ergingen, war neu geschaffenes internationales Recht. An den für alle Rechtsstaaten konstitutiven Grundsatz «nulla poena sine lege» (Keine Strafe ohne Gesetz), das Verbot rückwirkender Strafgesetze, fühlten sich die Völkerrechtsexperten der westlichen Demokratien aus einer nur naturrechtlich zu begründenden Erwägung heraus im konkreten Fall nicht gebunden: Die Strafbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen ergab sich schon daraus, daß sie den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen fundamental widersprachen. Die Verwerflichkeit der Taten, über die es in Nürnberg zu urteilen galt, war mit anderen Worten so groß, daß das Rechtsgefühl ungleich stärker verletzt worden wäre, wenn diese Verbrechen keine Sühne gefunden hätten. Aus ebendiesem Grund nahmen die Westmächte auch einen anderen Makel des Verfahrens in Kauf: Eine der richtenden Siegermächte, die Sowjetunion, hatte selbst Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in großem Umfang begangen und sorgte nun dafür, daß diese Taten in Nürnberg nicht zur Sprache kamen.
Am 1. Oktober 1946 erging nach fast elfmonatiger Prozeßdauer das Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher. Zwölf der höchsten Funktionsträger des «Dritten Reiches», darunter Göring, Ribbentrop, Frick, Rosenberg, Keitel und Jodl, wurden zum Tode durch den Strang, andere, wie Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß und Rüstungsminister Albert Speer, zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Göring konnte sich, wie schon erwähnt, der Vollstreckung des Urteils am 16. Oktober durch Selbstmord entziehen. Der ehemalige Vizekanzler Franz von Papen und der frühere Reichsbankpräsident und Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht, die Hitler den Weg in die Reichskanzlei geebnet, aber keine Verbrechen im Sinn der Anklage begangen hatten, wurden freigesprochen.
Dem Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher schlossen sich Verfahren gegen Ärzte, Juristen, prominente Industrielle und Konzerne, darunter Flick, Krupp und die IG Farben, Angehörige des Auswärtigen Amtes, des Oberkommandos der Wehrmacht und einzelne militärische und SS-Führer an. (Ebenso wie das Führungskorps der NSDAP, die Gestapo und der SD war die SS zuvor zur «verbrecherischen Organisation» erklärt worden.) In diesen Prozessen ergingen nochmals 36 Todesurteile. Die Gesamtzahl der von den ehemaligen Kriegsgegnern wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Verurteilten wird auf 50.000 bis 60.000 geschätzt. Von den in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands verurteilten Personen wurde etwa ein Drittel zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. In den Westzonen wurde, die Nürnberger Prozesse eingerechnet, in 806 Fällen die Todesstrafe verhängt und in 486 Fällen vollstreckt. Die Zahl der in der sowjetischen Besatzungszone ausgesprochenen und vollstreckten Todesurteile ist nicht bekannt.
Die in Potsdam beschlossene «Entnazifizierung» des Millionenheeres von Mitgliedern nationalsozialistischer Organisationen verlief von Besatzungszone zu Besatzungszone verschieden, aber überall mehr oder weniger schematisch. Am rigorosesten und willkürlichsten ging die Sowjetunion vor. Die verhafteten Nationalsozialisten kamen, soweit sie nicht in die Sowjetunion deportiert wurden, zusammen mit mißliebigen bürgerlichen Demokraten und Sozialdemokraten, ja sogar oppositionellen Kommunisten in «Speziallager». Von den mehr als 120.000 Gefangenen dieser Lager, die bis 1950 bestanden, sollen 42.000 ums Leben gekommen sein. Eines der Lager war das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald. Als Thomas Mann am 1. August 1949 im Deutschen Nationaltheater zu Weimar die Festrede zu Goethes 200. Geburtstag hielt, weigerte er sich zur Enttäuschung vieler seiner Bewunderer, auf diese Kontinuität des Terrors einzugehen.
Das Pendant zur Repression war die Privilegierung. Verwaltung, Polizei und Schulen wurden durchgreifend «gesäubert» und zuverlässige Kommunisten, wo immer möglich, in die wichtigsten Schaltstellen geschleust. Kurzfristig ausgebildete «Volksrichter» und «Neulehrer» ersetzten ihre politisch belasteten Vorgänger. Gesichtspunkte wie Professionalität und Effizienz spielten bei diesem Personenwechsel keine Rolle: Entnazifizierung und kommunistische Kaderpolitik gingen nahtlos ineinander über.
Den Gegenpol zur sowjetischen Besatzungszone bildete die französische Zone. Frankreich verhielt sich gegenüber ehemaligen nationalsozialistischen Beamten vergleichsweise großzügig: Die Vergangenheit der «Parteigenossen» wurde von Anfang an als Druckmittel benutzt, um die Betroffenen zur Loyalität zu zwingen. Entlassungen aus dem Amt, Verhaftungen und Internierungen gab es freilich auch hier. Sie bildeten in allen vier Besatzungszonen die erste Phase der Entnazifizierung, die bis in das Jahr 1946 hinein fortdauerte. Die zweite Phase, die in der amerikanischen Zone im März 1946, in der britischen und französischen Zone ein halbes Jahr später begann, stand im Zeichen gerichtsähnlicher Verfahren vor «Spruchkammern». Sie teilten die Deutschen, deren «Fragebogen» zu einem Verfahren Anlaß gaben, in fünf Gruppen ein: Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete. Am strengsten verfuhren dabei die Amerikaner: Sie stuften nur eine winzige Minderheit als «entlastet» ein und belegten «Mitläufer» zunächst mit einem Berufsverbot. Die Briten verzichteten auf eine solche Maßnahme und erklärten mehr als die Hälfte der Überprüften für «entlastet».
Je mehr sich seit 1947 der Gegensatz zwischen Ost und West zuspitzte, desto toleranter wurden auch die Amerikaner gegenüber ehemaligen Nationalsozialisten. Hitler war jahrelang ein nationaler Heros, seine Partei eine Massenbewegung gewesen. Strenge gegenüber seinen früheren Gefolgsleuten drohte ein Reservoir von sozialer Unzufriedenheit und politischem Radikalismus zu schaffen. Von Nachsicht, gekoppelt mit «re-education», also politischer Umerziehung, waren bessere Ergebnisse zu erwarten: eine rasche Eingewöhnung in die Demokratie und Widerstandskraft gegenüber extremen Parolen von rechts und links. Die Entnazifizierung erwies sich alles in allem als Fehlschlag. Wer nicht strafrechtlich verurteilt wurde, konnte im Westen Deutschlands nach 1949 meist in seine frühere berufliche Stellung zurückkehren. Nicht nur «Mitläufer» und «Minderbelastete», auch «Belastete» durften nach Ablauf einiger Jahre hoffen, nicht mehr mit ihrer politischen Vergangenheit konfrontiert zu werden.
Gegenüber «kleinen» Nationalsozialisten verfuhr die sowjetische Besatzungsmacht nicht viel anders: Sie durften umlernen und sich in aufrechte «Antifaschisten» verwandeln. Der wichtigste Teil der Entnazifizierung waren aus der Sicht der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland ohnehin nicht individuelle Sanktionen, sondern strukturelle Eingriffe. Darunter war die Brechung der Macht jener Klassen zu verstehen, die nach marxistisch-leninistischer Auffassung dem Faschismus zur Macht verholfen hatten. Diesem Ansatz entsprach die «Bodenreform» vom September 1945, die dem ostelbischen Junkertum im Wortsinn den Boden entzog. Rund 7000 Großgrundbesitzer wurden entschädigungslos enteignet, um, so die Kampfparole, «Junkerland in Bauernhand» gelangen zu lassen. Unter den 500.000 Menschen, die auf diese Weise Grundbesitz zugeteilt erhielten, waren auch 83.000 «Umsiedler», also Heimatvertriebene aus den Ostgebieten.
Die Enteignung traf keineswegs nur ehemalige Förderer des Nationalsozialismus, sondern auch Gegner desselben. Spezifisch kommunistisch war der radikale Eingriff dennoch nicht. Eine Änderung der Eigentumsverhältnisse in der ostelbischen Gutswirtschaft zugunsten kleinerer und mittlerer Bauern hatten bürgerliche Agrarreformer seit vielen Jahrzehnten gefordert, dabei allerdings nicht an eine entschädigungslose Enteignung gedacht. Der Popularität der «Bodenreform» tat das kaum Abbruch: Bis weit in das Bürgertum hinein galt die Umverteilung des Rittergutsbesitzes als gerechtfertigt, ja überfällig.
Von der wenig später, im Oktober 1945, eingeleiteten «Industriereform» läßt sich das nicht sagen. Von ihr waren keineswegs nur «Kriegsverbrecher» und «Nazis» betroffen, sondern das Großunternehmertum schlechthin. Bis zum Frühjahr 1948 wurden fast 10.000 Unternehmen ohne Entschädigung in Staatsbesitz überführt – mit der Folge, daß zu diesem Zeitpunkt bereits 40 Prozent der Industrieproduktion auf den öffentlichen Sektor entfielen. Dazu kamen noch die von der Besatzungsmacht in eigener Regie betriebenen Sowjetischen Aktiengesellschaften der Schwerindustrie. Banken und Sparkassen waren noch früher, im Juli 1945, verstaatlicht worden. Am Ziel der Besatzungsmacht konnte es seit Herbst jenes Jahres keinen Zweifel mehr geben: Die kapitalistische Gesellschaftsordnung sollte systematisch beseitigt und durch eine sozialistische abgelöst werden.
In den Westzonen hielten sich die gesellschaftlichen Eingriffe der Besatzungsmächte in vergleichsweise engen Grenzen. Anläufe zu einer Bodenreform führten nirgendwo zum Ziel. Im industriellen Bereich wurden einige, durch ihre Rolle unter dem nationalsozialistischen Regime besonders belastete Großunternehmen und Großbanken – die IG Farben, die Eisen- und Stahlindustrie der britischen Zone, die Commerz-, die Dresdner und die Deutsche Bank – beschlagnahmt und Treuhändern unterstellt. Aus den zwölf größten Montangesellschaften machte die britische Besatzungsmacht, nachdem sie im Dezember 1945 zunächst die entschädigungslose Enteignung verfügt hatte, 28 voneinander unabhängige Unternehmungen. Eine Sozialisierung von Großbetrieben, wie sie vor allem Sozialdemokraten und Gewerkschaften forderten, fand zwar bei der seit Juli 1945 in London regierenden Labour Party, nicht jedoch beim amerikanischen Militärgouverneur, General Lucius D. Clay, Beifall. Clay setzte sich durch. Die Frage der Sozialisierung wurde mit der Begründung vertagt, sie sei so wichtig, daß sie nicht in einem einzelnen Land oder einer einzelnen Besatzungszone, sondern nur von einem späteren deutschen Gesetzgeber entschieden werden könne.
Der Einschnitt, den das Jahr 1945 in der deutschen Sozialgeschichte hinterlassen hat, läßt sich erst dann ermessen, wenn man zum Vergleich die Situation Deutschlands am Ende des Ersten Weltkriegs heranzieht. Damals gab es in Berlin in Gestalt des Rates der Volksbeauftragten eine deutsche Regierung, deren Legitimität von den Alliierten nicht in Frage gestellt wurde; das Reich wurde nicht besetzt; keine der alten Machteliten mußte als ganze abtreten. Der ostelbische Rittergutsbesitz verlor zwar vorübergehend an politischem Einfluß, konnte aber die gesellschaftlichen Grundlagen seiner Macht behaupten. Der Schwerindustrie gelang es, der Sozialisierungsbewegung zu trotzen. Das Beamtentum wurde durch die Revolution von 1918/19 nicht wesentlich, die Justiz überhaupt nicht erschüttert. Das Militär mußte den Beschränkungen Rechnung tragen, die ihm der Versailler Vertrag auferlegte, blieb aber in der Weimarer Republik das, was es im Kaiserreich gewesen war: ein «Staat im Staat» und darüber hinaus ein innenpolitischer Machtfaktor, der im Fall des Ausnahmezustands zum Träger der vollziehenden Gewalt aufsteigen konnte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es, den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens entsprechend, zunächst keine deutsche Staatlichkeit und kein deutsches Militär. Der ostelbische Rittergutsbesitz existierte seit der «Bodenreform» nicht mehr; den einst von ihm geprägten Staat Preußen löste der Alliierte Kontrollrat am 25. April 1947 durch sein Gesetz Nr. 46 mit der pauschalen Begründung auf, dieser sei «seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland» gewesen und habe in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört. Die Schwerindustrie wurde im Osten enteignet, im Westen zunächst von den Besatzungsmächten entflochten und später, nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland, der paritätischen Mitbestimmung der Arbeitnehmer unterworfen. Damit konnte keine dieser Machteliten, die in ihrer Mehrheit vor 1933 entschiedene Widersacher der Demokratie gewesen waren, nach 1945 dieselbe oder eine ähnliche Rolle spielen wie in der Weimarer Republik.
Viel stärker war die Kontinuität, was die Westzonen betrifft, im öffentlichen Dienst. Amerikanischen und britischen Versuchen, das deutsche Berufsbeamtentum abzuschaffen und durch einen «civil service» angelsächsischer Prägung zu ersetzen, war kein Erfolg beschieden. Kein Richter, der an Terrorurteilen des «Dritten Reiches» mitgewirkt hatte, wurde deswegen seinerseits verurteilt. Manche Hochschullehrer, die sich zwischen 1933 und 1945 besonders kompromittiert hatten, darunter Martin Heidegger und Carl Schmitt, verloren ihre Lehrstühle. Viele, die im Rückblick kaum weniger belastet erscheinen, konnten nach einer unfreiwilligen Unterbrechung dort weitermachen, wo sie 1945 aufgehört hatten. Die politische Überprüfung des Beamtentums wirkte so disziplinierend, wie die Erfahrung des «Zusammenbruchs» ernüchternd gewirkt hatte. Offene Demokratiefeindschaft war fortan diskreditiert: Das galt für das Beamtentum ebenso wie für die Justiz.
Eine «Stunde Null» hat es nach dem Untergang des «Dritten Reiches» nicht gegeben, und doch trifft dieser Begriff das Empfinden der Zeitgenossen auf das genaueste. Nie war die Zukunft in Deutschland so wenig vorhersehbar, nie das Chaos so allgegenwärtig wie im Frühjahr und Frühsommer 1945. Das Ende aller Sicherheit prägte sich tief in das Gedächtnis derer ein, die es, wenn auch auf unterschiedliche Weise, das heißt in der sowjetischen Besatzungszone sehr viel brutaler als in den westlichen Zonen, erlebten. Die «Zusammenbruchsgesellschaft» war in allen vier Besatzungszonen hoch mobil: Hungrige Stadtbewohner unternahmen «Hamsterfahrten» aufs Land, wo sie sich auf dem Weg des Gütertausches mit den notwendigen Lebensmitteln versorgten; viele ehedem «Bessersituierte», die nun ohne Gehälter, Pensionen oder sonstige regelmäßige Einkünfte waren, mußten zeitweilig primitive Arbeiten verrichten. Die «Trümmerfrauen», die den Ruinenschutt beseitigten und Ziegelsteine sowie anderes verwertbares Baumaterial retteten, wurden zur Verkörperung eines radikalen Tausches der Geschlechterrollen.
In den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft war der Anspruch der traditionellen Oberschicht auf ein höheres Sozialprestige im Zeichen der «Volksgemeinschaft» systematisch bekämpft, die «Realstruktur» der deutschen Gesellschaft aber nicht revolutioniert worden. Im Zuge von Bombenkrieg, Vertreibung und «Zusammenbruch» veränderte sich die deutsche Gesellschaft weitaus stärker als in den ersten zehn Jahren des «Dritten Reiches». Aber Dauer war den meisten der Veränderungen von 1945 nicht beschieden. Die «Zusammenbruchsgesellschaft» war eine Gesellschaft im Ausnahmezustand. Sie brachte keine neue Ordnung hervor, sondern die tiefe Sehnsucht, so rasch wie möglich zu irgendeiner Art von «Normalität» zurückzukehren.
Tiefer als die soziale reichte die moralische Erschütterung der Deutschen, und sie sollte, immer wiederkehrenden apologetischen Anwandlungen zum Trotz, eine nachhaltige Wirkung zeitigen. Anders als nach 1918 hatten Kriegsunschuld- und Dolchstoßlegenden nach 1945 keine Aussicht, den Beifall der Eliten und der breiten Masse zu finden: Zu offenkundig war, daß der Mann an der Spitze des Reiches den Zweiten Weltkrieg entfesselt hatte und die Hauptverantwortung für seine Ergebnisse trug. Die Trümmer der Städte, die Not der Ausgebombten und Evakuierten, das Elend der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen, schließlich auch die Verbreitung genaueren Wissens über die Konzentrationslager und die Ermordung der Juden: Das alles sprach gegen Hitler und gegen jeden Rückfall in den Nationalsozialismus. Hitler, die oberste Parteiführung und die SS für die Alleinschuldigen der Verbrechen zu erklären, der Wehrmacht und der Masse der Deutschen hingegen zu bescheinigen, sie seien «anständig» geblieben, blieb freilich noch lange populär. Es war eines, sich vom «Führer» und seinen fanatischen Helfern abzusetzen. Ein anderes war die Einsicht in die deutschen Traditionen, an die der Nationalsozialismus angeknüpft hatte, und in die eigene Verantwortung für das, was seit 1933 in und durch Deutschland geschehen war.
Der Philosoph Karl Jaspers, den das nationalsozialistische Regime 1937/38 mit einem Veröffentlichungsverbot belegt hatte, löste 1946 mit seiner Schrift «Die Schuldfrage», ursprünglich einer Heidelberger Vorlesung im Wintersemester 1945/46, neben zustimmenden Kommentaren auch eine Welle abwehrender Reaktionen aus. Jaspers sprach von einer «moralischen Kollektivschuld» im Sinne einer Haftung der Deutschen für die politischen Zustände während der Jahre 1933 bis 1945. «Daß in den geistigen Bedingungen des deutschen Lebens die Möglichkeit gegeben war für ein solches Regime, dafür tragen wir alle die Schuld.» Der Begriff «Kollektivschuld» genügte vielen, um Jaspers Willfährigkeit gegenüber den Alliierten vorzuwerfen. Daß der Autor eine deutsche Alleinschuld am Nationalsozialismus bestritt und das Ausland für den Erfolg Hitlers verantwortlich machte, daß er, die kurz zuvor erschienene Schrift «Die deutsche Frage» des emigrierten Wirtschaftswissenschaftlers Wilhelm Röpke zitierend, von den Deutschen als Hitlers «ersten Opfern» sprach und vom deutschen Antisemitismus sogar behauptete, er sei «in keinem Augenblick eine Volksaktion» gewesen, minderte nicht den Zorn derer, die sich über Jaspers empörten.
Ein ähnlich gespaltenes Echo wie Jaspers› Schrift zur «Schuldfrage» fand ein Manifest, das radikal mit dem nationalistischen Erbe des deutschen Protestantismus brach: das «Stuttgarter Schuldbekenntnis» des Vorläufigen Rates der evangelischen Kirche in Deutschland vom Oktober 1945. Daß die wesentlich auf Betreiben des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm und des Kirchenpräsidenten von Hessen-Nassau, des ehemaligen KZ-Häftlings Martin Niemöller, verabschiedete Erklärung von einer «Solidarität der Schuld» zwischen Kirche und Volk sprach, stieß auch innerhalb der Kirche auf verbreiteten Widerspruch. Als unangebrachte Bestätigung der (angeblichen) alliierten These von einer deutschen «Kollektivschuld» galt vor allem der Satz: «Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.» Und viel zu weit ging konservativen Protestanten die Selbstanklage, «daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben». Doch es waren ebendiese Worte, die sich der kollektiven Erinnerung der evangelischen Deutschen einprägten und entscheidend dazu beitrugen, daß die protestantischen Kirchen außerhalb Deutschlands einen Ansatz fanden für ihr Bemühen, dem Ursprungsland der Reformation im Geist der Versöhnung gegenüberzutreten.
Vom größten und schrecklichsten Verbrechen des Nationalsozialismus, der Ermordung der europäischen Juden, war im «Stuttgarter Schuldbekenntnis» nicht ausdrücklich die Rede, und es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis die Deutschen dem Holocaust die zentrale Bedeutung zuerkannten, die ihm zukommt. Der Genozid an den Juden war das, was der Historiker Dan Diner einen «Zivilisationsbruch» genannt hat: «Das Ereignis Auschwitz rührt an Schichten zivilisatorischer Gewißheit, die zu den Grundvoraussetzungen zwischenmenschlichen Verhaltens gehören. Die bürokratisch organisierte und industriell durchgeführte Massenvernichtung bedeutet so etwas wie die Widerlegung einer Zivilisation, deren Denken und Handeln einer Rationalität folgt, die ein Mindestmaß antizipatorischen Vertrauens voraussetzt; ein utilitaristisch geprägtes Vertrauen, das eine gleichsam grundlose Massentötung, gar noch in Gestalt rationaler Organisation, schon aus Gründen von Interessenkalkül und Selbsterhaltung der Täter ausschließt. Ein sozial gewachsenes Vertrauen in Leben und Überleben bedingende gesellschaftliche Regelhaftigkeit wurden ins Gegenteil verkehrt: Regelhaft war die Massenvernichtung – Überleben hingegen dem bloßen Zufall geschuldet.»
Die Ermordung der europäischen Juden war der Zivilisationsbruch, den die Nationalsozialisten am systematischsten und konsequentesten betrieben. Es begann mit massenhaften Erschießungen und endete mit den Massenvergasungen. Parallel zum Holocaust fanden andere deutsche Massenmorde statt, die, sofern man das Moment der «industriellen» Tötung nicht so stark betont wie Diner, ebenfalls als «Zivilisationsbrüche» einzustufen sind: Neben der von Hitler befohlenen Ermordung von Geisteskranken die Ausrottung eines großen Teils der polnischen Eliten und die faktische Verurteilung von Millionen Weißrussen, Ukrainern, Russen und Angehörigen anderer Völker der Sowjetunion zum Hungertod. Die Zahl der Opfer unter der sowjetischen Zivilbevölkerung wird auf 15 Millionen geschätzt. In der Sowjetunion kam nach den Berechnungen des amerikanischen Historikers Timothy Snyder jeder fünfundzwanzigste Bewohner durch deutsche Hand um, in der Ukraine und in Polen jeder zehnte, in Weißrußland jeder fünfte. Zeitgleich mit den Juden wurden Hunderttausende von Sinti und Roma ermordet: ein Genozid, den die Nationalsozialisten zwar nicht so systematisch betrieben wie den Judenmord, aber nicht minder industriell als diesen.
Zivilisationsbrüche aus der Zeit vor 1939 waren der türkische Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg und die stalinistischen Kollektivmorde wie die an den Kulaken und, während des großen Hungers von 1932/33, des Holodomor, an den Bauern der Ukraine. In dieselbe Kategorie fiel die von Stalin angeordnete Verurteilung großer Teile von als national unzuverlässig geltenden nichtrussischen Nationalitäten während des Zweiten Weltkrieges. Gemeinsam war diesen Aktionen, ob sie unter den Begriff des Völkermords im Sinne der Konvention der Vereinten Nationen über Verhütung und Bestrafung des Völkermords von 1948 fallen oder nicht, daß sie, wie Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffel in Anlehnung an den Soziologen Zygmunt Bauman formulieren, einer «Utopie der Eindeutigkeit» folgten: der Vorstellung einer rassischen, ethnischen, nationalen oder klassenmäßigen Homogenität, in deren Namen es alles zu liquidieren galt, was dieser Vorstellung widersprach. Auf ein weiteres, mit dem Postulat der «Eindeutigkeit» zusammenhängendes Merkmal, das die von totalitären Regimen in Gang gesetzten, «modernen» Massenmorde von älteren unterscheidet, verweist Bauman: «Der moderne Massenmord ist charakteristisch durch den vollkommenen Mangel an Spontanität einerseits und das Vorherrschen rationaler, kalt berechnender Planung andererseits.»
Was den deutschen Völkermord an den europäischen Juden von anderen Genoziden unterschied, waren aber nicht nur die bürokratische Routine und die technische Perfektion, mit der die Opfer, Frauen ebenso wie Männer, Greise ebenso wie Kinder, erfaßt, transportiert und in den Mordfabriken von Belzec, Sobibór, Treblinka und Auschwitz getötet wurden. Es kamen noch andere Besonderheiten hinzu. Die Juden waren kein «Volk» für sich, sie gehörten als Staatsbürger anderen Völkern an und betrachteten sich in vielen Ländern als integrierende Teile der jeweiligen Nation. Aus der Sicht ihrer Feinde hingegen waren die Juden überall auf der Welt und daher nirgendwo zuhause. Für die radikalen Antisemiten war es auch, anders als für die Verfechter des älteren, religiösen Antijudaismus, unerheblich, ob die Juden ihrer überlieferten Religion anhingen oder ihr abgeschworen hatten. Was die Juden zum Todfeind machte, war der Glaube der Antisemiten, daß das Judentum, gleichviel ob in kapitalistisch-plutokratischer oder in marxistisch-bolschewistischer Verkleidung, nach der Weltherrschaft strebte und auf dem Weg zu diesem Ziel alles tat, um die Völker der «arischen» Rasse von innen heraus zu zersetzen und gegeneinander aufzuhetzen.
Diesen Glauben teilten Minderheiten in vielen europäischen Ländern, aber nur in Deutschland war der extreme Antisemitismus aus eigener Kraft an die Macht gelangt, und nur hier stand ein Mann an der Spitze von Staat und Regierung, der sich von der «Vorsehung» berufen wähnte, nicht nur das Judentum, sondern auch den jüdischen Geist zu vernichten, der über das Christentum in die «arischen» Völker eingedrungen war. Deutschland war kulturell ein Land des Westens; es hatte die großen europäischen Emanzipationsprozesse seit dem Mittelalter mitvollzogen, ja im Fall der Reformation in Gang gesetzt. Deutschland hatte Teil gehabt an der europäischen Aufklärung und im 19. Jahrhundert einen Rechtsstaat hervorgebracht, der westlichen Maßstäben entsprach. Es war als Sozialstaat ein Vorbild für andere geworden; es war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein hochentwickeltes Industrieland und eine der führenden Wissenschaftsnationen der Welt. Eben deshalb löste die Ausrottung der europäischen Juden in den westlichen Demokratien fassungsloses Entsetzen aus. «Es besteht kein Zweifel», schrieb Winston Churchill am 11. Juli 1944 an Anthony Eden, «daß es sich hier um das wahrscheinlich größte und schrecklichste Verbrechen der ganzen Weltgeschichte handelt, das von angeblich zivilisierten Menschen im Namen eines großen Staates und eines führenden Volkes Europas mit wissenschaftlichsten Mitteln verübt wird.»
Der Holocaust war ein Menschheitsverbrechen, begangen von einem Land des alten Okzidents, dessen traditionelle Eliten sich gleichwohl von den Nationen des transatlantischen Westens in einem wesentlichen Punkt unterschieden: Deutschland hatte sich das normative Projekt des Westens, die Ideen von 1776 und 1789, bis 1918 allenfalls teilweise zu eigen gemacht. Die unveräußerlichen Menschenrechte, die Prinzipien der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie bildeten keinen Teil der politischen Kultur des Kaiserreichs. Gehorsam gegenüber einem Staat, der als Rechtsstaat per definitionem nichts Unrechtes anordnen konnte, stand beim deutschen Bürgertum des Bismarckreiches höher im Kurs als der Gedanke politischer Verantwortung für das Gemeinwesen. Im Ersten Weltkrieg stellten die deutschen Kriegsideologen den «Ideen von 1789» die «Ideen von 1914» gegenüber und präsentierten damit den deutschen Kultur-, Macht- und Obrigkeitsstaat als überlegene Antwort auf die universellen Werte der westlichen Demokratien.
Nach der Niederlage von 1918 galt die parlamentarische Demokratie von Weimar einem großen Teil der meinungsbildenden Eliten als Staatsform der Sieger und damit als «undeutsch» – eine Deutung, der sich auch Hitler anschloß. Der Nationalsozialismus war die extremste Steigerung des antiwestlichen Ressentiments der Deutschen. Was «modern» war am «Dritten Reich», reflektierte immer auch die normativen Defizite des deutschen Modernisierungsprozesses. Ohne den Rückhalt bei den vor- und antidemokratischen Traditionen, an die er anknüpfen konnte, hätte Hitler Deutschland 1933 nicht seiner Herrschaft zu unterwerfen vermocht, und nur weil er im Besitz der Staatsmacht war, konnte er eine radikale Lösung der Judenfrage, einen zentralen Teil des nationalsozialistischen Projekts, in Angriff nehmen und verwirklichen. Der Holocaust hatte eine Vorgeschichte, die über die Geschichte des Antisemitismus und Rassismus hinausreichte und nicht zu trennen war von der allgemeinen deutschen Geschichte – der Geschichte eines weithin westlichen Landes, dessen traditionelle Eliten sich einer Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens bis 1945 beharrlich verweigert hatten und das nun die Folgen dieser katastrophalen Politik tragen mußte.[30]
Als im Oktober 1946 in Nürnberg das Urteil im Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher verkündet wurde, war die Besatzungsherrschaft in Italien längst zu Ende gegangen. Solange sie im Amt war, bis zum 31. Dezember 1945, hatte die britisch-amerikanische Militärregierung das letzte Wort in der Gesetzgebung: Ohne ihre Zustimmung trat kein Gesetz und keine Veränderung in Kraft. Die Westalliierten nahmen entscheidenden Einfluß auf die Säuberung des öffentlichen Dienstes, die Neuordnung des Pressewesens und die Kulturpolitik.
Die Abrechnung mit dem Faschismus hatte in den Teilen Italiens, die nicht von den Deutschen besetzt waren, schon 1943 begonnen – am radikalsten in Gestalt «wilder» Säuberungen, die zwischen 1943 und 1946 etwa 1200 Faschisten das Leben kosteten. Parallel dazu lief die offizielle politische Säuberung, die «epurazione», an. An ihr beteiligten sich von der alliierten Militärregierung eingesetzte Ausschüsse, Säuberungskomitees der Befreiungsausschüsse und staatliche Kommissionen. Von den unter Mussolini ins Amt gelangten Bürgermeistern wurden die meisten entlassen; für die Inhaber leitender Positionen im staatlichen Verwaltungsapparat galt dasselbe. In Norditalien gingen von den Kommunisten dominierte Säuberungskommissionen sehr viel weiter: Sie entließen in manchen Fabriken nicht nur ehemalige Faschisten aus ihren Funktionen, sondern darüber hinaus alle Personen, die aus ihrer Sicht «arbeiterfeindlich» waren.
Anders als in Deutschland blieb in Italien die juristische Aufarbeitung der Diktaturzeit der Gerichtsbarkeit des eigenen Landes vorbehalten. Wo das geltende Strafgesetzbuch (das aus dem Jahr 1931, also der Ära Mussolini, stammte) an seine Grenzen stieß, griff der neugeschaffene, für die oberste Garnitur der faschistischen Staats- und Parteiführung zuständige Gerichtshof, die Alta Corte di Giustizia, ebenso wie der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg auf die allgemein anerkannten Rechtsgrundsätze zurück, wich also bewußt vom Prinzip des «nulla poena sine lege» ab. Dasselbe taten die außerordentlichen Schwurgerichte, die zwischen 1945 und 1947 zwischen 20.000 und 30.000 Verfahren gegen politisch belastete Faschisten und Kollaborateure durchführten und dabei etwa 1000 Todesurteile und noch sehr viel mehr langjährige Haftstrafen verhängten. «In keinem anderen Land Europas – Frankreich vielleicht ausgenommen – gingen die Gerichte so rasch und so massiv gegen belastete Faschisten vor», schreibt Hans Woller. «Nirgendwo sonst mußten sich schon 1945 so viele Repräsentanten des untergegangenen Regimes für ihre Schandtaten verantworten wie in Italien.»
Bis Ende 1945 standen die italienischen Regierungen bei der «Entfaschistisierung» unter dem massiven Druck der Alliierten. Nach dem Abzug der Besatzungstruppen entfiel dieser Faktor. Die Christlichen Demokraten, die seit dem 4. Dezember 1945 mit Alcide de Gasperi den Ministerpräsidenten einer Allparteienregierung stellten, waren an einer Fortsetzung der Säuberungen deutlich weniger interessiert als ihre Koalitionspartner auf der Linken, die Sozialisten unter dem stellvertretenden Regierungschef Pietro Nenni und die Kommunisten unter Justizminister Palmiro Togliatti. Im Juni 1946 vollzog Togliatti eine (auch in der eigenen Partei umstrittene) Kehrtwende in Sachen Umgang mit dem Faschismus. Er legte ein Amnestiegesetz vor, das viele der bisher verhängten Sanktionen abschwächte oder aufhob und am 22. Juni in Kraft trat. Drei Wochen zuvor, am 2. Juni, war das erste Nachkriegsparlament gewählt worden. Mit 18,9 Prozent für die Kommunisten und 20,7 Prozent für die Sozialisten erhielten die Linksparteien sehr viel weniger Stimmen als erwartet, während die Democrazia Cristiana mit 35,2 Prozent einen als geradezu sensationell empfundenen Erfolg verbuchen konnte.
Der 2. Juni 1946 war auch der Tag eines Plebiszits über die künftige Staatsform Italiens. 54,3 Prozent der Abstimmenden sprachen sich für die Republik, 45,2 Prozent für die Beibehaltung der Monarchie aus. Viktor Emanuel III., der im Oktober 1922 Mussolini zum Ministerpräsidenten ernannt und ihn im Oktober 1943 entlassen hatte, saß zu dieser Zeit schon nicht mehr auf dem Thron. Er hatte am 9. Mai 1946 zugunsten seines Sohnes Umberto II. abgedankt und sich ins Exil nach Ägypten begeben. Umberto verließ wenige Tage nach dem Referendum ebenfalls Italien, und zwar in Richtung Portugal.
Neben dem König war auch das Militär bis 1943 eine zuverlässige Stütze des «Duce» und des faschistischen Regimes gewesen. Die Rolle, die es beim Sturz des Diktators und danach als Verbündeter der Westmächte gespielt hatte, rechnete es sich jetzt als Verdienst an und fand dabei die Unterstützung der Christlichen Demokraten und der von ihnen geführten Regierungen. Diese weigerten sich beharrlich, einer Forderung der Vereinten Nationen nachzukommen und rund 1700 Angehörige der italienischen Streitkräfte an die Länder auszuliefern, von denen sie schwerer Kriegsverbrechen beschuldigt wurden.
Da Italien seinerseits die Auslieferung deutscher Kriegsverbrecher verlangte, war es aber gezwungen, zumindest den Anschein zu erwecken, als sei es ihm ernst mit der Ankündigung, etwaige Kriegsverbrecher selbst zur Rechenschaft zu ziehen. Die Militärgeneralstaatsanwaltschaft leitete in der Tat auch über 2000 Ermittlungsverfahren ein, von denen neben Deutschen auch italienische Kollaborateure und Angehörige der Streitkräfte betroffen waren. Der Vorsatz, keine italienischen Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen, führte aber dazu, daß es so gut wie keine Anklageerhebungen gab. Die große Mehrheit der Italiener fand daran nichts zu beanstanden: Die eigenen Offiziere und einfachen Soldaten galten gemeinhin als «brava gente» (anständige Leute), die, anders als die Deutschen, zu Greueltaten gar nicht fähig waren. Die Kriegsverbrechen, die Italiener vor allem in Äthiopien, Griechenland und Jugoslawien begangen hatten, blieben infolgedessen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ungesühnt.
Die Verdrängung des Unrechts, das Italien unter der Herrschaft des Faschismus anderen Nationen zugefügt hatte, ging einher mit der Neigung, den italienischen Faschismus so sehr vom deutschen Nationalsozialismus, dem «Nazifascismo», abzuheben, daß irgendwelche Gemeinsamkeiten beider Regime kaum noch zu erkennen waren. Gleichzeitig pflegte die italienische Linke den Mythos vom breiten Widerstand gegen den Faschismus – einen Mythos, der es den Kommunisten auch als Oppositionspartei, die sie seit 1947 waren, erlaubte, an das gemeinsame Erbe aller antifaschistischen Kräfte zu appellieren.
Nach dem Urteil Wolfgang Schieders wurde auf diese Weise die «ritualisierte Geschichte der ‹Resistenza› … zur Meistererzählung der italienischen Politik erhoben», ja die Geschichte des Faschismus gezielt auf die Geschichte des Antifaschismus reduziert. Während die Linke sich ungern an ihre Ohnmacht und ihre Niederlage vor und unter dem Faschismus erinnerte, lag der Rechten nichts an der Aufarbeitung ihres Anteils an der Entstehung und Aufrechterhaltung der faschistischen Diktatur. Die Folge war Schieder zufolge, daß sich in Italien in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1945 eine «Gemeinsamkeit des Desinteresses am Faschismus» entwickelte.
Eine andere Gemeinsamkeit bestand in den ersten Nachkriegsjahren in dem Bestreben, einen Friedensvertrag zu erhalten, der den territorialen Besitzstand des Landes in größtmöglichem Umfang wahrte und Italien materiell so wenig wie möglich belastete. Friedensverhandlungen im engeren Sinne gab es nicht; die Italiener konnten lediglich ihre Position in Washington, Moskau, London und Paris vortragen. Das zentrale Argument lautete dabei, Italien sei von Mussolini ein Krieg an der Seite Deutschlands aufgezwungen worden, es habe auf anständige Weise gekämpft, sich 1943 selbst von der Herrschaft des «Duce» befreit und schließlich an der Seite der Alliierten einen wichtigen Beitrag zum Sieg über Deutschland geleistet. Die römischen Abgesandten präsentierten Italien mithin, wie es Woller formuliert, als das «Hauptopfer des Faschismus» – eine Geschichtsdeutung, die zu eigenwillig war, um in irgendeiner der vier Hauptstädte auf Verständnis zu stoßen.
Was der Pariser Friedensvertrag vom 10. Februar 1947 Italien zumutete, war durchaus erträglich. Die ehemalige Achsenmacht mußte die 1912 eroberten Inseln des Dodekanes an Griechenland und Istrien an Jugoslawien abtreten sowie auf alle Kolonien verzichten (was nicht ausschloß, daß die Vereinten Nationen Italien im November 1949 ein Mandat für die Treuhandverwaltung seiner früheren Kolonie Somalia zwecks Vorbereitung der Unabhängigkeit erteilten). Triest wurde zunächst ein Freistaat, konnte aber 1954 zu Italien zurückkehren. Südtirol blieb italienisch und erhielt im Januar 1948 ein erstes Autonomiestatut. Die Reparationslasten, die Italien auferlegt wurden, hielten sich in engen Grenzen: Jugoslawien wurden 125, Griechenland 105, der Sowjetunion 100, Äthiopien 25 und Albanien 5 Millionen Dollar zugesprochen. Die italienischen Streitkräfte mußten Beschränkungen ihrer Mannschaftsstärken und ihrer Ausrüstung hinnehmen; den größten Teil der Kriegsflotte sicherten sich Frankreich, Griechenland, Jugoslawien und die Sowjetunion.
Der Friedensvertrag war innenpolitisch heftig umstritten: Nicht nur die äußerste Rechte in Gestalt der Neofaschisten und der Monarchisten, sondern auch die Liberalen machten Front gegen das, was aus ihrer Sicht ein brutales Diktat war. In Wirklichkeit war Italien mit dem Pariser Vertrag sehr glimpflich davongekommen. Es hatte unter Mussolinis Führung in Äthiopien einen rassistischen Eroberungskrieg geführt und dabei Methoden der Massenvernichtung angewandt, zu denen es in der europäischen Kolonialgeschichte nur wenige Parallelen gab; es hatte an der Seite der Deutschen in Nordafrika, auf dem Balkan und in der Sowjetunion gekämpft und sein Territorium auf Kosten anderer europäischer Länder erweitert; es hatte seinen Beitrag zur Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden geleistet. 1947 wollten die meisten Italiener von alledem nichts mehr wissen. Für sie war es ein beruhigender Gedanke, daß alles, was man dem faschistischen Italien vorhalten konnte, weit in den Schatten gestellt wurde durch die sehr viel größere und schrecklichere Verbrechensbilanz seines ehemaligen Verbündeten, des nationalsozialistischen Deutschland.[31]
In Japan blieb, anders als in Italien, die Monarchie erhalten, aber sie änderte ihren Charakter: Am 1. Januar 1946 widerrief Kaiser Hirohito seine «Göttlichkeit». Zehn Monate später, am 3. November 1946, verkündete der Monarch eine neue Verfassung. Sie war das Werk einer von der amerikanischen Besatzungsmacht eingesetzten Kommission, das im Oktober vom neugewählten Parlament mit überwältigender Mehrheit gebilligt worden war und ein halbes Jahr später, am 3. Mai 1947, in Kraft trat. Der Kaiser war nun nicht mehr souveräner Herrscher, sondern nur noch «das Symbol des Staates und der Einheit der Nation». Der Adel wurde abgeschafft; Japan war fortan eine parlamentarische Demokratie mit einer unabhängigen rechtsprechenden Gewalt; Staat und Religion waren getrennte Sphären, der Shintoismus nicht mehr die privilegierte Religion. Die Verfassung gewährleistete die klassischen Grundrechte einschließlich der Religionsfreiheit; sie bekannte sich zur Gleichberechtigung von Mann und Frau. In Artikel 9 verzichtete Japan auf den Unterhalt eines Militärs und auf das Recht der Kriegführung – eine einschneidende Neuerung, von der nicht ganz klar ist, ob sie auf eine japanische Initiative oder den Druck der Besatzungsmacht zurückging.
Im Unterschied zu Deutschland verfügte Japan nach der Kapitulation weiterhin über eine eigene Regierung. Der Oberkommandierende der alliierten Truppen und Mann an der Spitze der faktisch einzigen, der amerikanischen Besatzungsmacht, General Douglas MacArthur, hatte zwar am 2. September 1945, wenige Stunden nach der Kapitulation, verfügt, daß alle Staatsgewalt fortan von der Besatzungsmacht ausgeübt werde, mußte sich aber kurz darauf, nach japanischen Protesten und auf Weisung des State Department, revidieren: Der Oberbefehlshaber erließ seine Anordnungen über die japanische Regierung, die insoweit zu einem Vollzugsorgan der Besatzungsmacht wurde.
Die Verfügungen MacArthurs zielten auf eine konsequente Verwestlichung des Kaiserreichs. Er ließ die repressiven Sicherheitsgesetze außer Kraft setzen, die politischen Gefangenen entlassen und Personen verhaften, die im Verdacht standen, Kriegsverbrechen begangen zu haben. Er verfügte die Zulassung von freien Gewerkschaften, die Gewährung des Streikrechts, das Verbot der Kinderarbeit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Auflösung der großen Konzerne, der «Zaibatsu», eine Landreform und eine Liberalisierung des Bildungswesens. Ein großer Teil dessen, was die Verfassung von 1947 enthielt, bedeutete also nur die Festschreibung von Neuerungen, die die Besatzungsmacht angeordnet hatte.
Eines der zentralen Anliegen der USA, die Bestrafung von Kriegsverbrechern, wurde dadurch erschwert, daß die japanischen Behörden in der kurzen Zeit zwischen der Kapitulation und der amerikanischen Besetzung belastendes Material in großem Umfang vernichtet hatten. Erst im Mai 1946 konnte ein nach dem Nürnberger Vorbild geschaffener Internationaler Militärgerichtshof in Tokio seine Arbeit aufnehmen. Einige der Beschuldigten, so der ehemalige Premierminister Konoe und der frühere Heeresminister und Generalstabschef Sugiyama Gen, begingen Selbstmord und entzogen sich so ihrer Verhaftung. Der langjährige Kriegspremier, General Tojo Hideki, der ebenfalls zur Gruppe der Hauptkriegsverbrecher gehörte, überlebte schwer verletzt einen Versuch der Selbsttötung.
Tojo war einer von sieben Angeklagten, die der Internationale Militärgerichtshof im November 1948 zum Tod durch den Strang verurteilte. Sechs von ihnen waren Militärs; der einzige Zivilist war der frühere Premierminister und Außenminister Hirota Koki. In sechzehn Fällen verhängten die Richter lebenslängliche Haft-, in zwei Fällen mehrjährige Freiheitsstrafen. (Soweit die Betroffenen noch lebten, wurden sie bis 1956 alle freigelassen.) Wie in Deutschland folgten dem Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher weitere Verfahren gegen Personen, denen Kriegsverbrechen vorgeworfen wurden. Prozesse gegen japanische Kriegsverbrecher fanden auch auf den Philippinen, in China und der Sowjetunion statt.
Eine über die Prozesse gegen die Kriegsverbrecher hinausgehende, der «Entnazifizierung» in Deutschland vergleichbare politische Säuberung, wie die USA sie wünschten, scheiterte am Widerstand der japanischen Beamtenschaft. Von den strukturellen Veränderungen, die die Besatzungsmacht eingeleitet hatte, war die Bodenreform die wohl erfolgreichste. Etwa 5 Millionen Kleinbauern profitierten als Eigentümer oder Pächter davon, daß der Staat zwischen 1946 und 1949 Land von Großgrundbesitzern aufkaufte, um es anschließend zu verteilen. Fortan durfte niemand mehr als 3 Hektar Land besitzen oder als Pächter bewirtschaften. Nur auf der kargen Insel Hokkaido waren größere Höfe mit bis zu 20 Hektar Land erlaubt.
Nachhaltig wirkte sich auch die Umgestaltung des Bildungswesens aus. Die Schulpflicht wurde von 6 auf 9 Jahre verlängert, eine dreijährige Oberschule nach dem Vorbild des amerikanischen College eingeführt, der Lehrkörper «umerzogen» und der Lehrstoff entmilitarisiert. Weniger erfolgreich waren die Amerikaner bei ihrem Versuch, die großen Konzerne zu zerschlagen. Entsprechende Gesetze wurden zwar verabschiedet, neue Verflechtungen und Konzentrationsprozesse auf diese Weise aber nicht verhindert. Im Endeffekt erreichten die amerikanischen Reformer nach dem Urteil des Historikers Gerhard Krebs auf diesem Gebiet das Gegenteil dessen, was sie erstrebt hatten: Durch die Modernisierung seiner Industrie- und Finanzwelt wurde Japan für die USA zu einer stärkeren Konkurrenz, als es dies vor dem Zweiten Weltkrieg gewesen war.
Eine Schulddebatte wie in Deutschland fand in Japan nach 1945 nicht statt. In Deutschland ging diese Diskussion nicht zufällig vom Protestantismus aus: Das Schuldigwerden des Menschen, eine Folge seiner Sündhaftigkeit, war und ist ein zentrales Problem aller christlichen, vor allem aber der lutherischen Theologie. Im Shintoismus, der die japanische Kultur tief geprägt hat, gibt es eine solche Tradition nicht, und infolgedessen auch kein «schlechtes Gewissen» der Nation im Hinblick auf die aggressive Politik Tokios in den dreißiger und vierziger Jahren und das grausame Leid, das das japanische Militär und namentlich die Militärpolizei, die Kempeitai, der Zivilbevölkerung und besonders den mindestens 100.000 zur Prostitution gezwungenen Frauen und Mädchen in China, der Mandschurei, Korea und vielen der neu besetzten Gebiete zugefügt hatten. Ein Eingeständnis von Schuld wurde und wird in weiten Kreisen der Gesellschaft als unvereinbar mit der japanischen Vorstellung von «Ehre» betrachtet. Ein tiefverwurzeltes Gefühl von Scham läßt ein Schuldbekenntnis als Gesichtsverlust erscheinen – etwas, was es unbedingt zu vermeiden gilt.
Die hingerichteten Kriegsverbrecher sind aus der Sicht der japanischen Rechten immer noch Patrioten und Märtyrer. Am Yasukuni-Schrein, einem 1869 von Kaiser Meiji errichteten shintoistischen Heiligtum, wird ihrer bis heute gedacht, und von 1975 bis 2009 nahmen an den nationalistischen Zeremonien am 15. August, dem offiziellen Gedenktag der Kapitulation, regelmäßig auch prominente Regierungsvertreter der Liberal-demokratischen Partei teil. Die Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki bestärkten Japan in dem Gefühl, im Zweiten Weltkrieg mehr Opfer als Täter gewesen zu sein: eine Einschätzung, die die Beziehungen Japans zu seinen Nachbarn nach wie vor belastet und von den westlichen Demokratien der Nachkriegszeit trennt.
Viereinhalb Jahre nach Italien, am 8. September 1951, erhielt Japan in San Francisco seinen Friedensvertrag, der freilich weder von dem inzwischen kommunistischen China noch von der Sowjetunion unterzeichnet wurde. Darin erklärte Japan seinen Verzicht auf alle nach 1895 erworbenen oder eroberten Gebiete. Die USA sicherten sich die zeitlich befristete Verwaltungshoheit über einige kleinere, aber strategisch wichtige Inseln und schlossen mit Japan einen Sicherheitsvertrag, der dem Kaiserreich die Bildung von «Selbstverteidigungskräften», also eine Wiederbewaffnung, erlaubte. Als Gegenleistung für das amerikanische Entgegenkommen schloß Japan, wenn auch widerstrebend, einen eigenen Friedensvertrag mit der Regierung der Kuomintang auf Taiwan, die damit von Tokio als die einzige legitime Regierung Chinas anerkannt wurde.
Der exzessive Militarismus Japans gehörte inzwischen der Vergangenheit an. Manche derer, die für die Kriegspolitik mitverantwortlich waren, hatten aber seit dem Ende der Besatzungsherrschaft im Jahre 1951 durchaus wieder eine politische Zukunft: 1954 kehrte der zu einer Freiheitsstrafe verurteilte ehemalige Außenminister Shigemitsu Mamoru in sein altes Amt zurück. 1957 trat der entschieden antikommunistische Kishi Nobusuke, der dem Kriegskabinett von General Tojo angehört hatte, an die Spitze der Regierung. In Japan empfand man dies als ein Zeichen von Normalisierung – und in den USA schon längst nicht mehr als schockierend.
Japan, Italien, Deutschland: Die Jahre 1943 bis 1945 stehen für das katastrophale Scheitern von drei Versuchen spätimperialistischer Reichsbildung. Die Regime in Tokio, Rom und Berlin wollten im 20. Jahrhundert nachholen, was älteren Großmächten in früheren Jahrhunderten gelungen war: die Ausweitung ihrer Herrschaftssphäre auf fremde, vorzugsweise weniger entwickelte Länder. Es war nicht der Imperialismus als solcher, der die aggressiven Regime der Zwischenkriegszeit hervorbrachte. Diese Systeme entstanden vielmehr nicht zufällig in Ländern, die sich bei der «Verteilung der Welt» zu kurz gekommen wähnten. Wenn es für die globale Katastrophe der ersten Hälfte der vierziger Jahre eine gemeinsame Ursache gibt, dann liegt sie hier: in dem zwanghaft kompensatorischen Streben dreier vermeintlich vom Schicksal benachteiligter Mächte, den weltpolitischen Status quo zu ihren Gunsten zu revolutionieren und sich so dauerhaft den Platz zu sichern, auf den sie einen Anspruch zu haben glaubten.[32]
Westen, Osten, Dritte Welt: Die Zäsur von 1945 (II)
In Potsdam hatten sich im Juli und August 1945 noch die «Großen Drei» getroffen. Aber manche Briten mochten sich schon damals fragen, ob sie wirklich noch zu den «großen» Siegermächten gehörten. Am Zweiten Weltkrieg hatten auf der Seite des Vereinigten Königreiches fast 5 Millionen Soldaten aus dem Commonwealth teilgenommen: aus Indien 2,5 Millionen, aus Australien und Neuseeland zusammen über 1 Million, aus Kanada 725.000, aus den ost- und westafrikanischen Kolonien fast 500.000 und aus Südafrika 200.000. Diese militärische Hilfe war für das Mutterland ebenso wichtig wie die Kredite, die Großbritannien aus Indien, aus den «alten» Dominions, Kanada, Australien und Neuseeland, erhielt. Dazu kamen die großzügigen amerikanischen Materiallieferungen nach dem Lend-Lease-Programm. Ohne diese Unterstützung hätte das Vereinigte Königreich den Kampf gegen die Achsenmächte nicht führen und schließlich gewinnen können. Materiell gesehen war dieser historische Erfolg ein geborgter Sieg.
Nach dem Krieg würden Rechnungen präsentiert werden: Darüber gaben sich die Verantwortlichen in London keinem Zweifel hin. Am 2. September 1945 hörten die Lieferungen aus den USA abrupt auf. In langwierigen Verhandlungen, bei denen abermals John Maynard Keynes eine maßgebliche Rolle spielte, gelang es den Briten, einen weitgehenden Schuldenerlaß zu erreichen: Die USA reduzierten ihre Forderungen aus dem Lend-Lease-Programm von 22 Milliarden auf 650 Millionen Dollar, knapp 3 Prozent der geschuldeten Summe. Die Commonwealth-Länder, die Großbritannien mit Krediten geholfen hatten, verlangten am Ende nur 1 Prozent des fälligen Betrages zurück, was den Verzicht auf 38 Milliarden Pfund Sterling oder 152 Milliarden Dollar bedeutete.
Dieses Entgegenkommen war eine immense Erleichterung, aber es reichte nicht aus, das Vereinigte Königreich finanziell wieder handlungsfähig zu machen. Der Zweite Weltkrieg hatte etwa 28 Prozent des britischen Volksvermögens im In- und Ausland vernichtet. Ohne eine neue Kreditaufnahme im Ausland drohte der finanzielle Zusammenbruch. Erneut bedurfte es zäher Verhandlungen, um die nötigen Anleihen zu erhalten – von Kanada in Höhe von 1,25 Milliarden, von den USA in Höhe der dreifachen Summe, nämlich 3,75 Milliarden Dollar.
Im amerikanischen Kongreß gab es heftigen Widerstand gegen den gewünschten Kredit. Der Senat stimmte der Vorlage schließlich im Mai 1946 mit 46 zu 34 Stimmen, das Repräsentantenhaus im Juli mit 219 zu 155 Stimmen zu, so daß Präsident Truman das Gesetz am 15. Juli 1946 unterschreiben konnte. Was bei der parlamentarischen Zustimmung zuletzt den Ausschlag gab, war die Einsicht, daß Großbritannien ein wichtiger, ja der wichtigste Verbündete bei dem Bemühen war, eine weitere Ausdehnung des sowjetischen Einflusses in Europa zu verhindern. Am 5. März 1946 hatte der britische Oppositionsführer Winston Churchill in Fulton im Bundesstaat Missouri in Gegenwart Trumans jene historische Rede gehalten, in der er erstmals öffentlich von dem «Eisernen Vorhang» sprach, der von Stettin bis Triest über Europa niedergegangen sei, und vor diesem düsteren Hintergrund die «special relationship», die historische Sonderbeziehung zwischen den beiden großen englisch sprechenden Demokratien, den Vereinigten Staaten und Großbritannien, beschworen. Churchills Worte hatten die Wirkung eines Paukenschlags.
Die massiven Vorbehalte, auf die das britische Anleihebegehren in beiden großen amerikanischen Parteien stieß, hatten ihren wichtigsten Grund in der Palästinapolitik des Vereinigten Königreiches. Die britische Regierung hatte im Mai 1939 in einem Weißbuch ausdrücklich festgestellt, daß die «Balfour Declaration» vom November 1917, das Versprechen einer nationalen Heimstatt für die Juden in Palästina, niemals die Gründung eines jüdischen Staates gegen den Willen der arabischen Bevölkerung bedeutet habe. Palästina sollte innerhalb von zehn Jahren in die Unabhängigkeit entlassen werden, wobei die Araber im neuen Staat weiterhin die Mehrheit der Bevölkerung stellen sollten. Innerhalb der nächsten fünf Jahre, also bis 1944, legte das Weißbuch eine jüdische Einwanderungsquote von höchstens 10.000 Personen jährlich fest, dazu noch einmal 25.000 jüdische Einwanderer. Für den Zionismus war diese Regelung der bislang schwerste Rückschlag in seiner Geschichte.
Unmittelbar nach Kriegsende prallten in dem britischen Mandatsgebiet die gegensätzlichen Interessen von Juden und Arabern aufeinander: Für die Juden war Palästina angesichts der Verfolgung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten zum Zufluchtsort schlechthin geworden, während die dort ansässigen Araber jede weitere jüdische Einwanderung ebenso entschieden ablehnten wie eine Teilung des Mandatsgebiets in einen jüdischen und einen arabischen Teil – die Lösung, die Chaim Weizmann, der Leiter der Jewish Agency und Präsident der Zionistischen Weltorganisation, befürwortete. Die britische Mandatsverwaltung widersetzte sich gleichfalls einem weiteren Zustrom von Juden aus Europa, konnte die illegale Einwanderung aber nicht völlig unterbinden: Anfang 1946 erreichte die Zahl der «Illegalen» über 1000 pro Monat. Um diese Zeit belief sich die Zahl der in Palästina lebenden Juden auf 608.000. Sie stellten damit bereits zwei Fünftel der Gesamtbevölkerung des Mandatsgebiets.
In den Vereinigten Staaten, die ihrerseits nicht daran dachten, eine größere Anzahl von Juden aus Europa bei sich aufzunehmen, stieß die britische Haltung auf scharfe Kritik. Die Washingtoner Forderung ging dahin, das Mandatsgebiet sofort für 100.000 Überlebende des Holocaust zu öffnen – ein Ansinnen, dem sich die Briten verweigerten. Um die Einwanderung von «Illegalen» zu stoppen, verhängte London eine Seeblockade und ließ insgesamt 26.000 Flüchtlinge in Lagern auf Zypern internieren. Ein Schiff mit 4500 jüdischen Displaced Persons, die «Exodus 1947», wurde im Spätsommer 1947 nach Europa zurückgeschickt. In Palästina selbst ging die Mandatsmacht seit dem «Schwarzen Sabbat», dem 29. Juni 1946, zu einem verschärften Kampf gegen zionistische Untergrundgruppen, wie die rechtsgerichtete «Irgun» unter dem späteren Ministerpräsidenten Menachem Begin und die «Stern-Gruppe» unter Avraham Stern, über, die bereits mehrere Anschläge auf britische Einrichtungen verübt hatten. Den blutigen Höhepunkt des zionistischen Terrors bildete das Bombenattentat der «Irgun» auf das von der britischen Mandatsverwaltung benutzte King David Hotel in Jerusalem am 22. Juli 1946. 91 Menschen kamen dabei um.
Die Radikalisierung des jüdischen Protests trug wesentlich dazu bei, daß die öffentliche Meinung in Großbritannien sich gegen die Fortsetzung der bisherigen Palästinapolitik wandte und die Labour-Regierung unter Clement Attlee sich im Februar 1947 dazu durchrang, die Verantwortung für die Lösung des Palästinaproblems den Vereinten Nationen zu überlassen – der Nachfolgerin des Völkerbundes, der Großbritannien 1922 mit dem Mandat betraut hatte. An der Teilung Palästinas, wie sie die Vollversammlung der UNO am 29. November 1947 mit Zweidrittelmehrheit beschloß, wollte Großbritannien aber unter keinen Umständen mitwirken; es verweigerte sogar der Palästina-Kommission der Vereinten Nationen die Einreise in das Mandatsgebiet.
Die Kämpfe zwischen Arabern und Juden steigerten sich seit der Jahreswende 1947/48 zum offenen Bürgerkrieg. Am 14. Mai 1948 – einen Tag bevor Großbritannien sein Mandat einseitig beendete – rief der Ministerpräsident der provisorischen israelischen Regierung, David Ben-Gurion, den Staat Israel aus. Tags darauf marschierten die Truppen der arabischen Nachbarstaaten in Palästina ein. Der Krieg endete im Juli 1949 mit einem Sieg der israelischen Armee – und einer beträchtlichen Vergrößerung des Territoriums des Staates Israel.
Früher als im Fall Palästina war in London eine Indien betreffende historische Entscheidung gefallen: Am 20. Februar 1946 gab die Regierung Attlee ihre feste Absicht bekannt, alle notwendigen Schritte zu unternehmen, um eine Machtübergabe an eine verantwortliche indische Regierung bis zum Juni 1947 zu ermöglichen. Das Vorhaben Londons, Indien in eine lockere Föderation zu verwandeln, stieß aber sowohl bei der zentralistisch gesinnten Kongreßpartei unter Jawaharlal Nehru als auch bei der Muslim-Liga unter Mohammed Ali Jinnah, dem entschiedenen Fürsprecher einer Teilung Britisch-Indiens, auf heftigen Widerspruch. Zwischen Hindus und Muslimen kam es im August 1946 in Kalkutta und im Panjab zu blutigen, bürgerkriegsartigen Kämpfen, bei denen über 4000 Menschen starben. Der letzte Vizekönig von Indien, Lord Mountbatten, und das Kabinett Attlee sahen schließlich nur noch einen gangbaren Ausweg aus dem drohenden Chaos: Am 3. Juni 1947 verkündete die Londoner Regierung einen endgültigen Plan zur Teilung des Subkontinents in einen überwiegend hinduistischen und einen überwiegend muslimischen Staat. Das entsprechende Gesetz wurde vom britischen Parlament am 18. Juli verabschiedet. Am 15. August trat es in Kraft. Die britische Herrschaft in Indien war zu Ende.
Churchill und andere konservative «Diehards» hatten immer wieder gewarnt, daß der Rückzug aus Indien der Anfang vom Ende des Empire sein würde. Die Labour-Regierung ließ sich durch diese Aussicht nicht von dem abschrecken, was sie für unvermeidbar hielt und was die USA von Großbritannien und, im Prinzip jedenfalls, von allen europäischen Kolonialmächten erwarteten: die Trennung von Kolonien, die nach Unabhängigkeit strebten. Im Fall Indiens hatten sich die materiellen Gewichte zwischen der Kolonialmacht und der Kolonie inzwischen nachhaltig verschoben: Großbritannien war der Schuldner, Indien der Gläubiger. Es verfügte in London über ein Guthaben von 1,3 Milliarden Pfund Sterling. Die britischen Exporte nach Indien, die 1914 noch zwei Drittel der indischen Einfuhren ausgemacht hatten, waren bis 1940 auf 8 Prozent der Gesamteinfuhr gesunken.
Schließlich lag es, wie der Historiker Peter Wende in seinem Buch über das britische Empire schreibt, auf der Hand, «daß die Briten nicht mehr über ausreichende Ressourcen verfügten, um etwa in künftigen Krisensituationen ihre Herrschaft im Lande mit Gewalt aufrechterhalten zu können. Nach den Erfahrungen des Krieges betrachtete die britische Regierung die Indische Armee nicht länger als ihr zuverlässiges Machtinstrument zur Unterdrückung eines eventuellen Aufstands. Die wachsende Beteiligung von Indern an der Verwaltung reduzierte zudem die Chancen von britischen Karrieren im Kolonialdienst. Während über lange Zeit der Indian Civil Service englischen Universitätsabsolventen vorbehalten geblieben war, zählte er 1947 neben 429 britischen nun 510 Beamte indischer Herkunft … Es war keine spektakuläre militärische Niederlage, wohl aber eine fortschreitende Erosion der Macht, die den Rückzug der Briten zur politischen Notwendigkeit werden ließ.»
Großbritannien war durch den Zweiten Weltkrieg so geschwächt, daß es sich eine Serie langwieriger und kostspieliger Kolonialkriege gar nicht mehr leisten konnte – vom fehlenden Willen der Bevölkerung, solche Kriege zu unterstützen, ganz zu schweigen. Der Entstehung der neuen, aus mörderischen Kämpfen hervorgegangenen Staaten Indien und Pakistan folgte Anfang 1948 die Entlassung von zwei weiteren asiatischen Kolonien in die Unabhängigkeit: Birma und, sehr viel weniger konfliktreich, Ceylon. Wie Indien und Pakistan wurde Ceylon (Sri Lanka) als Dominion Mitglied des Commonwealth, während Birma darauf verzichtete. Die britische Herrschaft in Asien war damit noch nicht beendet. Malaya, Singapur und Nord-Borneo blieben vorerst Kolonien Großbritanniens; die Unabhängigkeit erlangten Malaya 1957, Singapur 1963 und Brunei 1984. Die Kronkolonie Hongkong wurde 1997 nach Ablauf des auf 99 Jahre befristeten Pachtvertrages von 1898 an China zurückgegeben. In Afrika kam es in den fünfziger Jahren in einer Kolonie, Kenia, zu einem blutigen Aufstand gegen die britische Herrschaft. In den sechziger Jahren wurde eine britische Kolonie nach der anderen in die Unabhängigkeit entlassen. Nur in Südrhodesien (Simbabwe) konnten die weißen Siedler diesen Schritt bis 1980 verhindern.
Das Vereinigte Königreich gehörte unzweifelhaft zu den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, und deshalb fiel es ihm leichter, sich von seinem Kolonialreich zu verabschieden, als Frankreich. Die Vierte Republik setzte geradezu verbissen auf die Wahrung des überseeischen Besitzstandes, den sie von der Dritten Republik und, im Falle Algeriens, von der restaurierten Bourbonen- und der Julimonarchie geerbt hatte. Die Behauptung dieser Gebiete trug stark kompensatorische Züge: Die Kolonien, Protektorate und das der France métropolitaine einverleibte Algerien schienen etwas von jener «gloire» zu verbürgen, die Frankreich nach der dramatischen Niederlage von 1940 und der deutschen Besatzungsherrschaft mehr denn je zu benötigen glaubte. Es war eine kostspielige und mit hohen Verlusten an Menschenleben verbundene Illusion, der die französischen Nachkriegsregierungen anhingen. Ironischerweise bedurfte es der Rückkehr des Kriegshelden und nationalen Heros Charles de Gaulle an die Macht im Jahre 1958, um Frankreich mit der Tatsache zu versöhnen, daß es keine andere Zukunft als die eines rein europäischen Landes hatte. Mit der Gewährung der vollen Unabhängigkeit an Algerien im Jahr 1962 ging die französische Kolonialherrschaft in Afrika zu Ende.
1960, im gleichen Jahr wie die meisten französischen Kolonien Schwarzafrikas, wurde Belgisch-Kongo in die Unabhängigkeit entlassen, womit eines der schrecklichsten Kapitel in der postkolonialen Geschichte Afrikas begann. Am längsten wehrte sich Portugal – ein Land, das im Zweiten Weltkrieg neutral geblieben war – gegen den Abschied von vergangener Größe. Das Ende der blutigen Kolonialkriege in seinen afrikanischen Besitzungen Angola und Mozambique erzwang das Militär. 1975, im Jahr nach seinem Putsch, der «Nelkenrevolution» von April 1974, zog die Armee einen Schlußstrich unter die portugiesische Kolonialgeschichte in Afrika. 1999, zwei Jahre später als Hongkong, wurde Portugals letzte asiatische Kolonie, Macao, an die Volksrepublik China übergeben.
Die koloniale Frage war im Zweiten Weltkrieg ein Streitpunkt zwischen den USA und Großbritannien gewesen. Roosevelt war im Unterschied zu Wilson ein entschiedener Antikolonialist. Den Begriff «Selbstbestimmungsrecht der Völker» wollte er auch im Sinn des Rechtes der asiatischen und afrikanischen Kolonialgebiete auf Unabhängigkeit verstanden wissen; die Versprechungen der Atlantikcharta vom August 1941 sollten auch für sie gelten. Unter Truman änderte sich an dieser Linie nichts. Aber anders als Roosevelt mußte sein Nachfolger auf London in dieser Frage keinen Druck ausüben: Attlees Labour-Kabinett ging im besonders dringlichen Fall Indien mit der Gewährung der Unabhängigkeit viel rascher voran, als Washington dies erwartet hatte. Die Niederlande hingegen mußten massiv gedrängt werden, um sie zur Beendigung ihrer Kolonialherrschaft über Indonesien zu bewegen.
Die treuhänderische Verwaltung Französisch-Indochinas hatte Roosevelt während der Konferenz von Kairo im November 1943 der nationalchinesischen Regierung unter Tschiang Kai-schek angeboten, die im Sommer 1945 denn auch sogleich Truppen in den Norden Vietnams schickte. Den kommunistischen Viet Minh zu unterstützen kam den USA allerdings nicht in den Sinn, und nach dem Sieg der Kommunisten in China legten die Vereinigten Staaten ihrem Antikolonialismus auch in Südostasien straffe Zügel an. Im Zweifelsfall stützen sie nun lieber die Kolonialmacht Frankreich als eine Unabhängigkeitsbewegung, deren Erfolg die weltpolitischen Gewichte zugunsten der Sowjetunion zu verschieben drohte. In Afrika schien die Überwindung des Kolonialismus aus amerikanischer Sicht in den vierziger Jahren noch nicht aktuell; erst in den fünfziger Jahren fand der «schwarze Kontinent» in Washington größere Aufmerksamkeit.
Die USA waren 1945 in wirtschaftlicher, finanzieller, militärischer und politischer Hinsicht die mit Abstand stärkste Macht der Welt, und sie waren sich bewußt, was das im Verhältnis zu ihrem engsten Verbündeten, Großbritannien, bedeutete. Das Vereinigte Königreich hing finanziell so sehr vom guten Willen der Vereinigten Staaten ab, daß es sich empfahl, außenpolitisch, wo immer möglich, mit Washington an einem Strang zu ziehen. Umgekehrt legten die USA Wert darauf, den Briten einen privilegierten Platz in der Nachkriegsordnung zu verschaffen und sie so mit dem fortschreitenden Verlust ihrer Weltgeltung zu versöhnen. Am 15. Dezember 1945 unterzeichneten auf Grund einer amerikanischen Initiative Präsident Truman, der britische Premierminister Attlee und der kanadische Premierminister Mackenzie King in Washington eine gemeinsame Erklärung über enge Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Andere Länder waren zur Teilnahme eingeladen, sobald es verläßliche Sicherheitsgarantien gegen eine militärische Verwendung von spaltbarem Material gab. Gleichzeitig sprachen sich die Unterzeichner für ein internationales Verbot von Atom- und allen Massenvernichtungswaffen aus. Ihr Monopol in Sachen Atomwaffen gedachten die USA freilich nicht aufzugeben.
Im Herbst 1945 gab es Anzeichen für eine Verschlechterung des Verhältnisses zwischen den Westmächten und der Sowjetunion. Auf der Tagung des in Potsdam eingesetzten Außenministerrates vom 10. September bis 2. Oktober beantwortete Molotow die Weigerung Byrnes und Bevin, die kommunistisch dominierte Regierung Rumäniens anzuerkennen, mit einem «Njet» zum Vorschlag der Angelsachsen, Frankreich und China auch dann an der Vorbereitung von Friedensverhandlungen zu beteiligen, wenn sie die Waffenstillstandsvereinbarung mit dem betreffenden Land nicht unterzeichnet hatten (was auf den Fall Rumänien zutraf).
Sehr viel ernster nahmen die Westmächte die eindeutige Verletzung einer in Potsdam getroffenen Absprache: die Verstärkung der in Nordiran stationierten sowjetischen Truppen und die von der kommunistischen Tudeh-Partei gesteuerte separatistische Bewegung in den iranischen Teilen von Aserbaidschan und Kurdistan, wo im Dezember 1945 autonome Republiken ausgerufen wurden. Erst nachdem Iran im März 1946 mit Unterstützung der USA und Großbritanniens das aggressive Vorgehen der Sowjetunion vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gebracht hatte, versprach Moskau den Rückzug der sowjetischen Truppen innerhalb von sechs Wochen. Gleichzeitig erhöhte die Sowjetunion aber ihren Druck auf die Türkei. Sie verlangte von Ankara nicht nur eine Mitkontrolle über die Meerengen, sondern auch die Rückgabe der 1921 abgetretenen südkaukasischen Gebiete um Kars, Ardahan und Artvin und kündigte im März 1946 den 1925 abgeschlossenen sowjetisch-türkischen Nichtangriffs- und Neutralitätspakt. Um seinen Forderungen militärischen Nachdruck zu verleihen, ordnete Stalin massive Truppenkonzentrationen an der Grenze zur Türkei an.
Die Zuspitzung des sowjetisch-türkischen Konflikts sollte im Sommer 1946 zu einer grundsätzlichen Umorientierung der amerikanischen Politik gegenüber der Sowjetunion führen und wesentlich zum Ausbruch des «Kalten Krieges» beitragen. Im Frühjahr 1946 aber konnte man von einem endgültigen Bruch zwischen West und Ost noch nicht sprechen. Die USA stellten die sowjetische Vorherrschaft in Ostmittel- und Südosteuropa nicht in Frage. Im Februar 1946 erkannte Washington nach langem Zögern die von der Sowjetunion eingesetzte Regierung Rumäniens an. In Sofia, Bukarest und Warschau hatten moskautreue Kommunisten zu dieser Zeit längst die Schlüsselstellungen im Regierungs- und Staatsapparat besetzt. In Budapest und Prag waren sie maßgeblich an der Regierung beteiligt. In der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands wurden unter massivem Druck der Besatzungsmacht im April 1946 die Kommunistische und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands zusammengeschlossen, womit der Grund gelegt war für die Hegemonie der Kommunisten und die Gleichschaltung der übrigen Parteien. Churchill übertrieb nicht, als er im März 1946 in Fulton von einem «Eisernen Vorhang» sprach, der Europa in zwei Teile spaltete.
Die in Jalta gezogene Demarkationslinie trennte aber nicht einfach «Ost» und «West». Sie verlief vielmehr quer durch den alten Okzident hindurch. Zum neuen «Osten» gehörten nicht nur zwei byzantinisch-orthodox geprägte Länder, Bulgarien und Rumänien, sondern auch der lateinisch oder westkirchlich geprägte östliche Grenzraum des alten Okzidents mit dem Baltikum, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Der neue transatlantische «Westen» umschloß nicht nur Länder des Okzidents, sondern auch, nachdem der Bürgerkrieg 1949 mit einer Niederlage der Kommunisten geendet hatte, das orthodoxe Griechenland und die islamische Türkei. Die historischen Begriffe «Westen» und «Osten» wurden während des «Kalten Krieges» so sehr vom neuen Ost-West-Gegensatz überlagert, daß die ältere Wirklichkeit und Begrifflichkeit darüber immer mehr in Vergessenheit gerieten.
Rein europäische Weltmächte gab es seit 1945 nicht mehr. Die Weltmächte von 1945, die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion, waren die Flügelmächte der Anti-Hitler-Koalition. Beiden fiel innerhalb ihres Einflußbereiches eine hegemoniale Position zu. Die ansatzweise «Bipolarität», wie sie sich 1945 herausformte, war aber vorerst eine asymmetrische. Solange nur einer der «Großen Zwei», die USA, Atomwaffen herstellen konnte, bedeutete das einen entscheidenden Machtvorsprung vor dem weltpolitischen Rivalen. Aber auch in wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht waren die USA der Sowjetunion überlegen. Sie waren der neue Weltbankier und der Dollar die globale Leitwährung. Von einem «Gleichgewicht» zwischen den Vereinigten Staaten und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken konnte man daher in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch nicht sprechen.
Die meisten europäischen Länder gehörten nach 1945 zur Einflußsphäre einer der beiden verbliebenen Weltmächte. Von der koreanischen Halbinsel abgesehen, standen die USA und die Sowjetunion nirgendwo einander so unmittelbar gegenüber wie auf dem «alten Kontinent». Aber Europa bildete nur einen kleinen Teil der Welt, und was europäische Mächte in anderen Kontinenten ihrer Herrschaft unterworfen hatten, war 1945 kein sicherer Besitz mehr. Eine «Dritte Welt» gab es unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg noch nicht. Aber zwei der Staaten, die zwischen 1945 und 1949 neu entstanden, Indien und Indonesien, waren schon von der bloßen Größe her dazu prädestiniert, eine führende Rolle zu übernehmen, wenn sich die Länder außerhalb der Einflußsphären der «Großen Zwei» eines Tages anschicken sollten, ihre gemeinsamen Interessen wahrzunehmen.
Die Sowjetunion hatte sich von jeher als antiimperialistische Macht verstanden, was sie nicht daran hinderte, China gegenüber in der Mandschurei eine Politik zu betreiben, mit der sie in die Fußstapfen des imperialistischen Zarenreiches trat. Nach 1945 konnte Moskau mehr denn je darauf setzen, daß sich aus den nationalen Befreiungsbewegungen Kämpfer für den globalen Klassenkampf und damit für die Weltrevolution rekrutieren lassen würden. Die Vereinigten Staaten, die ihre Existenz einer antikolonialen Revolution verdankten, mußten sich schon deshalb vom Kolonialismus distanzieren, weil sie sich sonst gegenüber der Sowjetunion eine Blöße gegeben hätten.
Der Zweite Weltkrieg hat der Emanzipation der Kolonialvölker Auftrieb gegeben – aber nicht, weil sein Urheber, Adolf Hitler, das gewollt hätte, sondern weil der von ihm entfesselte Krieg die alten Kolonialmächte nachhaltig schwächte. Am Ende dieses Krieges waren die Tage des britischen Empire, das Hitler stets bewundert hatte, gezählt, und die des französischen Kolonialreiches ebenso. Die Nachkriegsordnung, deren erste Umrisse 1945 erkennbar wurden, trug mithin in Europa wie in Asien auf eine paradox anmutende Weise immer noch einen deutschen Stempel: Sie war weithin das Resultat des zweiten, katastrophal gescheiterten Versuchs, aus dem 1871 gegründeten Deutschen Reich eine Weltmacht, ja die Weltmacht schlechthin zu machen.[33]