1.
Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts:
Der Erste Weltkrieg
Schlachten und
Kriegsverbrechen:
Das militärische Geschehen 1914–1916
Kurz würde der Krieg sein und mit einem Sieg des eigenen Landes enden: In dieser Erwartung waren sich die Menschen einig, die im August 1914 in Berlin, Wien, Paris, London oder St. Petersburg den ins Feld ziehenden Soldaten zujubelten. Wenige Monate reichten aus, um in allen kriegführenden Ländern Ernüchterung einziehen zu lassen. Mit einer raschen Niederwerfung der Feinde konnte man seit Ende 1914 nicht mehr rechnen. Dieser Krieg hatte von Anfang an andere, größere Dimensionen als die europäischen Waffengänge der Vergangenheit, an denen viele der älteren Zeitgenossen selbst noch teilgenommen hatten.
Die Kriegsgegner der ersten vier Wochen waren auf der einen Seite die beiden Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn, auf der anderen die Tripelentente Rußland, Frankreich und Großbritannien sowie Serbien, Montenegro und Japan. Das neutrale Belgien wurde zum Kriegsgegner Deutschlands, weil es sich einem Berliner Ultimatum nicht gebeugt hatte, sondern sich dem Bruch des Völkerrechts widersetzte. Im Oktober 1914 trat die Türkei, im Oktober 1915 Bulgarien auf der Seite der Mittelmächte in den Krieg ein. Die Tripelentente wurde im Mai 1915 durch den Kriegseintritt Italiens verstärkt; 1916 folgten Portugal, Rumänien und Griechenland.
In den ersten Wochen des Krieges wühlte nichts die internationale Öffentlichkeit so sehr auf wie die deutschen Kriegsgreuel im neutralen Belgien. Die belgische Armee leistete unerwartet starken Widerstand gegen die deutschen Invasionstruppen; vereinzelt mögen sich auch nichtuniformierte Angehörige der Garde civique an den Kämpfen beteiligt haben. Beim deutschen Militär kam jedenfalls sogleich eine panikartige Angst vor «Franctireurs» auf, wie sie im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 in Erscheinung getreten waren. Die Antwort bestand in der Zerstörung privater und öffentlicher Gebäude, in Geiselnahmen und der wahllosen Exekution von Zivilisten, die fälschlich beschuldigt wurden, auf deutsche Soldaten geschossen zu haben. In Löwen wurden Ende August große Teile der mittelalterlichen Stadt, darunter die wertvolle Bibliothek der Katholischen Universität, niedergebrannt. Insgesamt kamen während der Massaker zwischen August und Oktober 1914 5521 belgische Zivilisten um. Ungezählt blieben die Vergewaltigungen belgischer Frauen und Mädchen durch deutsche Soldaten. Immer wieder behauptet, aber nicht bewiesen wurden Verstümmelungen wie das Abhacken von Kinderhänden: vermutlich ein Phantasieprodukt, dessen psychologische Ursprünge in der kolonialen Praxis im Kongo Leopolds II., des 1909 verstorbenen Königs der Belgier, lagen.
John Horne und Alan Kramer, die Autoren der bislang gründlichsten Untersuchung der deutschen Kriegsgreuel von 1914, nennen den Irrglauben der Deutschen, die Belgier führten einen «Volkskrieg» gegen sie, einen «außerordentlichen Fall von Autosuggestion, wie er in einem modernen Heer seinesgleichen sucht». Was es tatsächlich an Grausamkeiten von deutscher Seite gab, war so schrecklich, daß in Belgien, Frankreich und England auch das für wahr gehalten wurde, was wohl eher einer erregten Einbildung entsprang: die abgehackten Kinderhände, die, in den Worten von Horne und Kramer, zu einer «Allegorie auf die Invasion, den Feind und den Krieg» wurden. Das brutale Vorgehen der deutschen Truppen in Belgien und kurz darauf auch in Nordfrankreich wurde als typischer Ausdruck des preußischdeutschen Militarismus gedeutet: unvereinbar mit der auch vom Deutschen Reich unterzeichneten Haager Landkriegsordnung von 1907 und dem Anspruch der Deutschen, eine der führenden Kulturnationen der Welt zu sein. Fortan fiel es den alliierten Kriegspropagandisten leicht, die barbarischen Feinde als die Hunnen der Gegenwart und Kaiser Wilhelm II. als Wiedergeburt König Attilas darzustellen.
Gegen solche Angriffe versuchten sich Anfang Oktober 1914 93 bekannte deutsche Gelehrte, Künstler und Intellektuelle, unter ihnen der Zoologe und sozialdarwinistische Philosoph Ernst Haeckel, der Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur Rudolf Eucken, der Chemiker Fritz Haber, der Immunologe und Nobelpreisträger für Medizin Paul Ehrlich, die Historiker Eduard Meyer und Karl Lamprecht, der Maler Max Liebermann und der Dichter Gerhart Hauptmann, mit ihrer Unterschrift unter einem amtlich inspirierten «Aufruf an die Kulturwelt» zu verteidigen. Darin stritten sie eine deutsche Kriegsschuld ebenso ab wie eine freventliche Verletzung der belgischen Neutralität; sie behaupteten, daß das Leben und das Eigentum keines belgischen Bürgers angetastet worden seien, außer wenn es die bitterste Notwehr geboten habe; sie leugneten das Zerstörungswerk deutscher Truppen in Löwen und verstiegen sich zu der Aussage: «Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden vertilgt worden.» Die Wirkung im feindlichen und im neutralen Ausland war verheerend: Die geistige Elite Deutschlands schien sich von eben jener «Kulturwelt» verabschiedet zu haben, an die sie in ihrem patriotischem Manifest appellierte.
Im September 1914 kam der deutsche Vormarsch in Nordfrankreich zum Stehen. Der tief pessimistisch gestimmte deutsche Generalstabschef Helmuth Graf von Moltke («der Jüngere») gab die Schlacht an der Marne ohne zwingenden Grund verloren, ordnete überstürzt den Rückzug an und wurde am 14. September durch den preußischen Kriegsminister Erich von Falkenhayn abgelöst. Der «Schlieffenplan» – das strategische Kalkül, nach einem Durchbruch in Belgien und Lothringen die französischen Streitkräfte rasch niederzuwerfen, um dann die Hauptmasse der deutschen Armeen in den Kampf gegen Rußland zu schicken – war damit gescheitert. Den Deutschen gelang es nicht, die wichtigsten Häfen am Ärmelkanal, darunter Dünkirchen und Boulogne-sur-Mer, einzunehmen, über die der Nachschub der britischen Expeditionary Force lief. Die Materialschlachten vom Herbst 1914, bei denen mal die eine, mal die andere Seite Erfolge verbuchte, verliefen äußerst verlustreich. Die Westfront zwischen Flandern und dem Oberelsaß erstarrte zum Stellungskrieg.
Im Osten erreichte Deutschland in den ersten Kriegsmonaten, was ihm im Westen im ganzen Krieg versagt blieb: einen militärischen Triumph über den Gegner. Ende August 1914 schlug die 8. Armee unter dem nominellen Kommando des reaktivierten Infanteriegenerals Paul von Hindenburg und dem tatsächlichen seines Stabschefs General Erich Ludendorff, der kurz zuvor Lüttich erobert hatte, bei Ortelsburg die nach Ostpreußen eingedrungene russische Narew-Armee. Benannt wurde die Schlacht freilich aus Gründen der historischen Symbolik nach dem nahe gelegenen kleinen Ort Tannenberg, wo 1410 Polen und Litauer das Heer des Deutschen Ritterordens vernichtet hatten.
Im September folgte der Sieg über die Njemen-Armee an den masurischen Seen. Die schwerste und endgültige Niederlage der Russen in Ostpreußen war die in der masurischen Winterschlacht vom Februar 1915. Auch an der polnischen Front konnten die dort eingesetzten deutschen und österreichischen Verbände im Herbst 1914 beträchtliche Geländegewinne erzielen. Im Frühjahr 1915 aber scheiterte ein Versuch der österreichisch-ungarischen Truppen, die Russen in den Karpaten zurückzudrängen. Die Donaumonarchie, die bereits 1914 1,2 Millionen Mann verloren hatte, büßte weitere 800.000 Mann ein: ein Schlag, von dem sich der wichtigste Verbündete Deutschlands bis zum Kriegsende nicht mehr erholen sollte.
Zusammen konnten die beiden Mittelmächte das Zarenreich dennoch weiterhin massiv bedrängen. Zwischen Mai und Oktober 1915 eroberten sie Litauen, Kurland und Russisch-Polen und vertrieben die Russen aus Galizien. Während ihres Rückzugs deportierte die russische Armee im vermeintlichen Interesse ihrer eigenen Sicherheit über 1,6 Millionen Litauer, Letten, Juden und Polen ins russische Hinterland – ein Vorspiel zu dem noch weit grausameren Schicksal, das das Zarenreich im Jahr 1916 turkmenischen und kirgisischen Nomaden bereitete, nachdem diese sich gegen die Einbeziehung der Muslime in die allgemeine Wehrpflicht aufgelehnt hatten: Etwa 500.000 von ihnen wurden ihrer Herden und ihrer sonstigen Habe beraubt und in die Berge oder Wüste vertrieben, wo sie elend umkamen. Seit dem Herbst 1915 entwickelte sich dann auch im Osten ein zäher Stellungskrieg, der im Sommer 1916 durch die «Brussilow-Offensive» der Russen unterbrochen wurde. Die Armee der Donaumonarchie erlitt in der Bukowina eine verheerende Niederlage. Der Frontenverlauf sollte sich von da an bis zur russischen Februarrevolution von 1917 nicht mehr wesentlich verändern.
Die militärische Lage erlaubte es den beiden Mittelmächten, am 5. November 1916 durch eine gemeinsame Erklärung von Kaiser Wilhelm II. und Kaiser Franz Joseph auf dem Gebiet von Russisch-Polen einen polnischen Staat, das «Königreich Polen», zu proklamieren. Die eigentliche Exekutive lag aber nicht bei dem neugebildeten polnischen Staatsrat in Warschau, sondern in den Händen des deutschen Generalgouverneurs in Warschau und des österreichischen Generalgouverneurs in Lublin. Von einem «selbständigen» Polen konnte also keine Rede sein, ebensowenig von gesicherten Grenzen. Deutschland behielt sich die Annexion eines «Grenzstreifens» vor, zu dem auch polnische Teile des oberschlesischen Industriegebiets gehören sollten. Offen blieb die Zukunft zweier anderer von deutschen Truppen besetzter Gebiete: Litauens und Kurlands. Auf eine Angliederung des Baltikums an das Deutsche Reich drängten außer den Alldeutschen vor allem die deutschbaltische Oberschicht und viele der in Deutschland lebenden und wirkenden Deutschbalten.
Im Westen gab es 1915/16 auf beiden Seiten immer wieder Versuche, aus dem Stellungskrieg auszubrechen. Ende April 1915 setzten dabei deutsche Truppen bei Ypern erstmals Giftgas ein. Ende Februar 1916 begann Generalstabschef von Falkenhayn eine Offensive mit dem Ziel, die Festung Verdun einzunehmen. In erbitterten Kämpfen verloren bis zum Juni Deutsche und Franzosen jeweils weit über 200.000 Mann. Mitte Juli brach Falkenhayn die Schlacht ab, um die britische Offensive an der Somme abwehren zu können. Zusammen hatten hier Briten, Deutsche und Franzosen bis zum November Verluste von über 1 Million Mann. Das sachliche Ergebnis waren geringfügige Geländegewinne der Alliierten. Falkenhayn bezahlte den Mißerfolg mit seiner Ablösung als Generalstabschef. Im August 1916 wurde die Dritte Oberste Heeresleitung (OHL) mit Hindenburg als Generalstabschef und Ludendorff als Generalquartiermeister berufen.
Ludendorff war fortan der «starke Mann» des deutschen Militärs, Hindenburg aber die populäre Galionsfigur: Er wurde, entgegen den historischen Tatsachen, von den Propagandisten des Heeres zum «Sieger von Tannenberg» stilisiert und diente bald, da Wilhelm II. als Kriegsheld denkbar ungeeignet war und seit dem August 1914 nur noch wenig in Erscheinung trat, als eine Art «Ersatzkaiser». An der Westfront eine Wende zum Besseren herbeizuführen gelang den beiden Feldherren freilich nicht: Zwischen Oktober und Dezember 1916 eroberten die Franzosen jene Festungswerke bei Verdun zurück, die ihnen zuvor von den Deutschen abgenommen worden waren.
Auch zur See bewegte sich in den ersten zwei Kriegsjahren zwischen Deutschland und den beiden Westmächten nur wenig. Großbritannien hatte auf Betreiben von Marineminister Winston Churchill eine Fernblockade in der Nordsee von den Shetland-Inseln bis zum südlichen Norwegen verhängt, durch die Deutschland von Rohstoff- und Lebensmitteleinfuhren abgeschnitten wurde und keine Güter mehr nach Übersee exportieren konnte. Die deutsche Antwort war zunächst der Einsatz von Untersee- und Minenbooten, während die Hochseeflotte nach dem Willen des Staatssekretärs im Reichsmarineamt, des Großadmirals von Tirpitz, auf ihre große Stunde noch warten sollte.
Im März 1915 ordnete die OHL den uneingeschränkten U-Boot-Krieg an, was die Vollmacht in sich schloß, auch neutrale Schiffe, und zwar ohne vorherige Warnung, anzugreifen. Die erste fatale Folge dieser neuen Strategie war die Versenkung des britischen Passagierdampfers «Lusitania», der auch Munition geladen hatte, im Mai 1915. Zu den 1200 Opfern gehörten auch über 120 amerikanische Bürger. Die Regierung in Washington antwortete mit ultimativen Protesten, die im September 1915 zur Einschränkung des deutschen U-Boot-Krieges führten. Zum ersten größeren Einsatz der Hochseeflotte kam es Ende Mai 1916 im Skagerrak. Die Briten erlitten zwar schwerere Verluste als die Deutschen, konnten aber eine Durchbrechung ihrer Blockade verhindern. Die Seekriegsleitung verlangte daraufhin die Rückkehr zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg, konnte sich damit aber bei Kaiser Wilhelm II. und Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg vorerst nicht durchsetzen. Tirpitz quittierte seine Niederlage mit dem Rücktritt vom Amt des Staatssekretärs des Reichsmarineamtes.
Verglichen mit Frankreich und Rußland waren Südosteuropa und der Mittelmeerraum Nebenschauplätze des Ersten Weltkrieges. Bis Ende 1914 konnten die Mittelmächte ganz Serbien erobern; im Januar 1915 kapitulierte auch Montenegro; im Herbst 1916 fiel der größte Teil Rumäniens in die Hände der Deutschen und Österreicher. Schwerer als diese Erfolge wog jedoch der Kriegseintritt Italiens an der Seite der Entente im Mai 1915. Vorausgegangen waren Verhandlungen, in denen Italien von Österreich-Ungarn als Kompensation für dessen Herrschaftsansprüche auf dem Balkan die Abtretung des Trentino, von Görz, Gradisca und Istrien mit Triest sowie mehreren dalmatinischen Inseln verlangt hatte: Forderungen, auf die Wien unter dem Druck Berlins in beträchtlichem Umfang, aber nicht so weitgehend einging, wie es Großbritannien, Frankreich und Rußland in parallel geführten Geheimverhandlungen taten. Deren Ergebnis war der geheime Londoner Vertrag vom April 1915, in dem sich Italien von der Entente die Angliederung von Südtirol, Triest und Istrien außer Fiume, auf kroatisch Rijeka, das nördliche und mittlere Dalmatien mit den vorgelagerten Inseln sowie die volle Souveränität über die Inseln des Dodekanes zusichern ließ. Außerdem sollte Italien eine Einflußzone an der Mittelmeerküste der Türkei und die Oberhoheit über ein verkleinertes Albanien erhalten.
Ministerpräsident Salandra neigte, ebenso wie Außenminister Sonnino, den kriegswilligen «Interventionisten» zu, hatte aber die Mehrheit der Abgeordnetenkammer gegen sich und trat am 21. Mai 1915 zurück. Sein Vorgänger Giolitti, ein Befürworter der Neutralität Italiens, konnte mit einer parlamentarischen Mehrheit rechnen, wollte aber nicht selbst die Regierung übernehmen. Am Ende gab der Druck der überwiegend bürgerlichen, häufig studentischen Demonstranten auf den Straßen Roms und anderer großer Städte den Ausschlag. Bei ihnen fanden die entschiedenen Interventionisten, an ihrer Spitze der nationalistische Dichter Gabriele D’Annunzio und der frühere radikale Marxist und Syndikalist Benito Mussolini, seit seinem Bruch mit der entschieden anti-interventionistischen Sozialistischen Partei im November 1914 Redakteur der von ihm gegründeten, von der Industrie wie auch von Frankreich finanzierten Zeitung «Il Popolo d’Italia», den größten Zuspruch. König Viktor Emanuel III. stellte sich auf die Seite der lautstarken nationalistischen Minderheit. Er nahm Salandras Rücktritt nicht an und veranlaßte ihn zur Weiterführung der Regierungsgeschäfte. Daraufhin schwenkte auch die liberale Kammermehrheit auf die interventionistische Linie ein und gewährte der Regierung die von ihr geforderten außerordentlichen Vollmachten. Am 23. Mai 1915 erklärte Italien Österreich-Ungarn den Krieg; mit den Kriegserklärungen an die Türkei und Deutschland wartete es bis zum August 1916. Im Juni begann die erste der insgesamt elf Isonzoschlachten. Sie brachten Italien bis 1917 schwere Verluste an Menschenleben und nur geringfügige Gebietsgewinne ein.
Früher als Italien war das Osmanische Reich in den Krieg eingetreten: Ende Oktober 1914 lief die türkische Flotte aus, um, ganz auf der Linie des am 2. August geschlossenen Bündnisses mit dem Deutschen Reich, russische Schwarzmeerhäfen zu verminen und zu beschießen. Das Zarenreich antwortete am 3. November mit der Kriegserklärung an die Türkei; am 5. November taten Großbritannien und Frankreich denselben Schritt. Zwei Monate später, im Januar 1915, brachten die Russen der türkischen Armee im Südkaukasus eine schwere Niederlage bei. An einer anderen Front waren die Türken hingegen erfolgreich: Sie vereitelten Ende April 1915 einen Versuch alliierter Truppen, zum großen Teil solcher aus den britischen Dominions Australien und Neuseeland, die Halbinsel Gallipoli nördlich der Dardanellen zu besetzen.
In ebendiesen Tagen, am 24./25. April 1915, begann in Istanbul die Verhaftung und Deportation von über 200 mehr oder minder prominenten Armeniern, die wenig später fast alle umgebracht wurden, das schrecklichste Kapitel des Ersten Weltkrieges: der Völkermord an den Armeniern. Brutaler Gewalt waren die Armenier schon unter Sultan Abdulhamid II. ausgesetzt gewesen: 1884 und 1896 kamen in Pogromen bis zu 200.000 Menschen um. Während der Pogrome vom Frühjahr 1909, die mit der Revolution der Jungtürken zusammen fielen, starben zwischen 15.000 und 20.000 Armenier. Es gab zwar ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen den im Osmanischen und den im Zarenreich lebenden Armeniern und seit dem späten 19. Jahrhundert auch revolutionäre Gruppen, die, teilweise mit russischer Unterstützung, gegen die Unterdrückung durch die türkischen Islamisten kämpften. Aber von einem kollektiven Widerstand der Armenier gegen die türkische Herrschaft konnte keine Rede sein.
Der regierenden Partei der Jungtürken, Ittihat ve Terakki (Einheit und Fortschritt), unter Talaat Pascha ging es von Anfang an um mehr als die Einschüchterung einer vermeintlich unzuverlässigen Bevölkerungsgruppe oder um die Beseitigung der verbliebenen Selbständigkeit der nichtmuslimischen Religionsgenossenschaften, der Millets. Ittihat Terakki wollte aus dem osmanischen Vielvölkerreich einen homogenen türkischen Nationalstaat machen und darum die Armenier, die seit dem Verlust fast des ganzen europäischen Territoriums der Türkei in den Balkankriegen von 1912/13 mit 2,1 Millionen Menschen die größte christliche Minderheit stellten, vertreiben oder vernichten. Das galt nicht nur für diejenigen unter ihnen, die in den an Rußland grenzenden Gebieten im Osten Anatoliens lebten, sondern für alle Armenier des Osmanischen Reiches. Der Krieg bot für die Durchführung dieses Vorhabens die denkbar günstigste Gelegenheit.
Dem Völkermord von 1915 fielen bis zu 1,5 Millionen armenische Männer, Frauen und Kinder zum Opfer. Sie starben auf Todesmärschen durch wüstenartige Gebiete, durch Folter und Erschießungen; sie verhungerten, wurden ertränkt oder verbrannt. In manchem, vor allem was die Vertreibung in die Wüste angeht, wirkte die Ausrottung der Armenier wie eine Nachahmung der Vernichtung der Herero durch die Deutschen in Südwestafrika in den Jahren 1904 und 1905, des ersten systematischen Genozids des 20. Jahrhunderts. Die deutschen Diplomaten und Militärs, die in der Türkei lebten und arbeiteten, waren über die Massaker genauestens informiert und durch sie auch die Regierenden in Berlin. Obwohl einzelne Augenzeugen wie der Potsdamer evangelische Theologe Johannes Lepsius die Reichsleitung immer wieder drängten, in Istanbul vorstellig zu werden, lehnten Reichskanzler und Auswärtiges Amt einen energischen Protest ab. Sie wollten den Verbündeten nicht verprellen, auf den sich das Deutsche Reich seit 1914 mehr denn je angewiesen sah, und begnügten sich deshalb mit höflichen Bitten, auf Gewaltexzesse zu verzichten.
Zur Peripherie des Kriegsgeschehens gehörten die deutschen Kolonien. Schon in den ersten Monaten des Krieges wurden Neuguinea und die Samoainseln von australischen beziehungsweise neuseeländischen Truppen, die Marschall-Inseln, die Marianen, die Palauinseln und die Karolinen von japanischen Truppen besetzt. Japan zwang im November 1914 auch Tsingtau zur Kapitulation. In Afrika fiel noch 1914 Togo in die Hände der Alliierten; es folgten 1915 Deutsch-Südwestafrika und 1916 Kamerun. Am heftigsten und längsten wurde in Deutsch-Ostafrika gekämpft. Im September 1916 eroberten Verbände des britischen Empire Daressalam. Bis Kriegsende aber konnte die deutsche Schutztruppe unter General von Lettow-Vorbeck einen großen Teil der Kolonie behaupten und darüber hinaus in den portugiesischen Teil von Ostafrika eindringen.[1]
Kriegsziele, ideologische Kriegführung, Kriegsgegnerschaft
«Uns treibt nicht Eroberungslust», hatte Kaiser Wilhelm II. in seiner Thronrede vom 4. August 1914 vor dem Reichstag erklärt und es damit den Sozialdemokraten ermöglicht, den von der Reichsleitung geforderten Kriegskrediten zuzustimmen. Doch schon bald wurde die Behauptung, Deutschland führe einen Verteidigungskrieg, von einflußreichen Kreisen in Frage gestellt. Zwar war eine öffentliche Diskussion über die deutschen Kriegsziele bis zum November 1916 verboten. Hinter den Kulissen aber wurde dafür um so eifriger über den Zugewinn an Gebieten, Ressourcen und Macht gesprochen und geschrieben, mit dem das Deutsche Reich aus dem Krieg hervorgehen sollte.
Im September 1914 faßte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg seine Vorstellungen in einem Programm zusammen, das auf ein deutsch beherrschtes Mitteleuropa und damit auf eine deutsche Hegemonie auf dem Kontinent hinauslief. Die Annexion des nordlothringischen Erzbeckens von Longwy-Briey und der Festungsstadt Belfort gehörte ebenso dazu wie die Angliederung Luxemburgs und die Degradierung Belgiens zu einem Vasallenstaat. Zu Rußland hieß es vorerst nur ganz allgemein, daß es «von der deutschen Grenze abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden» müsse. Die Nachbarstaaten einschließlich Österreich-Ungarns, Frankreichs und eventuell «Polens» sollten einem mitteleuropäischen Wirtschaftsbund beitreten, und «zwar unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung».
Das «Septemberprogramm» des Reichskanzlers deckte sich weithin mit dem, was auch die exportorientierten Industriebranchen und die Deutsche Bank für notwendig hielten. Sehr viel weiter gingen die extrem nationalistischen Alldeutschen und einzelne Schwerindustrielle. Heinrich Claß, der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes, verlangte bereits Ende August 1914, Rußland müsse auf die Grenzen der Zeit vor Peter dem Großen zurückgeworfen, das Baltikum sowie Teile von Russisch-Polen, Weißrußland und Nordwestrußland deutsch besiedelt werden; die russischen Juden seien nach Palästina auszusiedeln. Der Schwerindustrielle August Thyssen forderte im September 1914 die Einverleibung Belgiens, mehrerer ostfranzösischer Departements und der baltischen Provinzen des Zarenreiches. Um die Rohstoffversorgung für die Zukunft zu sichern, sollte das Deutsche Reich möglichst auch die Krim, die Gebiete um Odessa und Asow sowie den Kaukasus unter seine Kontrolle bringen.
Im Frühjahr 1915 stellten sich die führenden Wirtschaftsverbände und zahlreiche deutsche Professoren, Beamten und Künstler, an ihrer Spitze der Berliner Theologe Reinhold Seeberg, ein Baltendeutscher, auf den Boden des alldeutschen Programms. Eine deutlich kleinere Gruppe gemäßigter Intellektueller um den Herausgeber des «Berliner Tageblatts», Theodor Wolff, und den Historiker Hans Delbrück schloß im Juli 1915 die «Einverleibung und Angliederung politisch selbständiger und an Selbständigkeit gewöhnter Völker» im Westen, nicht aber Gebietserweiterungen im Osten aus. Die ausführlichste Darlegung dessen, was die moderaten Imperialisten erstrebten, war ein 1915 erschienenes Buch des linksliberalen Politikers und studierten Theologen Friedrich Naumann mit dem Titel «Mitteleuropa». Der Autor knüpfte an das großdeutsche Erbe der Revolution von 1848 und an das 1806 untergegangene Alte Reich an, als er das Bild eines «im Kern deutschen» Mitteleuropa zeichnete, das sich um das staatenbundartig verbundene deutsch-österreichisch-ungarische Wirtschaftsgebiet herum organisieren müsse. In einem waren sich gemäßigte und radikale Imperialisten einig: Der deutsche Kolonialbesitz mußte, vor allem in Mittelafrika, beträchtlich ausgeweitet werden, weil anders der Anspruch Deutschlands, eine Weltmacht zu sein, nicht durchzusetzen war.
Die deutsche Kriegszieldiskussion ist besser erforscht als die der anderen kriegführenden Mächte, und sie war auch die am weitesten ausgreifende. In Frankreich gab es hinsichtlich eines Kriegszieles breite Übereinstimmung: Elsaß und Lothringen, die beiden Ostprovinzen, die Deutschland 1871 annektiert hatte, sollten wieder französisch werden. Ebenso unstrittig war, daß die Souveränität Belgiens wiederhergestellt werden mußte und Frankreich Anspruch auf deutsche Reparationen hatte. Führende Militärs sowie nationalistische Politiker und Intellektuelle gingen über dieses bescheidene Programm hinaus, ebenso das schwerindustrielle Comité des Forges mit seinem Generalsekretär Robert Pinot. Zu den Forderungen dieser Kreise gehörte obenan die Annexion des kohlereichen Saargebietes. Generalstabschef Joffre verlangte 1916 überdies als «Garantien» gegen jede künftige Bedrohung Frankreichs die Abtretung des linken Rheinufers von Deutschland, die Aufteilung dieses Gebiets in mehrere, von Frankreich abhängige Kleinstaaten und die Schaffung französischer Brückenköpfe am rechten Rheinufer. Die radikal nationalistische «Action française» wollte sich mit der Neutralisierung des linksrheinischen Gebiets nicht begnügen, sondern forderte die Annexion durch Frankreich. Sie stieß damit aber, als 1916 erstmals öffentlich über Kriegsziele diskutiert werden durfte, auf vehementen Widerspruch bei den Sozialisten.
Raymond Poincaré, der Präsident der Republik, teilte die Positionen der nationalistischen Rechten: Wie diese wollte er das Deutsche Reich als einheitlichen Staat zerschlagen. Aus Rücksicht auf die gespaltene öffentliche Meinung und den britischen Verbündeten hielt er sich aber mit Festlegungen zurück. Ministerpräsident Aristide Briand schloß am 10. März 1917, wenige Tage vor der russischen «Februarrevolution», einen Geheimvertrag mit der Regierung des Zarenreiches, in dem er sich die russische Zustimmung zur Annexion des Saargebietes und zur Umwandlung des linksrheinischen Deutschland in einem vom Reich abgetrennten, neutralen Staat sicherte. Rußland sollte dafür sein Gebiet im Westen, auf Kosten Polens und der Mittelmächte, vergrößern dürfen und dabei freie Hand haben, was auch ein Ja zur Annexion Ostpreußens einschloß. Eine andere Zusage hatte die russische Regierung bereits im März 1915 von Frankreich und Großbritannien erhalten: Nach der Niederwerfung der Türkei sollten Konstantinopel und die Meerengen am Bosporus an das Zarenreich fallen.
Über die Aufteilung des Osmanischen Reiches waren sich Großbritannien und Frankreich im Grundsatz einig. Im Mai 1916 steckten sie im Sykes-Picot-Abkommen ihre Interessensphären ab: Aus den arabisch besiedelten Reichsteilen sollte ein «unabhängiger» Staat oder eine Konföderation von Staaten unter einem arabischen Oberhaupt, aber unter britisch-französischer Kontrolle gebildet werden, wobei die Vorherrschaft im Libanon, in Syrien und im Gebiet um Mosul Frankreich, im übrigen Mesopotamien und in Ägypten Großbritannien zufiel. Für Palästina war eine internationale Verwaltung vorgesehen. Das wichtigste Dokument zur Zukunft Palästinas war jedoch die nach dem britischen Außenminister benannte «Balfour Declaration» vom 2. November 1917: Sie unterstützte, ganz im Sinne der Bestrebungen der Zionisten, die Schaffung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina, wobei die Rechte bestehender nichtjüdischer Gemeinschaften nicht beeinträchtigt werden sollten. An der taktischen Hinterabsicht der britischen Regierung gab es nichts zu deuteln: Sie erhoffte sich von den amerikanischen Juden Unterstützung für ihr Werben um einen Kriegseintritt der USA.
Im Hinblick auf Europa beschränkte sich das Foreign Office im Herbst 1916 in einer Denkschrift auf die Forderung nach der Wiederherstellung Belgiens und die Erfüllung der französischen Wünsche in bezug auf Elsaß-Lothringen. Ansonsten sollten das Nationalitätsprinzip beachtet, ganz Polen mit Rußland in Personalunion verbunden und Deutsch-Österreich, als Ausgleich der Gebietsverluste des Reiches, mit Deutschland vereinigt werden: das letztere eine Vorstellung, die den französischen Interessen strikt zuwiderlief. Die Denkschrift folgte damit jedoch nur der alten Maxime der «balance of power»: Ein siegreiches Frankreich durfte nicht zu stark, ein geschlagenes Deutschland nicht zu schwach sein. Im übrigen stimmten Großbritannien und Frankreich darin überein, daß der preußische Militarismus beseitigt und die deutsche Wirtschaftskraft gezügelt werden mußte.[2]
Die ideologische Kriegführung stand auf deutscher Seite im Zeichen der «Ideen von 1914». Der Begriff wurde 1915 von dem Münsteraner Nationalökonom Johann Plenge geprägt; für die Verbreitung des Schlagworts sorgte vor allem der schwedische Staatsrechtler und Geopolitiker Rudolf Kjellén, der sich als Anwalt der deutschen Sache in Deutschland großer Beliebtheit erfreute. Die «Ideen von 1914» waren eine Absage an Liberalismus und Individualismus, an Demokratie und allgemeine Menschenrechte, kurz die Werte des Westens. Deutsche Werte waren dagegen Pflicht, Ordnung und Gerechtigkeit, die allesamt nur ein starker, im Dienst der «Volksgemeinschaft» handelnder Staat gewährleisten konnte. «Seit 1789 hat es in der Welt keine solche Revolution gegeben wie die deutsche Revolution von 1914», schrieb Plenge. «Die Revolution des Aufbaus und des Zusammenschlusses aller staatlichen Kräfte im 20. Jahrhundert gegenüber der zerstörenden Befreiung im 19. Jahrhundert … Unter der Not des Krieges schlug die sozialistische Idee in das deutsche Wirtschaftsleben ein, seine Organisation wuchs in einem neuen Geist zusammen, und so gebar die Selbstbehauptung unserer Nation für die Menschheit die neue Idee der deutschen Organisation, der Volksgenossenschaft des nationalen Sozialismus.»
Als eigentlicher Widerpart des «sozialistischen» Deutschland wurde das «kapitalistische» England wahrgenommen. «Sozialistisch» war Deutschland seit den Sozialversicherungsgesetzen Bismarcks, während England angeblich noch immer dem «laisser faire» des Manchesterliberalismus huldigte. Daß Großbritannien immer mehr in den Vordergrund der ideologischen Kriegführung rückte, hatte zwei Gründe. Zum einen war die Weltmacht Großbritannien, anders als Frankreich, gerade nicht der historische «Erbfeind», sondern das ebenso bewunderte wie beneidete Vorbild, was eine Art Haßliebe hervorrief und eine Dramatisierung des deutsch-britischen Gegensatzes, bis hin zur populären Grußformel «Gott strafe England!», notwendig erscheinen ließ. Zum anderen hatte Rußland nach den deutschen Siegen von 1914/15 als gefährlichster Kriegsgegner «ausgedient», während nichts für einen raschen Sieg über England sprach.
Der katholische Philosoph Max Scheler war einer der ersten, die die Behauptung aufstellten, der Krieg sei «zuerst und zuletzt ein deutsch-englischer Krieg». Der Nationalökonom Werner Sombart stellte 1915 in seinem Buch «Händler und Helden» den englischen «Kommerzialismus» dem deutschen «Militarismus» gegenüber, wobei er den Militarismus als den zum «kriegerischen Geist hinaufgesteigerten heldischen Geist», als «Potsdam und Weimar in höchster Vereinigung» beschrieb. «Er ist ‹Faust› und ‹Zarathustra› und Beethoven-Partitur in den Schützengräben. Denn auch die Eroica und die Egmont-Ouvertüre sind doch wohl echtester Militarismus.»
Die wohl anspruchsvollste Darlegung der «Ideen von 1914» erschien im letzten Kriegsjahr: Thomas Manns «Betrachtungen eines Unpolitischen». Darin deutete der Autor der «Buddenbrooks» den Krieg als Kampf zwischen deutscher Kultur und westlicher Zivilisation. Mann verteidigte den deutschen Obrigkeitsstaat, weil er das tiefste und innerste Wesen Deutschlands, wie es sich in Musik, Dichtung und Philosophie ausdrücke, von der Politik abschirme. Der Krieg war also wesentlich ein Krieg zur Abwehr der «trois pays libres» des Westens, also Frankreichs, Großbritanniens und der Vereinigten Staaten, und ihrer Demokratie. «Die Politisierung des deutschen Kunstbegriffs selbst würde ja seine Demokratisierung bedeuten, ein wichtiges Merkmal der demokratischen Einebnung und Angleichung Deutschlands.»
Britische und französische Intellektuelle brauchten sich nicht einzureden, daß ihr politisches System dem deutschen überlegen war, sie wußten es. Auf der anderen Seite hinderte sie schon das Bündnis mit dem Zarenreich daran, den Krieg als einen Kampf um die Durchsetzung der Demokratie darzustellen. Im Fall Großbritanniens kam noch ein weiteres Hindernis hinzu: Es gab noch nicht das allgemeine, gleiche Männerwahlrecht zum Unterhaus, während in Deutschland dieses Wahlrecht auf Reichsebene seit 1871 galt. In der ideologischen Auseinandersetzung mit Deutschland rückte infolgedessen das in den Vordergrund, was aus der Sicht westlicher Intellektueller spezifisch deutsch war: der preußische Militarismus, den man als zutiefst reaktionär empfand. Als seine geistigen Repräsentanten wurden in England immer wieder der Militärschriftsteller Friedrich von Bernhardi, der Autor des 1912 erschienenen Buches «Deutschland und der nächste Krieg», der Historiker Heinrich von Treitschke, der Urheber des in Deutschland gern zitierten Wortes vom Krieg als dem «examen rigorosum der Völker», und, mit fragwürdigem Recht, auch Friedrich Nietzsche genannt, der alles andere als ein deutscher Nationalist war. Häufig tauchte nach 1914 auch die alte Denkfigur von den zwei Deutschland auf: dem idealistischen Land der Dichter und Denker und dem machtgierigen Soldatenstaat der Hohenzollern, der seit 1871 Deutschland beherrsche.
Mit am prägnantesten arbeitete der Londoner Philosoph und Soziologe Leonard Trelawny Hobhouse 1915 in seinem Buch «The World in Conflict», das aus einer Artikelserie für den liberalen «Manchester Guardian» entstanden war, die geistige Sonderentwicklung Deutschlands, seine Abweichung von der Hauptrichtung des westlichen Denkens, heraus. Deutschland habe eine eigene, auf sich selbst bezogene Kultur hervorgebracht, die sich auf eine bestimmte Idee vom Staat, seinen Ansprüchen an das Individuum und seinen Rechten gegenüber dem Rest der Welt stütze – eine Staatsidee, wie sie die westliche Zivilisation verabscheue. «Die ganze Bewegung der Reaktion, wie wir sie bereits bei Hegel ausgedrückt finden, zielt darauf ab, das alte Ideal wieder in Kraft zu setzen. Der Staat ist der Herr des Menschen (The State is the master of the man), und er kennt keine Gesetze von Gott und Menschlichkeit, die ihn im Umfang mit anderen binden könnten.»
In Frankreich wurde, womöglich noch stärker als in England, seit den deutschen Greueln in Belgien und, kurz darauf, der Zerstörung der Kathedrale von Reims das Klischee von den deutschen «Barbaren» wiederbelebt. Der Philosoph Henri Bergson, der Begründer der Lehre vom «élan vital», benutzte im August 1914 als einer der ersten diesen Begriff. Der Historiker und Publizist Ernest Lavisse brachte 1915 zusammen mit dem Germanisten Charles Andler einen Band unter dem Titel «Pratique et doctrine allemandes de la Guerre» heraus, in dem er in Auseinandersetzung mit Kriegsvorträgen des Leipziger Historikers Karl Lamprecht schrieb, der deutsche Militarismus sei «ein fürchterliches Bündel von materiellen Interessen, Goldgier, natürlicher und barbarischer Brutalität, durch verrückten Hochmut übersteigerter Patriotismus, ein vielschichtiger und mächtiger Mystizismus, wo alles zusammenkommt, um ‹Deutschland über alles› zu erheben». Zwei Jahre später gab Lavisse seiner Hoffnung Ausdruck, die ganze Welt werde anerkennen, daß Frankreich, indem es den barbarischen Ansturm (la ruée barbare) zum Stehen brachte, den gemeinsamen Sieg ermöglicht habe. «Indem es sein Leben verteidigt, wird es die Menschheit von dem verhaßten Joch befreien, mit dem sie eine Macht bedroht, die ihren Hochmut und ihre Begehrlichkeit über die Gerechtigkeit und das Recht stellt» (qui met son orgueil et ses appétits au-dessus de la justice et du droit).
Ganz ähnlich war der Tenor der 1915 erschienenen Schrift «L’Allemagne au-dessus de tout» (Deutschland über alles) des berühmten Soziologen Émile Durkheim. Heinrich von Treitschkes 1899/1900 posthum veröffentlichte Vorlesungen über «Politik» dienten Durkheim als Schlüssel zum besseren Verständnis eines machtversessenen Pangermanismus, den er als einen Fall von sozialer Pathologie bewertete. Der Berliner Historiker hatte gelehrt, daß der Staat Macht war und die Pflicht hatte, stark zu sein; durch internationale Verträge war er nur unter der «clausula rebus sic stantibus» gebunden, das heißt unter dem Vorbehalt, daß die bei Vertragsabschluß geltenden Bedingungen fortbestanden; es gab für den Staat kein Selbstbestimmungsrecht anderer Völker; die bürgerliche Gesellschaft hatte sich ihm unterzuordnen.
Für Durkheim war die Mentalität, zu deren Sprecher sich Treitschke machte und die er prägte, ein krankhafter Wille zur Macht. Deutschland habe sich eine Mythologie geschaffen, wonach es allen Völkern überlegen und die «höchste irdische Verkörperung der göttlichen Macht» (la plus haute incarnation de la puissance divine) sei. Doch die Welt zu bezwingen werde Deutschland nicht gelingen. «Deutschland kann seine selbstgewählte Bestimmung nicht erfüllen, ohne die Menschheit an einem Leben in Freiheit zu hindern, doch das Leben läßt sich nicht dauerhaft in Fesseln legen. Man kann es zwar durch einen mechanischen Eingriff eine Zeitlang eindämmen und lahmlegen. Doch zuletzt wird es sich immer seinen Weg bahnen und die Hindernisse wegräumen, die sich seiner freien Entfaltung entgegenstellen.»
Einer der originellsten Beiträge zur intellektuellen Auseinandersetzung mit Deutschland kam aus den Vereinigten Staaten von Amerika. 1915 legte der Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler Thorstein Veblen, 1857 in Wisconsin als Sohn norwegischer Einwanderer geboren, sein Buch «Germany and the Industrial Revolution» vor. Veblen war einer der wortgewaltigsten Autoren der «Progressive Era»; bekannt gemacht hatte ihn seine 1899 erschienene «Theory of the Leisure Class», eine beißende, weithin satirische Kritik nicht nur der müßigen, dem Luxus frönenden Oberschicht, sondern der Gesellschaft insgesamt. Das Buch von 1915 war einerseits ein sarkastischer Angriff auf das autoritäre und militaristische Preußentum und das von ihm geprägte Deutschland, andererseits eine plakative Verherrlichung der Freiheitsliebe der englischsprechenden Völker. Bei aller polemischen Überspitzung und Verzerrung war Veblens Schrift aber auch eine scharfsinnige und brillante Analyse des «deutschen Sonderwegs» – ein Begriff, der sich freilich erst nach dem Zweiten Weltkrieg einbürgerte.
Deutschland bot, wenn man Veblen folgte, das paradoxe Beispiel eines Landes, das höchste technische Modernität mit einem extrem rückständigen Regierungssystem verband. Was die Industrialisierung betraf, so war Deutschland in die englische Schule gegangen, aber die freiheitlichen Ideen und Institutionen, die England hervorgebracht hatte, übernahmen die Deutschen nicht. Sie waren das Volk ohne erfolgreiche Revolution, in dem das Mittelalter in Gestalt des ostelbischen Junkertums und seines kriegerischen Feudalismus fortlebte. «Der Fall Deutschlands ist ohne Beispiel unter den westlichen Nationen, sowohl was die Plötzlichkeit, die Gründlichkeit und die Reichweite der Aneignung dieser (der englischen, H. A. W.) Technologie anbelangt, als auch im Hinblick auf den archaischen Charakter seines kulturellen Rüstzeugs zum Zeitpunkt der Aneignung.» Mit Preußen als Führungsmacht verfügte Deutschland über kein anderes Bindemittel als Blut und Eisen und über keine anderen als dynastische Ideale.
Deutsche und Engländer hatten infolgedessen ein gegensätzliches Verhältnis zum Militär. «Das deutsche Ideal von Staatskunst besteht … darin, alle Ressourcen der Nation auf die militärische Stärke zu konzentrieren, während es, ganz im Gegensatz hierzu, das englische Ideal ist, die militärische Macht auf das unentbehrliche Mindestmaß zu beschränken, das zur Wahrung des Friedens erforderlich ist.» Die Engländer und die englischsprechenden Völker dachten in den Kategorien der «popular autonomy», die Deutschen in denen des Staates, und zwar des dynastischen Staates. Dementsprechend unterschieden sich der deutsche und der englische Freiheitsbegriff radikal. Aus deutscher Sicht bedeutete Freiheit, Befehle zu geben und freiwillig Befehlen zu folgen; für Engländer lief Freiheit in fast schon anarchistischer Manier darauf hinaus, Befehle im Zweifelsfall nicht befolgen zu müssen.
Mit der Schaffung des Reiches unter Bismarck war Deutschland Veblen zufolge unter die «Herrschaft des aggressivsten und unverantwortlichsten, ja des archaischsten» der deutschen Staaten gekommen – eines Staates, der sein kriegerisches Wesen nicht verleugnen konnte und, gestützt auf sein großes industrielles Potential, unter Bismarcks Nachfolgern zu einer Gefahr nicht nur für seine Nachbarn, sondern für den Westen insgesamt geworden war. Veblen mußte sich gar nicht ausdrücklich für den Kriegseintritt der USA aussprechen. Seine Darstellung des «Prussian-Imperial system» als «typische Ausprägung und Verkörperung der Reaktion gegen den Prozeß der modernen Zivilisation» (the type-form and embodiment of this reaction against the current of modern civilization) ließ nur den einen Schluß zu, daß die englisch-sprechenden Völker der Welt bis zur letzten Konsequenz zusammenstehen mußten, um die westlichen Errungenschaften vor der Bedrohung durch Preußen-Deutschland zu bewahren.[3]
Veblen war ein radikaler Liberaler, aber kein Marxist. Ging man von marxistischen Prämissen aus, konnte die tiefere Ursache des Krieges nur in der Entfaltung der Widersprüche des kapitalistischen Wirtschaftssystems gesucht und gefunden werden. Der Kapitalismus war Ende des 19. Jahrhunderts in das Stadium des Imperialismus eingetreten; der Imperialismus war, wie der Führer der russischen Bolschewiki, Wladimir Iljitsch Lenin, schon im Titel einer Anfang 1916 im Züricher Exil verfaßten, im April 1917 in Petrograd (so seit 1914 der neue russische Name für St. Petersburg) veröffentlichten Schrift behauptete, das «höchste Stadium des Kapitalismus». Dieses Stadium war charakterisiert durch das Zusammenwachsen von Bank- und Industriekapital zum Finanzkapital, die Ablösung der freien Konkurrenz durch Monopole und internationale Kartelle, den Kapitalexport in die bisher noch nicht der Kapitalherrschaft unterworfenen, rohstoffreichsten, aber rückständigen Teile der Welt.
Mit dem Übergang des Kapitalismus zur Stufe des Monopolkapitalismus und des Finanzkapitals war ein Kampf um die Aufteilung der Welt verknüpft. Die Ausbeutung der rückständigen Gebiete warf, wenn man Lenin folgte, hohe Profite ab, die den Kapitalrentnern in den Metropolen ein parasitäres Leben und den Monopolisten die Bestechung von Teilen der Arbeiterklasse erlaubten. Es gab daher einen Zusammenhang zwischen dem Imperialismus und dem «Opportunismus», dem reformistischen und revisionistischen Abfall von der reinen marxistischen Lehre: eine These, mit der sich die Bewilligung von Kriegskrediten durch die sozialdemokratischen Parteien Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens trefflich denunzieren ließ.
Aber mehr als eine Gnadenfrist konnte der Imperialismus dem parasitären und verfaulenden Kapitalismus nicht verschaffen. Lenin verwarf die von ihm als unmarxistisch bewertete Annahme Karl Kautskys, des führenden Theoretikers der deutschen Sozialdemokratie, der Imperialismus könne seine Gegensätze auch friedlich, etwa im Rahmen internationaler Kartelle, ausgleichen. Unter Berufung auf Rudolf Hilferding, den aus Österreich stammenden, in der deutschen Sozialdemokratie aktiven Autor des 1910 erschienenen «Finanzkapital», sagte Lenin vielmehr die Verschärfung der kolonialen Gegensätze und das Erstarken der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen gegen das europäische Kapital in den Kolonien und anderen abhängigen Gebieten voraus. Um das für den Imperialismus typische «Mißverhältnis zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Akkumulation des Kapitals einerseits, der Verteilung der Kolonien und der ‹Einflußsphären› des Finanzkapitals andererseits zu beseitigen», gab es auf dem Boden des Kapitalismus kein anderes Mittel als den Krieg: Das war nach Lenin die wirkliche Ursache der großen internationalen Auseinandersetzung, die im August 1914 begonnen hatte.
Theoretisch beruhte Lenins Schrift «Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus» weitgehend auf den Analysen bürgerlicher und sozialistischer Autoren von John Atkinson Hobson bis Rudolf Hilferding, von denen er auch manche Fehleinschätzungen, namentlich im Hinblick auf den wirtschaftlichen Ertrag der Ausbeutung der Kolonien, übernahm. Aber Lenin kam es vor allem auf die revolutionäre Praxis an, die er mit Hilfe seiner Imperialismustheorie rechtfertigen wollte. Das Ziel der revolutionären Strategie hatte er bereits im November 1914 in seinem Artikel «Der Krieg und die russische Sozialdemokratie» festgelegt, als er die «Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg» die «einzig richtige proletarische Lösung» nannte. Den Führern der sozialistischen Parteien, die ihre Regierungen unterstützten, warf er «direkten Verrat an der Sache des Sozialismus» vor; sie hätten in einem Moment von höchster weltgeschichtlicher Bedeutung versucht, den Sozialismus durch Nationalismus zu ersetzen. Am schärfsten geißelte Lenin die deutsche Sozialdemokratie, und das schon deshalb, weil sie die stärkste und einflußreichste Partei der Zweiten Internationale sei. Er machte sich ausdrücklich eine Erklärung der italienischen Sozialisten zu eigen: «Die Führer der deutschen Sozialdemokraten entehren das Banner der proletarischen Internationale.»
Die SPD hatte den Kriegskrediten am 4. August zugestimmt, weil der Krieg mit Rußland inzwischen eine Tatsache war und ihr alles daran lag, einen Sieg des Zarenreiches, der reaktionärsten aller Großmächte, zu verhindern. Das Ja bedeutete nicht, daß die Sozialdemokraten Deutschland und Österreich-Ungarn von jeder Kriegsschuld freisprachen; das Wiener Ultimatum an Serbien vom 25. Juli hatten sie noch als frivole Kriegsprovokation angeprangert. Spätestens seit der russischen Generalmobilmachung am 20. Juli aber hielten die Führungen der SPD und der Freien Gewerkschaften die zarische Regierung für den eigentlichen Aggressor. Ein Nein zu den Kriegskrediten hätte bedeutet, das Risiko eines russischen Vormarsches auf Berlin, verbunden mit schärfster staatlicher Unterdrückung der Arbeiterbewegung, einzugehen. Der Krieg hätte in einen Bürgerkrieg umschlagen können: eine Aussicht, die die SPD mit Angst und Schrecken erfüllte.
Doch bereits im Spätjahr 1914 begann der Rückhalt für die Politik des «Burgfriedens» zu bröckeln. Als erster sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter stimmte am 2. Dezember der Berliner Rechtsanwalt Karl Liebknecht, ein Sohn des Parteigründers Wilhelm Liebknecht, gegen neue Kriegskredite. Am 21. Dezember 1915 taten weitere 19 sozialdemokratische Parlamentarier, unter ihnen der Ko-Vorsitzende der Partei, Hugo Haase, denselben Schritt. Liebknecht wurde im Januar 1916 aus der Fraktion ausgeschlossen. Nach einem abermaligen «Disziplinbruch», den die Mehrheit mit dem Ausschluß der Abweichler aus der Fraktion beantwortete, vereinigten sich 18 oppositionelle Abgeordnete im März 1916 zur «Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft». Die meisten ihrer Mitglieder entstammten der alten Vorkriegslinken. Der Widerstand gegen die offizielle These vom deutschen «Verteidigungskrieg» ging aber über den linken Flügel hinaus: Auch der «Zentrist» Karl Kautsky, der kein Reichstagsmandat innehatte, und der Revisionist Eduard Bernstein opponierten gegen die Mehrheitslinie.
Die Linke war ihrerseits alles andere als ein in sich geschlossenes Gebilde. Hugo Haase, der nach dem Tod August Bebels 1913 zusammen mit Friedrich Ebert zum Vorsitzenden der SPD gewählt worden war, gehörte ebenso wie Rudolf Hilferding zu den Gemäßigten, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin, die Vorkämpferin der sozialistischen Frauenbewegung, zu den Radikalen. Seit dem Frühjahr 1915 verfügte die äußerste Linke über eine eigene Organisation, die «Gruppe der Internationale», die sich im Lauf des Jahres 1916 in «Spartakusgruppe» umbenannte.
Die Radikalisierung der deutschen Linken stand in enger Verbindung mit Entwicklungen auf dem linken Flügel der Zweiten Internationale. Im September 1915 trafen sich in Zimmerwald in der Schweiz linke Sozialisten, die teils aus kriegführenden Ländern, darunter Deutschland, Frankreich und Italien, teils aus neutralen Ländern kamen und sich in einem einig waren: Sie lehnten die Unterstützung des «imperialistischen Krieges» durch sozialistische Parteien als Verrat an den Prinzipien der Internationale ab. Die Initiative zur Einberufung der Konferenz war Mitte Mai 1915, eine Woche bevor Italien an der Seite der Entente in den Krieg eintrat, von den italienischen und schweizerischen Sozialisten ausgegangen. Gemäßigte, von Lenin als «Sozialpazifisten» bekämpfte Gegner der Burgfriedenspolitik wie Haase, Bernstein und Kautsky waren nicht nach Zimmerwald eingeladen worden. Die äußerste Linke um Lenin, die den Burgfrieden durch den Bürgerkrieg ablösen wollte, stellte ihrerseits nur wenige Delegierte, die sogenannte Zimmerwalder Linke. In einer zuletzt einstimmig angenommenen Entschließung sprachen sich die Teilnehmer für eine rasche Beendigung des Krieges, einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen und für das Selbstbestimmungsrecht der Völker aus.
Auf dem nächsten internationalen Sozialistentreffen, das im April 1916 in Kienthal im Berner Oberland stattfand, blieben Lenin und seine Anhänger ebenfalls in der Minderheit. In zwei Punkten aber gingen die Beschlüsse von Kienthal über die von Zimmerwald hinaus. Die Delegierten forderten erstens die «Ablehnung jeglicher Unterstützung der Kriegspolitik durch die Vertreter der sozialistischen Parteien» und die Verweigerung von Kriegskrediten. Zweitens warfen sie dem Büro der Internationale vor, daß es völlig versagt und sich zum «Mitschuldigen an der Politik der Prinzipienverleugnung, der sogenannten Vaterlandsverteidigung und des Burgfriedens» gemacht habe. Das war noch nicht die Spaltung der Zweiten Internationale und die Grundlegung einer neuen, revolutionären Dritten Internationale, wie Lenin sie anstrebte, aber doch ein Zeichen dafür, daß sich die Gegensätze innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung zugespitzt hatten.
Was man in Deutschland «Burgfrieden» nannte, war in Frankreich die «Union sacrée». Sie schloß seit Ende August 1914 auch eine formelle Regierungsbeteiligung der Sozialisten ein (mit Marcel Sembat als Minister für öffentliche Arbeiten und Jules Guesde als Minister ohne Geschäftsbereich). In der Sozialistischen Partei Frankreichs, der Section Française de l’Internationale Ouvrière (SFIO), war die Opposition gegen den Krieg schwächer ausgeprägt als in der SPD. An der Konferenz von Zimmerwald nahmen zwei Führer des Metallarbeiterverbandes innerhalb der Confédération Générale des Travailleurs (CGT), Albert Bourderon und Alphonse Merrheim, aber keine sozialististischen Parlamentarier teil. Auf dem Jahreskongreß der SFIO im Dezember 1915 gab es breite Zustimmung für den «patriotischen» Kurs der Parteiführung. Eine kleine Minderheit stellte sich auf den Boden der Zimmerwalder Beschlüsse; eine vermittelnde Stellung bezog eine Gruppe um Jean Longuet, einen Enkel von Karl Marx. Im April 1916 stellte sie bereits ein Drittel der Delegierten zum Nationalrat der SFIO. Ende Dezember 1916 sprach sich nur noch eine knappe Mehrheit des Nationalrats dafür aus, daß der eben erst ernannte Rüstungsminister Albert Thomas, das einzige sozialistische Mitglied des Kabinetts Briand, sein Amt behielt.
Mitglieder der Labour Party konnten nicht an der Konferenz von Zimmerwald teilnehmen, weil die britische Regierung ihnen die Pässe verweigerte. Eine sozialistische Opposition gegen den Krieg aber gab es auch in Großbritannien; sie war hier von Anfang an sogar sehr viel stärker als in Deutschland. Am 3. August 1914 nannte der «Daily Citizen», das Organ der Labour Party, den Gedanken, daß England an der Seite des reaktionären Rußland kämpfen solle, «einfach erschreckend»; am Vormittag des 4. August verabschiedete die Exekutive der Labour Party eine Erklärung, wonach es die Pflicht der Arbeiterklasse sei, den Krieg so rasch wie möglich durch einen Frieden zu beenden, «der die Wiederherstellung der herzlichen Beziehungen zwischen den Arbeitern Europas ermöglicht».
Die Abgeordneten der Labour Party stimmten aber kurz darauf im Unterhaus den von der Regierung Asquith geforderten Kriegskrediten mit großer Mehrheit zu, was zum Rücktritt des prominentesten Kriegsgegners, des Fraktionsvorsitzenden Ramsay MacDonald, führte, der zugleich an der Spitze der International Labour Party (ILP), einer der in der Labour Party zusammengeschlossenen Gruppierungen, stand. Die ILP blieb bis zum Ende des Krieges bei ihrer pazifistischen Position, ohne daß dies disziplinarische Maßnahmen der Mehrheit nach sich zog. Mitte Oktober 1914 begründete die Labour Party ihr Ja zu den Kriegskrediten und der Werbung von freiwilligen Rekruten mit der deutschen Kriegsschuld, dem Überfall auf das neutrale Belgien und, ganz allgemein, der Notwendigkeit, einen Triumph des militärischen Despotismus Deutschlands zu verhindern.
Die Labour Party unterstützte in der Folgezeit die Regierung des liberalen Premierministers Herbert Asquith, die sich Ende Mai 1915 unter dem Eindruck der militärischen Lage auf dem Balkan und an den Dardanellen in ein Allparteienkabinett (mit dem Labourführer Arthur Henderson als Unterrichtsminister) verwandelte, bei allen ihren gesetzgeberischen Vorhaben, beginnend mit der Zustimmung zum Defence of the Realm Act vom 8. August 1914, der Grundlage einer staatssozialistisch angelegten Lenkung der Kriegswirtschaft. Anfang 1916 stimmte Labour auch einem angesichts der bisherigen englischen Geschichte geradezu revolutionär anmutenden Schritt zu: der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Im Frühjahr 1916 hatte Großbritannien die schwerste innere Herausforderung während des ganzen Krieges zu bestehen: die blutige Niederwerfung des von Deutschland unterstützten Osteraufstands der nationalistischen Sinn-Féin-Bewegung in Dublin, der am 24. April mit der Proklamation der Irischen Republik begann. Über 500 Menschen, darunter 300 Zivilisten, kamen ums Leben; etwa 2000 wurden verwundet. Zu den hingerichteten Führern der Erhebung gehörte auch der aus Irland stammende ehemalige britische Diplomat und international bekannte Kritiker der Versklavung der einheimischen Bevölkerung im Kongostaat des belgischen Königs Leopold II., Sir Roger Casement, der in einem deutschen U-Boot auf die Insel gebracht worden war.
Ein Dreivierteljahr später, im Dezember 1916, löste der energische Kriegsminister David Lloyd George seinen liberalen Parteifreund Herbert Asquith als Premierminister ab. Zum eigentlichen Machtzentrum wurde von jetzt ab ein fünfköpfiger Kabinettsausschuß, dem außer dem Premier drei Konservative («Unionisten»), unter ihnen der weit rechts stehende Lord Alfred Milner, und von der Labour Party Arthur Henderson, nunmehr Minister ohne Geschäftsbereich, angehörten. Als Lloyd George sich in der Folgezeit immer mehr an die Tories anlehnte, trat Henderson im August 1917 aus der Regierung aus. Die Labour Party blieb dessen ungeachtet ein Teil der britischen Kriegskoalition und stellte weiterhin Minister in der Allparteienregierung.
In den kriegführenden Ländern gab es außer der Independent Labour Party Großbritanniens nur zwei sozialistische Parteien, die dem Krieg nach Beginn der Kampfhandlungen die Unterstützung verweigerten: die serbische, deren beide Abgeordnete am 31. Juli 1914 im Parlament, der Skupschtina, als einzige Volksvertreter gegen die Kriegskredite stimmten, und die russische Partei. Beide Fraktionen der Sozialdemokratischen Partei Rußlands, die vergleichsweise gemäßigten Menschewiki und die sehr viel radikaleren Bolschewiki, hatten sich darauf verständigt, am 8. August in der Duma bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage der Regierung und die Kriegskredite sich der Stimme zu enthalten, in einer gemeinsamen Erklärung gegen den Krieg zu protestieren und für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse zu demonstrieren. Die scharf gehaltene Erklärung wurde von einem Abgeordneten der Menschewiki verlesen. Danach verließen die sozialistischen Abgeordneten den Plenarsaal und nahmen an der Abstimmung nicht mehr teil.
Die Haltung der Abgeordneten entsprach nicht der patriotischen Stimmung in der russischen Arbeiterschaft und auch nicht der Linie, für die sich führende Exilpolitiker, unter ihnen der Menschewik Georgi Plechanow, einsetzten: die Unterstützung des Krieges an der Seite der Westmächte. Auf der anderen Seite wurde Lenins Parole, es gelte den imperialistischen Krieg in den Bürgerkrieg umzuwandeln, auch von den meisten Bolschewiki verworfen. Die Situation Rußlands war im Herbst 1914 weit davon entfernt, revolutionär zu sein. Es sollten noch über zwei Jahre vergehen, bis sich die Verhältnisse so verschlechterten, daß Lenins radikale Thesen weitere Unterstützung zu finden begannen.[4]
Epochenjahr 1917:
Russische Revolution und Kriegseintritt der USA
In keinem Land verflüchtigte sich die anfängliche Kriegseuphorie so rasch wie in Rußland. Die Niederlagen, die die Truppen des Zarenreiches 1914/15 im Kampf gegen die Deutschen erlitten, ließen die Unzufriedenheit mit der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung anschwellen. Im Sommer 1915 kam es erst in der Textil-, dann auch in der Metallindustrie, im Bergbau und in den Erdölgebieten um Baku und im Ural zu größeren Streikaktionen. Im August 1915 schlossen sich alle Fraktionen der Vierten Duma mit Ausnahme der äußersten Rechten und Linken zu einem «Progressiven Block» zusammen, der eine neue, auf das Vertrauen des Volkes gestützte Regierung forderte. Zar Nikolaus II., seit der Entlassung des Oberbefehlshabers Großfürst Nikolaj Nikolajewitsch im September 1915 selbst Oberkommandierender der russischen Truppen, lehnte eine Parlamentarisierung strikt ab; die Zarin Alexandra Fedorowna, die während der langen Abwesenheit des Zaren von Petrograd entscheidenden Einfluß auf alle wichtigen Stellenbesetzungen bis hin zur Ernennung von Ministern erhielt, war ihrerseits seit Jahren von den Einflüsterungen ihres Günstlings, des sibirischen Wandermönchs Grigorij Rasputin, abhängig. Die Ermordung Rasputins durch zwei Angehörige des Hochadels und einen Abgeordneten der äußersten Rechten am 30. Dezember 1916 war ein dramatisches Zeichen dafür, daß selbst in der Oberschicht der Rückhalt des Zarenregimes dahinschwand.
Um dieselbe Zeit wuchs die soziale Unruhe bedrohlich an. In den ersten beiden Monaten des Jahres 1917 brach die Lebensmittelversorgung in den großen Städten und Industriezentren praktisch zusammen. Im Januar waren die Preise für Verbrauchsgüter in Petrograd sechsmal, in der Provinz fünfmal so hoch wie in der Vorkriegszeit. Im gleichen Monat warnte das Polizeidepartement vor Hungerunruhen, die jederzeit ausbrechen könnten. Seit Anfang März häuften sich die Protestdemonstrationen in der Hauptstadt. Am 8. März weitete sich eine Frauendemonstration anläßlich des Internationalen Frauentages, der sich die Arbeiter der Putilow-Werke anschlossen, zur Streikbewegung und zwei Tage später zum Generalstreik aus. Vergeblich drängte der Präsident der Duma, Michail Rodsjanko, den Zaren zur Einsetzung einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung. Nikolaus II. blieb bei seinem Nein und ordnete stattdessen die Vertagung der Duma an. Die Provokation bewirkte eine weitere Radikalisierung. In der Nacht zum 12. März schlossen sich große Teile der Petrograder Garnison, darunter auch Offiziere, den demonstrierenden Arbeitern und Studenten an. Das war der Beginn der (nach dem alten, julianischen Kalender so genannten) Februarrevolution, die in erster Linie eines war: der Zusammenbruch eines immer weniger funktionstüchtigen Systems.
Um sich gegenüber dem Druck der Straße zu behaupten, tat die Dumamehrheit daraufhin einen revolutionären Schritt: Sie setzte ein Provisorisches Komitee aus Vertretern des Progressiven Blocks, der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre ein. Aus ihm ging am 13. März 1917 die Provisorische Regierung unter dem Fürsten Georgij Jewgenjewitsch Lwow, einem Liberalen, als Ministerpräsidenten und dem Historiker Paul Miljukow, dem Führer der Konstitutionellen Demokraten («Kadetten»), als Außenminister hervor. Tags zuvor bereits hatte sich im Taurischen Palais, dem Tagungsort der Duma, nach dem Vorbild der Revolution von 1905 ein provisorisches Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatenrepublik gebildet. Sein stellvertretender Vorsitzender, der Führer der sozialistischen «Trudowiki» (Werktätigen), Alexander Kerenskij, trat als Justizminister in die Provisorische Regierung ein und wurde dadurch zeitweilig zum Bindeglied zwischen den beiden neuen Machtzentren. Nikolaus II. dankte am 15. März, von der Provisorischen Regierung und zuletzt auch dem eigenen Hauptquartier zum Thronverzicht gedrängt, zugunsten seines Bruders Michail ab; dieser erklärte am folgenden Tag seinen Verzicht auf die Nachfolge. Damit endete nicht nur die dreihundertjährige Herrschaft der Dynastie der Romanows, sondern auch die über tausendjährige russische Monarchie.
Über einige der dringlichsten Fragen verständigte sich der Petrograder Sowjet unmittelbar nach seiner Konstituierung mit dem Provisorischen Komitee der Duma. Das Übereinkommen betraf die Vorbereitung von Wahlen zu einer Konstituante, die die Grundlagen für eine demokratische Entwicklung Rußlands schaffen sollte, eine sofortige und umfassende Amnestie für alle politischen Gefangenen und Verbannten, volle Rede-, Presse-, Religions-, Versammlungsund Streikfreiheit, die Ersetzung der Polizei durch eine nationale Miliz sowie demokratische Wahlen auf örtlicher Ebene. Der Sowjet organisierte die Lebensmittelversorgung der Hauptstadt und bildete eine Volksmiliz. Der «Befehl Nr. 1» vom 14. März unterstellte die Truppen der politischen Kontrolle des Sowjets. Die Offiziere mußten sich vor den neu gebildeten Mannschaftskomitees legitimieren, die Soldaten Befehlen nur gehorchen, wenn diese nicht im Widerspruch zu den Beschlüssen des Petrograder Sowjets standen. Die Anordnung zielte auf nicht weniger als die Abschaffung der Offizierskaste – und in der Folge davon der bisherigen Form von militärischer Disziplin.
Am 27. März folgte ein Manifest an die Proletarier aller Länder, in dem der Petrograder Arbeiter- und Bauernrat den Sieg der russischen Demokratie als «großen Sieg der Weltfreiheit und Demokratie» feierte, durch den «die Hauptsäule der Weltreaktion und der Gendarm Europas» zum Einsturz gebracht worden sei. Das demokratische Rußland könne keine Bedrohung der Freiheit und der Zivilisation sein. An die Proletarier erging deshalb der Aufruf, das «selbstherrische Joch» abzuwerfen, wie es die russische Arbeiterklasse getan habe, und sich nicht länger als «Waffe für Annexionen und Gewalt in der Hand von Königen, Gutsbesitzern und Bankiers» einsetzen zu lassen. Ein Kongreß der lokalen Arbeiter- und Soldatensowjets, der vom 11. bis 16. April in Petrograd tagte, brachte diesen Appell auf die einprägsame Formel von einem allgemeinen Frieden «ohne Annexionen und Kontributionen».
Mit der Konstituierung der Provisorischen Regierung und des Petrograder Sowjets begann in Rußland der Zustand der (schon damals so genannten) «Doppelherrschaft». Ihr widerspruchsvolles Wesen hat der deutsche Historiker Dietrich Geyer prägnant beschrieben: Die Räte traten «in den Behördenstaat nicht hinein, sondern beschränkten sich darauf, ihn von außen her umklammert zu halten. Sie konnten ihn lähmen, aber sie dachten nicht daran, ihn auf revolutionäre Weise aufzuheben … In Erwartung der Verfassunggebenden Versammlung kam der politische Umgestaltungswille der Revolutionäre zum Stehen … In der Praxis ergaben sich aus diesem Attentismus gegenüber der staatlichen Macht sehr merkwürdige Formen wechselseitiger Abhängigkeit zwischen Regierung und Sowjet. Der Begriff der ‹Doppelherrschaft›, der dafür geprägt worden ist, trifft den Sachverhalt nur unvollkommen. Die, denen die Akklamation der Massen versagt blieb, sollten regieren, ohne die Macht je wirklich zu besitzen, während die, denen die Revolution die Macht entgegentrug, die Macht nicht haben wollten.»
Als die Februarrevolution begann, waren die meisten führenden Bolschewiki noch im Exil: Lenin, Sinowjew und Karl Radek in der Schweiz, Bucharin in New York, wo er, zusammen mit dem bisherigen linken Menschewik Leo Trotzki, der sich in dieser Zeit immer mehr den Positionen Lenins annäherte, eine Emigrantenzeitung herausgab. Andere maßgebliche Bolschewiki, darunter Stalin, Kamenew und Swerdlow, lebten als Verbannte in Sibirien. Die letzteren kehrten als erste, noch Ende März, nach Petrograd zurück. Dort brachten sie sogleich die «Prawda», die Parteizeitung, unter ihre Kontrolle. Sie nutzten dieses Forum, um eine enge Zusammenarbeit zwischen Sowjet und Provisorischer Regierung und unverzügliche Friedensverhandlungen mit allen kriegführenden Mächten zu fordern. Bis dahin sollten die Soldaten auf ihren Posten bleiben.
Lenin war radikal anderer Ansicht. Aus dem Schweizer Exil warf er Ende März in zwei «Briefen aus der Ferne» den beiden wichtigsten bürgerlichen Mitgliedern der Provisorischen Regierung, Außenminister Miljukow und Kriegsminister Gutschkow, vor, sie seien von den anglo-französischen Imperialisten zur Machtergreifung gedrängt worden, um anschließend den imperialistischen Krieg zu verlängern. Lenin verlangte die Aufhebung der Verträge zwischen den Alliierten, die Veröffentlichung aller Geheimabkommen sowie die Befreiung aller Kolonien und forderte die Arbeiter aller Länder auf, ihre Regierungen abzusetzen und die ganze Macht Arbeiterräten zu übertragen. Das war nichts anderes als der Aufruf zur proletarischen Weltrevolution.
Für Rußland lautete die Parole, die kommunistischen und internationalistischen Elemente von den kleinbürgerlichen zu trennen und mit ihrer Hilfe die Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten nach dem Vorbild der Pariser Kommune von 1871 in Organe einer revolutionären Staatsmacht umzuwandeln (wobei sich Lenin auf Marx’ Schrift über den «Bürgerkrieg in Frankreich» berief). Konkret hieß das: Zerbrechen der alten Staatsmaschine und Ersetzung durch eine neue, wo Polizei, Armee und Bürokratie mit dem «bis auf den letzten Mann bewaffneten Volk eins» waren. Das Proletariat müsse «alle armen und ausgebeuteten Schichten des Volkes organisieren und bewaffnen, damit sie die Organe der Staatsmacht selbst übernehmen, damit sie selbst und unmittelbar die Institutionen dieser Staatsmacht bilden.»
Um tatsächlichen Einfluß auf die weitere Entwicklung in Rußland zu erlangen, mußte Lenin erst einmal die eigene Partei, die Bolschewiki, auf seine Linie bringen. Das konnte er nicht aus dem Exil, sondern nur in Rußland selbst tun. Da Frankreich es ablehnte, ihm ein Transitvisum und Reiseerleichterungen zu gewähren, konnte er nur mit deutscher Hilfe in seine Heimat zurückkehren. Die Oberste Heeresleitung und die Regierung Bethmann Hollweg hatten das größte Interesse daran, dem entschiedensten Kriegsgegner unter den russischen Emigranten jede Hilfe zu gewähren – nicht nur dadurch, daß Lenin die Rückkehr durch Deutschland ermöglicht wurde, sondern auch durch großzügige finanzielle Unterstützung seiner Agitation. Das Ziel, mit Lenins Hilfe den Krieg im Osten zu beenden und danach alle Kraft auf den Kampf an der Westfront zu konzentrieren, rechtfertigte aus deutscher Sicht auch ein höchst gefährliches Mittel: die Revolutionierung Rußlands durch die Bolschewiki, angeführt von einem Mann, der zu dieser Zeit «objektiv» ein deutscher Einflußagent war. Am 8. April reiste Lenin zusammen mit einigen seiner getreuen Anhänger, darunter seine Frau Nadeshda Krupskaja, Sinowjew und Radek, in dem legendären, angeblich «plombierten» Zug aus Zürich ab. Auf dem Weg über Schweden und das russische Finnland trafen die Rückkehrer am 16. April auf dem Finnländischen Bahnhof in Petrograd ein, wo sie von einer großen Menschenmenge erwartet wurden.
Bei den Petrograder Bolschewiki, und erst recht natürlich bei den Menschewiki, stießen Lenins radikale Thesen zunächst auf ungläubiges Staunen und massiven Widerspruch. Im Petrograder Sowjet, wo die Bolschewiki sehr viel schwächer vertreten waren als die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre, war es nicht anders. Lenin ließ sich von der geballten Opposition nicht beirren und veröffentlichte am 22. April in der «Prawda» unter der Überschrift «Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution» seine rasch berühmt gewordenen «Aprilthesen». Ohne den Sturz des Kapitals sei es, so hieß es da, unmöglich, den Krieg durch einen wahrhaft demokratischen Frieden zu beenden. Nachdem die erste Etappe der Revolution die Bourgeoisie an die Macht gebracht habe, müsse die zweite Etappe die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft legen. Es gelte daher, die Massen darüber aufzuklären, daß die Sowjets die einzig mögliche Form der revolutionären Regierung seien.
«Keine parlamentarische Republik, … sondern eine Republik der Sowjets der Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputierten im ganzen Lande, von untern bis oben», lautete Lenins neue Parole, die sich schlagwortartig in dem Ruf «Alle Macht den Räten» zusammenfassen ließ. Polizei, Armee und Beamtenschaft waren abzuschaffen, die gesamten Ländereien der Gutsbesitzer zu beschlagnahmen, der gesamte Boden des Landes zu nationalisieren, die Verfügung über ihn den örtlichen Sowjets der Landarbeiter- und Bauerndeputierten zu übertragen und die Banken zu einer Nationalbank zu verschmelzen, die durch den Sowjet der Arbeiterdeputierten zu beaufsichtigen sei. Das alles bedeutete, so Lenin, noch nicht die Einführung des Sozialismus, sondern nur den «Übergang zur Kontrolle über die gesellschaftliche Produktion und die Verteilung der Erzeugnisse durch den Sowjet der Arbeiterdeputierten».
In einem ausführlicheren Text über die «Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution», den er im April schrieb, aber erst im September 1917 veröffentlichte, erklärte Lenin, die bürgerlich-demokratische Revolution sei mit der Bildung der neuen Regierung der Bourgeoisie und der verbürgerlichten Gutsbesitzer «insofern» abgeschlossen. Der jetzige Zustand sei gekennzeichnet durch eine noch nie dagewesene Verflechtung von zwei Diktaturen, der Diktatur der Bourgeoisie und der Diktatur des Proletariats. Die Februarrevolution stellte Lenin als Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg dar; jedes Zugeständnis an die «revolutionäre Vaterlandsverteidigung» sei Verrat am Sozialismus und völlige Preisgabe des Internationalismus. Um den Bruch mit der opportunistischen Sozialdemokratie deutlich zu machen, forderte er die Partei auf, sich in Kommunistische Partei umzubenennen. Ihre wichtigste Aufgabe war es für Lenin, den imperialistischen Weltkrieg durch einen wirklich demokratischen Frieden zu beenden, was aber ohne die gewaltigste Umwälzung in der Geschichte der Menschheit nicht möglich sei. «Es gibt keinen Ausweg außer der Revolution des Proletariats.»
Bei den Bolschewiki konnte Lenin sich mit seiner Linie innerhalb weniger Wochen durchsetzen. Mitte Mai veröffentlichte die «Prawda» eine von der «Aprilkonferenz» der Partei verabschiedete Resolution zur Agrarfrage, in der der sofortige Übergang des konfiszierten Gutsbesitzes in die Hände der Bauernschaft und die Nationalisierung des Grund und Bodens gefordert wurden. Eine weitere Resolution zur nationalen Frage verlangte für alle Nationen, die zu Rußland gehörten, das Recht auf Lostrennung und die Bildung eines eigenen Staates. Dieses Recht bedeutete aber nicht, daß die Lostrennung dieser oder jener Nation in diesem oder jenem Augenblick zweckmäßig war. Vielmehr war diese Frage vom Proletariat in jedem einzelnen Fall unter Berücksichtigung der ganzen gesellschaftlichen Entwicklung und vom Standpunkt des Klassenkampfes für den Sozialismus aus zu lösen. Bei der Agrarfrage ging es Lenin darum, die landarmen Bauern, die größte Bevölkerungsgruppe, für die Sache der Bolschewiki zu gewinnen. Bei der nationalen Frage setzte er auf die Unterstützung der nichtrussischen Völker. Selbst wenn sie vom Recht der Lostrennung von Rußland Gebrauch machten, erwartete er, daß sie sich nach einer erfolgreichen proletarischen Revolution mit dem neuen Rußland wieder verbinden würden.
Der Zustand der «Doppelherrschaft», in dem sich Rußland seit dem März 1917 befand, konnte Lenin zufolge nur ein möglichst rasch zu beendendes Übergangsstadium sein. Die Provisorische Regierung war, wie er am 22. April in der «Prawda» schrieb, die Regierung der Bourgeoisie, die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten in Petrograd und anderen Städten waren eine vorerst noch schwache Regierung des Proletariats. Einen höheren, besseren Typus der Regierung habe die Menschheit noch nicht hervorgebracht. Um zur Staatsmacht zu werden, müßten die klassenbewußten Arbeiter die Mehrheit für sich gewinnen; solange den Massen gegenüber keine Gewalt angewendet werde, gebe es keinen anderen Weg zur Macht. «Wir sind keine Blanquisten (Anhänger der Lehre des französischen Sozialisten Louis Auguste Blanqui vom bewaffneten Aufstand, H. A. W.), keine Anhänger der Machtergreifung durch eine Minderheit. Wir sind Marxisten, Anhänger des proletarischen Klassenkampfes gegen den kleinbürgerlichen Taumel, gegen den Chauvinismus und die Vaterlandsverteidigung, gegen die Phrase, gegen die Abhängigkeit von der Bourgeoisie.» Erst wenn sich die klassenbewußten Arbeiter zu einer proletarischen kommunistischen Partei zusammengeschlossen und einen Großteil der armen Bauern auf ihre Seite gezogen hatten, konnten sie darangehen, die Alleinherrschaft der Sowjets zu errichten. Auf dem Wege zu diesem Ziel galt es, das proletarische Klassenbewußtsein zu klären und sich vom Einfluß der Bourgeoisie zu befreien.
Die «Doppelherrschaft» erwies sich schon sehr bald als überaus konfliktträchtig. Am 1. Mai 1917 versicherte Außenminister Miljukow den Alliierten, Rußland werde den Krieg weiterführen, und löste damit heftige Proteste auf der Linken aus. Unter dem Druck des Petrograder Sowjets mußte die Provisorische Regierung drei Tage später erklären, daß sie keine territorialen Ansprüche erhebe. Kurz darauf legten erst Kriegsminister Gutschkow, zwei Wochen später auch Miljukow ihre Ämter nieder. Am 18. Mai traten sechs Vertrauensleute der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre in die Provisorische Regierung ein, was den beiden Parteien Mitte Juni auf dem Ersten Allrussischen Sowjetkongreß, auf dem sie die Mehrheit hatten, scharfe Kritik seitens Lenins und der Bolschewiki eintrug. Ende Juni ordnete Kerenskij, der Gutschkows Nachfolge als Kriegsminister angetreten hatte, mit Unterstützung des Exekutivkomitees der Sowjets eine militärische Offensive der russischen Truppen an. Drei Wochen später war sie, trotz anfänglicher Erfolge General Brussilows an der galizischen Front, vollständig gescheitert.
Am 16. Juli brach in Petrograd (in Abwesenheit Lenins, der in der weiteren Umgebung der Hauptstadt Urlaub machte) ein Aufstand aus, bei dem die führenden Bolschewiki mehr die Getriebenen als die treibende Kraft waren. Sie hatten weder den großstädtischen Pöbel, die Anarchisten und die eigene Militärorganisation unter ihrer Kontrolle noch hinreichenden Rückhalt bei den Soldaten. Bei Kämpfen zwischen Matrosen aus Kronstadt, einem probolschewistischen Regiment der Petrograder Garnison, Arbeitern der Putilow-Werke, Anhängern der Bolschewiki und Anarchisten auf der einen, regierungsfreundlichen Truppen auf der anderen Seite, gab es etwa 400 Tote und Verletzte; es kam zu Plünderungen, willkürlichen Verhaftungen durch Anhänger der Bolschewiki und schließlich zu einem Sturm auf das Taurische Palais, den Tagungsort des Petrograder Sowjets. Mit dieser Aktion brach die Erhebung nach drei Tagen faktisch in sich zusammen: Ein Aufruf des Sowjets an die Arbeiter, friedlich nach Hause zu gehen, wurde weitgehend befolgt.
Einen Tag später, am 19. Juli, ordnete die Provisorische Regierung die Verhaftung der führenden Bolschewiki an. Lenin und Sinowjew konnten sich der Festnahme durch die Flucht ins autonome Finnland entziehen. Um dieselbe Zeit veröffentlichten russische Zeitungen ausführliche Berichte über anhaltende hohe Geldzahlungen des deutschen Generalstabs an Lenin. Die Ereignisse von Mitte Juli bedeuteten einen schweren Rückschlag für die Bolschewiki. Einige Tage lang schienen sie fast von der Bildfläche verschwunden.
Am 21. Juli trat Fürst Lwow, der Ministerpräsident der Provisorischen Regierung, von seinem Amt zurück. Seine Nachfolge übernahm der energische und beredte Kerenskij. Am 22. August wurden die immer wieder hinausgeschobenen Wahlen zur Konstituante auf den 25. November 1917 festgelegt. Eine Beruhigung der inneren Lage aber trat nicht ein. Die Fälle von Befehlsverweigerungen im Militär, Desertionen und, da eine Bodenreform immer noch auf sich warten ließ, illegalen Landbesetzungen durch Bauern häuften sich; die Versorgungslage wurde immer schlechter. Eine von Kerenskij einberufene Staatskonferenz von über 2000 Vertretern aller Schichten und der Parteien mit Ausnahme der Bolschewiki im August zeitigte keine praktischen Ergebnisse. Die Antwort der nationalistischen Rechten auf den Linksruck der Provisorischen Regierung war ein Putschversuch des Oberbefehlshabers der Armee, General Kornilow, am 9. September – sechs Tage, nachdem deutsche Truppen Riga eingenommen hatten. Das Unternehmen scheiterte am passiven Widerstand der Eisenbahn- und Telegrafenarbeiter. Kornilow und seine Generäle wurden verhaftet. Am 14. September erklärte Kerenskij Rußland offiziell zur Republik.
Nutznießer der Septemberkrise war die äußerste Linke in Gestalt der Bolschewiki. Im Petrograder und Moskauer Sowjet konnten sie auf Grund ihres erfolgreichen Einsatzes im Kampf gegen Kornilow die Mehrheit der Deputierten hinter sich bringen. Leo Trotzki, der sich nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil den Bolschewiki angeschlossen hatte, begann, tatkräftig unterstützt von den im Frühjahr gewählten Fabrikkomitees der Arbeiter, mit dem Aufbau einer bewaffneten paramilitärischen Organisation, der «Roten Garden».
Lenin hielt sich um diese Zeit noch in Finnland auf. Mitte September schrieb er einen Brief an das Zentralkomitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands, also die Führung der Bolschewiki, in dem er die kühne Behauptung aufstellte, anders als im Juli hätten die Bolschewiki jetzt die «Mehrheit der Klasse, der Avantgarde der Revolution, der Avantgarde des Volkes», ja die Mehrheit des Volkes hinter sich. «Alle objektiven Voraussetzungen eines erfolgreichen Aufstandes sind gegeben.» Die Macht müsse jetzt sofort in die Hände der «vom revolutionären Proletariat geführten revolutionären Demokratie» übergehen. Unter dem Druck der Massen gelte es, die von Kerenskij einberufene «Demokratische Konferenz», eine Art von «Vorparlament», vor eine Alternative zu stellen: entweder restlose Annahme des bolschewistischen Programms, obenan ein Friede ohne Annexionen, der sofortige Bruch mit den Ententeimperialisten und allen Imperialisten, oder Aufstand. Der Aufstand sei, wie schon Marx gewußt habe, eine Kunst. Deswegen gab Lenin detaillierte Anweisungen für die Durchführung dieser Aktion bis hin zur Besetzung des Telegrafen- und des Telefonamtes von Petrograd. Die Geschichte der russischen Revolution war dabei, in eine neue, ihre zweite Etappe einzutreten: Das den Bolschewiki klar zu machen, war der Zweck von Lenins Appell.
Der theoretische Ertrag von Lenins unfreiwilligem Aufenthalt in Finnland war die Schrift «Staat und Revolution», die er im August und September 1917 zu Papier brachte und Anfang 1918 veröffentlichte. Die zentrale, gegen die «opportunistische» Sozialdemokratie gerichtete These lautete: «Ein Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Proletariats erstreckt.» Lenin konnte sich bei diesem Verdikt auf Marx berufen, der in einem Brief vom März 1852 die Einsicht, daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führe und diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bilde, zum Kernbestand seiner Theorie gerechnet hatte. Ein anderer Kronzeuge Lenins war Friedrich Engels, der 1891 in seiner Einleitung von Marx’ Schrift «Der Bürgerkrieg in Frankreich» die Pariser Kommune als die Verwirklichung der «Diktatur des Proletariats» bezeichnet hatte.
Für Marx war die Entscheidung der Kommune, die Trennung von gesetzgebender und vollziehender Gewalt zugunsten einer einzigen «arbeitenden Körperschaft» aufzuheben und den Richtern ihre «scheinbare» Unabhängigkeit zu entziehen, ein großer historischer, ja ein revolutionärer Fortschritt. Auf dieses Urteil stützte Lenin seine Kampfansage an den «korrupten und verfaulten Parlamentarismus der bürgerlichen Gesellschaft». Die Diktatur des Proletariats definierte er als «die Organisierung der Avantgarde der Unterdrückten zur herrschenden Klasse zwecks Niederhaltung der Unterdrücker». Die Diktatur des Proletariats sei nicht eine einfache Erweiterung der Demokratie, sondern «Demokratismus für die Armen, für das Volk und nicht für die Reichen». «Demokratie für die riesige Mehrheit des Volkes und gewaltsame Niederhaltung der Ausbeuter, der Unterdrücker des Volkes, d.h. ihre Ausschließung von der Demokratie – diese Modifizierung erfährt die Demokratie beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus.»
Der Zustand der Freiheit war damit aber noch nicht erreicht. «Solange es einen Staat gibt, gibt es keine Freiheit. Wenn es Freiheit geben wird, wird es keinen Staat geben.» Erst in der höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft konnte der Staat im Sinne der berühmten Formulierung von Engels «absterben» und die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen an die Stelle der Regierung über Personen treten. Bis dahin mußte die tatsächliche und nicht nur formale Gleichheit erreicht, also die klassenlose Gesellschaft verwirklicht sein. «Welche Etappen die Menschheit auf dem Weg zu diesem höheren Ziel durchschreiten wird, welche praktischen Maßnahmen sie hierzu ergreifen wird, wissen wir nicht und können wir nicht wissen.» Was Lenin zu wissen glaubte, war etwas Näherliegendes: Die Zeit war reif für die Revolution des Proletariats, die in Rußland beginnen und dann die ganze Welt erfassen sollte.
Das rückständige, immer noch überwiegend agrarisch geprägte Rußland als Avantgarde der proletarischen Weltrevolution: Das stand im krassen Widerspruch zu der Annahme von Marx und Engels, daß nur die Arbeiterklasse einer weitgehend industrialisierten Gesellschaft den Kapitalismus durch eine Revolution überwinden und eine sozialistische Gesellschaft aufbauen konnte. Lenin selbst war auch nach der Revolution von 1905 davon ausgegangen, daß Rußland ein kapitalistisches Entwicklungsstadium mitsamt einer bürgerlichen Demokratie nicht überspringen konnte. Im Sommer 1917 aber erklärte er die bürgerlich-demokratische Revolution für im wesentlichen abgeschlossen und behauptete in seinen «Aprilthesen» sogar, Rußland sei zur Zeit «von allen kriegführenden Ländern das freieste Land der Welt». Die Tatsache, daß die Bolschewiki nach dem Kornilow-Putsch in den Sowjets von Petrograd und Moskau die Mehrheit der Deputierten auf ihre Seite gebracht hatten, reichte ihm aus, seine Partei zum Vollzugsorgan des Mehrheitswillens schlechthin zu erklären. Entscheidend war bei alledem sein Wille zur Macht: Er hielt die Voraussetzungen für einen bewaffneten Aufstand für gegeben, weil er entschlossen war, mit der von ihm für notwendig gehaltenen Revolution nicht länger zu warten.[5]
Während in Rußland das Zarenregime seine letzte Krise durchlebte, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten dramatisch. Am 12. Dezember 1916 erklärte die deutsche Reichsleitung ihre Bereitschaft zu Friedensverhandlungen, ohne sich genauer zu ihren Vorstellungen von einer Nachkriegsordnung zu äußern. Der eigentliche Adressat der Erklärung war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der wenige Wochen zuvor mit knapper Mehrheit wiedergewählt worden war. Wilson, von Berlin gebeten, die Ententemächte über die deutsche Initiative zu informieren, antwortete mit einer Aufforderung an alle kriegführenden Mächte, in eine Diskussion über einen Verhandlungsfrieden einzutreten.
Großbritannien, Frankreich, Italien und Rumänien legten daraufhin am 11. Januar 1917 ihre gemeinsamen Kriegsziele dar, darunter die Neuordnung Europas nach dem Nationalitätenprinzip, die Räumung aller besetzten Gebiete sowie Reparationen für die von den Gegnern verursachten Kriegsschäden. Im einzelnen forderten sie die Wiederherstellung Belgiens, Serbiens und Montenegros, die «Befreiung der Italiener, Slawen (gemeint wohl: Südslawen, H. A. W.), Rumänen und Tschechoslowaken von der Fremdherrschaft», die «Freiheit der Völker, die unter der grausamen Tyrannei der Türken stehen», und die «Verbannung des Osmanischen Reiches, das der abendländischen Kultur deutlich fremd gegenübersteht», aus Europa. Die Mittelmächte wichen hingegen einer entsprechenden Klarstellung vorerst aus. Die deutsche Reichsleitung setzte in ihrer Antwortnote vom 26. Dezember 1916 Washington überdies davon in Kenntnis, daß sie eine Beteiligung des amerikanischen Präsidenten an den eigentlichen Friedensverhandlungen nicht wünschte. Von einer Bereitschaft, über eine Beendigung der Kämpfe zu verhandeln, konnte bei keinem der beiden verfeindeten Lager die Rede sein.
Wilson ließ sich dadurch nicht entmutigen. In einer Rede vor dem Senat entwickelte er am 22. Januar 1917 seine Gedanken von einer künftigen Friedensordnung. Sein Ziel war kein geringeres, als Frieden und Gerechtigkeit in der ganzen Welt durchzusetzen und zu ihrer Sicherung einen internationalen Friedensbund (League for Peace) ins Leben zu rufen. «Nur ein friedliches Europa kann ein stabiles Europa sein. Es darf dort kein Gleichgewicht der Macht, es muß eine Gemeinschaft der Macht (not a balance of power, but a community of power) geben, nicht organisierte Rivalitäten, sondern einen organisierten gemeinsamen Frieden.» Voraussetzung hierfür war ein «Friede ohne Sieg» (a peace without victory). «Kein Friede kann oder sollte Bestand haben, der nicht den Grundsatz anerkennt, daß Regierungen alle ihre rechtmäßigen Machtbefugnisse aus der Zustimmung der Regierten (consent of the governed) beziehen und es nirgendwo ein Recht gibt, Völker von einer Souveränität zur anderen weiterzureichen, als wären sie Besitztümer.» Eine ebenso hohe Bedeutung maß Wilson der Freiheit der Meere und der Begrenzung der Rüstungen bei. Dies alles seien amerikanische Prinzipien und Praktiken, aber zugleich die aller nach vorn blickenden Menschen jeder modernen Nation und aufgeklärten Gemeinschaft. «Es sind die Prinzipien der Menschheit, und sie werden sich behaupten.»
«Noch nie zuvor hat eine Versammlung eine so wunderbare Predigt darüber gehört, was menschliche Wesen zu erreichen fähig wären – wenn sie nur nicht menschlich wären»: So lautete der sarkastische, natürlich nicht öffentliche Kommentar des französischen Politikers Georges Clemenceau zur Rede des amerikanischen Präsidenten. Das Programm des Demokraten Wilson klang in der Tat überaus idealistisch. Das entsprach nicht nur seinem Denken, er konnte auch kaum anders reden, wenn er die Zustimmung der Amerikaner gewinnen wollte. In Europa sprach die Rede allen aus dem Herzen, die auf die Selbstbestimmung ihrer Völker hinarbeiteten – gleichviel, ob diese österreichisch-ungarischer, deutscher, türkischer oder russischer Herrschaft unterworfen waren. Die Regierungen Großbritanniens und Frankreichs hatten zwar nicht die Absicht, den von ihnen beherrschten Kolonialvölkern das Recht der Selbstbestimmung zu gewähren. Eine (wie immer auszugestaltende) Autonomie der Völker der Habsburgermonarchie und Polens lag aber durchaus auf der Linie Londons. In Paris hing alles davon ab, ob bei Friedensverhandlungen eher «rechte» oder «linke» Kräfte das Sagen hatten: Von letzteren durfte Wilson sehr viel mehr Entgegenkommen erwarten als von ersteren. Die Praxis der Mittelmächte hingegen widersprach den Prinzipien des amerikanischen Präsidenten so sehr, daß Berlin und Wien unglaubwürdig geworden wären, wenn sie ein Bekenntnis zu einer Friedensordnung im Sinne Wilsons abgelegt hätten.
Die Reichsleitung dachte auch gar nicht daran, das zu tun. Am 19. Januar 1917, also drei Tage vor Wilsons Rede im Senat, hatte der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Arthur Zimmermann, der mexikanischen Regierung für den Fall, daß die Vereinigten Staaten nicht neutral blieben, eine Allianz vorgeschlagen und Mexiko die Unterstützung für die Rückeroberung von New Mexico, Texas und Arizona, eines Großteils der 1848 verlorenen Gebiete, versprochen. Dem Geheimdienst der britischen Marine gelang es, das einschlägige Telegramm aufzufangen und zu dechiffrieren. Am 24. Februar wurde es dem State Department zur Kenntnis gebracht; die Veröffentlichung des Dokuments am 1. März löste in Amerika eine Welle der Empörung aus. Die diplomatischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und den USA waren zu diesem Zeitpunkt bereits abgebrochen: Mit diesem Schritt hatte Washington am 3. Februar auf eine deutsche Note vom 31. Januar geantwortet, die die Rückkehr zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg ankündigte und das mit der völkerrechtswidrigen Seeblockade durch Großbritannien begründete.
Eine verhängnisvollere Entscheidung hätte Berlin nicht treffen können. Die Seekriegsleitung hatte sich nie mit der Beendigung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges abgefunden, wie sie von der Reichsleitung unter massivem amerikanischem Druck im September 1917 verfügt worden war. Am 9. Januar 1915 beugte sich Reichskanzler von Bethmann Hollweg dem gemeinsamen Drängen von Seekriegsleitung, Oberster Heeresleitung und Kaiser und willigte in die Wiederaufnahme des unbeschränkten U-Boot-Krieges ein. Den Ausschlag gab die Zusage des Admiralstabs, mit Hilfe der U-Boote England innerhalb von fünf Monaten in die Knie zu zwingen. Fallen konnte die Entscheidung nur, weil alle Beteiligten die Wirtschaftskraft, das militärische Potential und die moralische Energie Amerikas auf groteske Weise unterschätzten. Daß der Reichskanzler am 31. Januar dem amerikanischen Präsidenten zusammen mit der Mitteilung über die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges streng vertraulich eine allgemein gehaltene und eher verschleiernde Liste deutscher Kriegsziele überreichen ließ, konnte Wilson nur noch als zusätzlichen Affront empfinden.
Den Kampf um seine Wiederwahl im November 1916 hatte Woodrow Wilson vor allem mit der Parole bestritten, er sei der Präsident, der Amerika aus dem Krieg herausgehalten habe. Seine Rede vor dem Senat vom 22. Januar 1917 enthielt einen Passus, in dem er (unter Anspielung auf eine berühmte Formulierung in der ersten Inaugurationsrede von Thomas Jefferson vom 4. März 1801) «entangling alliances», also der Verstrickung in Bündnisse mit europäischen Mächten, eine klare Absage erteilte. Nach der Rückkehr Deutschlands zum unbeschränkten U-Boot-Krieg und der Veröffentlichung des «Zimmermann-Telegramms» war an die Aufrechterhaltung der amerikanischen Neutralität nicht mehr ernsthaft zu denken. Deutschland wies sogar Wilsons Bitte, ohne besondere öffentliche Erklärung den amerikanischen Schiffsverkehr nach England passieren zu lassen, brüsk zurück, und bereits im Februar wurden die ersten amerikanischen Handelsschiffe durch deutsche Unterseeboote versenkt. So blieb dem Präsidenten nichts anderes übrig, als den letzten Schritt zu tun: Am 2. April bat er die beiden Häuser des Kongresses, der Kriegserklärung an das Deutsche Reich zuzustimmen, was vier Tage später geschah. 82 Senatoren und 373 Mitglieder des Repräsentantenhauses stimmten dafür, 6 Senatoren und 50 Mitglieder des Repräsentantenhauses dagegen. Die Kriegserklärung an Österreich-Ungarn erfolgte erst acht Monate später: am 7. Dezember 1917.
Wilsons Rede vom 2. April war eine der bedeutendsten seiner Präsidentschaft. Der gegenwärtige deutsche U-Boot-Krieg gegen Handelsschiffe sei ein Krieg gegen die Menschheit und alle Nationen, sagte er und ließ bei seinen Landsleuten keinen Zweifel über die Folgen für jeden einzelnen Amerikaner aufkommen: Der Krieg, den Deutschland gegen die Regierung und das Volk der Vereinigten Staaten führe, werde die USA zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zwingen. In dem nun unvermeidlich gewordenen Krieg sei es das Ziel Amerikas, die Prinzipien des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt gegen eine selbstsüchtige und autokratische Macht zu verteidigen und unter den wahrhaft freien, sich selbst regierenden Völkern ein solches Einvernehmen in Absicht und Tat (such a concert of purpose and action) herzustellen, das fortan diese Prinzipien sichere.
Der Höhepunkt der Ansprache war die visionäre Beschwörung einer künftigen Welt ohne Krieg und Unterdrückung. Amerika kämpfe für den endgültigen Frieden der Welt und für die Befreiung ihrer Völker, einschließlich des deutschen Volkes, für die Rechte der Völker, ob groß oder klein, für das Vorrecht aller Menschen, über ihre Lebensweise und ihr Regierungssystem selbst zu entscheiden (to choose their way of life and of obedience). «Die Welt muß zu einem sicheren Ort für die Demokratie gemacht werden (The world must be made safe for democracy). Ihr Friede muß auf den erprobten Grundlagen der Freiheit beruhen. Wir suchen keine Wiedergutmachung für uns selbst, keine materielle Entschädigung für Opfer, die wir aus freien Stücken erbringen. Wir sind nur einer der Vorkämpfer der Rechte der Menschheit (We are but one of the champions of the rights of mankind). Wir werden zufrieden sein, wenn diese Rechte so sicher gemacht worden sind, wie sie der Glaube und die Freiheit der Völker nur sicher machen können.»
Wäre am 15. März 1917 nicht das russische Zarentum gestürzt worden, hätte Wilson nicht zweieinhalb Wochen später jenen Aufruf zur Demokratisierung der Welt vortragen können, der seine Kongreßrede vom 2. April in die Geschichtsbücher eingehen ließ. Erst seit dem März 1917 konnte der Erste Weltkrieg als ideologischer Kampf zwischen Freiheit und Unterdrückung geführt werden, und nur weil dem so war, genoß die Entscheidung für den Kriegseintritt breiteste Unterstützung in den USA. Die Ideale von 1776 weltweit zu verwirklichen und sich selbst so eine globale Führungsrolle zu verschaffen war seit jeher eine starke Triebkraft der amerikanischen Politik gewesen. Was diesem Bedürfnis Zügel anlegte, war die ebenso alte Einsicht, daß Amerika durch Verstrickungen in Händel der alten Welt schweren Schaden nehmen würde.
Anders war die Lage, wenn eine europäische Macht oder Mächtekoalition die Vereinigten Staaten so herausforderte, daß eine massive Antwort unausweichlich wurde. Diese Situation trat infolge von Deutschlands Rückkehr zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg Anfang 1917 ein. Wilson mobilisierte daraufhin eine Ressource, ohne die sich der Kampf gegen die Mittelmächte nicht erfolgreich führen ließ: die moralischen Energien Amerikas. Das Bekenntnis zum Recht der Völker auf Selbstregierung, zu den Menschenrechten und zur Demokratie hatte aber auch alle Aussicht, einen starken Widerhall bei den Polen und allen slawischen Völkern der Donaumonarchie zu finden. Und nicht zuletzt durfte Wilson hoffen, die Deutschen zu beeindrucken, wenn er versicherte, daß die Vereinigten Staaten keinen Krieg gegen das deutsche Volk führten, sondern auch seine Befreiung anstrebten.
Bevor es den Vereinigten Staaten gelang, etwas für die Sache der Freiheit in Europa zu tun, wurde zunächst einmal die Freiheit in Amerika drastisch eingeschränkt. Das geschah in einem Ausmaß, das das deutsche Kaiserreich um dieselbe Zeit fast schon «liberal» erscheinen ließ. Die Presse war gehalten, die regierungsamtliche Kriegspropaganda gegen Deutschland nachzudrucken und Selbstzensur zu üben; nicht-englischsprachige Zeitungen, vorneweg die auf deutsch erscheinenden, mußten Artikel, die den Krieg betrafen, vor der Veröffentlichung einem Zensor vorlegen. Der Espionage Act vom Juni 1917 und das Anti-Aufruhr-Gesetz (Sedition Act) vom Mai 1918 enthielten dehnbare Bestimmungen, mit deren Hilfe jede Art von Opposition gegen den Krieg, ja gegen den Präsidenten und die Regierung unterbunden werden konnte. Zu den betroffenen Organisationen gehörten die linksstehende Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) und die Sozialistische Partei; ihr langjähriger Vorsitzender und mehrfacher Präsidentschaftskandidat Eugene V. Debs wurde 1918 zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt (und 1921 von Präsident Harding begnadigt). Die Deutschamerikaner, von denen sich viele 1914 auf die Seite der Mittelmächte gestellt hatten, wurden zur Zielscheibe einer gehässigen Kampagne. Die antideutsche Wendung erfaßte auch die Umgangssprache: Amerikanische Patrioten verwandelten Sauerkraut in «liberty cabbage» und die Bratwurst in «liberty sausage».
Beschränkungen ihrer gewohnten Freiheit mußten auch die Unternehmer und die Verbraucher hinnehmen. Die als Druckmittel gegen die neutralen Staaten gedachte, im Juni 1917 beginnende Embargopolitik traf vor allem die Exportindustrie und die Landwirtschaft. Der Lever Food Control Act vom August 1917 schuf Handhaben, um die Versorgung mit Lebensmitteln so zu regeln, daß die Bedürfnisse der amerikanischen Truppen und der Verbündeten vorrangig berücksichtigt werden konnten. Die Rüstungsindustrie unterlag formell seit Juli 1917 der Kontrolle durch das War Industries Board; tatsächlich handelte es sich bei der Behörde eher um ein Organ korporativer Selbstverwaltung, in dem im Zweifelsfall die Vertreter der großen Konzerne das Sagen hatten. Das im April 1918 geschaffene National War Labor Board hatte die Aufgabe, Streiks in der Rüstungsindustrie auf dem Vermittlungsweg zu verhindern; im Gegenzug mußten die Arbeitgeber den Achtstundentag, Mindestlöhne und das Prinzip der gleichen Entlohnung von Männern und Frauen zugestehen und das Recht der kollektiven Aushandlung von Tarifverträgen sowie das Streikrecht anerkennen. Die Finanzierung des Krieges, darunter der Materiallieferungen an die europäischen Alliierten auf Kredit, lief zu einem großen Teil über Kriegsanleihen (Liberty Bonds), aber auch über neue Abgaben und Steuern. Als der Krieg im November 1918 zu Ende ging, hatten die Schulden der Verbündeten einen Stand von über 10 Milliarden Dollar erreicht.
Militärisch waren die USA im Frühjahr 1917 noch längst nicht ausreichend auf einen Kriegseinsatz vorbereitet. Im Mai 1917 stimmte der Kongreß dem von Wilson vorgelegten Selective Service Act zu, durch den die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde. Zu den Berufssoldaten und den Freiwilligen kamen in der Folgezeit fast 3 Millionen einberufene Soldaten. Insgesamt taten 1917/18 4,8 Millionen Mann Dienst in Army, Navy und der jungen Air Force. Den wichtigsten Beitrag leisteten zunächst amerikanische Zerstörer, die die britische Marine bei der Versenkung deutscher Unterseeboote und der Verminung der Nordsee unterstützten – mit der Folge, daß die Deutschen mit ihren U-Booten keinen durchschlagenden Erfolg mehr erringen konnten.
Im Oktober 1917 begann der Transport von insgesamt 42 Infanteriedivisionen nach Europa. Seit dem Frühjahr 1918 kamen Truppen der USA in größerer Zahl zum Fronteinsatz in Frankreich. Zum geflügelten Wort wurde der (oft fälschlich dem Kommandeur der American Expeditionary Forces, General Pershing, zugeschriebene) Ausspruch, den Oberst Charles E. Stanton von der 16. Infanteriedivision am 4. Juli 1917, dem Independence Day, am Grab des Marquis de Lafayette in Paris tat: «Lafayette, we are here!» Die französische Hilfe beim amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gehörte in den USA wie in Frankreich zum historischen Allgemeinwissen. An das Erbe der beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts zu erinnern hieß den deutschen «Ideen von 1914» eine angemessene Antwort zu erteilen: die Berufung auf die ungleich attraktiveren Ideen von 1776 und 1789.[6]
Der preußisch geprägte «Sozialismus», den die deutschen Kriegsideologen dem westlichen «Kapitalismus» entgegenstellten, nahm im Dezember 1916 Gesetzesform an: Das Gesetz über den Vaterländischen Hilfsdienst verpflichtete alle Männer vom 17. bis zum 60. Lebensjahr, soweit sie nicht eingezogen waren, zum Dienst in der Rüstungsindustrie und kriegswichtigen Einrichtungen. Gewissermaßen als soziale Kompensation wurde in Betrieben mit mindestens 50 Beschäftigten eine Frühform von innerbetrieblicher Mitbestimmung in Gestalt von Arbeiter- und Angestelltenausschüssen und paritätischen, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gebildeten Schlichtungsausschüssen eingeführt. Das Hilfsdienstgesetz war ein Teil des von Generalquartiermeister Erich Ludendorff entworfenen «Hindenburg-Programms», das die deutsche Wirtschaft forciert auf Rüstungszwecke umstellen sollte. Die Gewerkschaften gewannen zwar durch das Gesetz vom 5. Dezember 1916 an Einfluß, doch rückten sie zugleich derart nahe an den Staat, das Militär und die Unternehmerschaft heran, daß sie in den Augen vieler Arbeiter aufhörten, eine proletarische Interessenvertretung zu sein.
Das Hilfsdienstgesetz fiel in eine Zeit härtester Entbehrungen, ja des verbreiteten Hungers: des «Steckrübenwinters» 1916/17. Die soziale Not steigerte die politische Unzufriedenheit auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie; die russische Februarrevolution gab den Gegnern der Parteiführung, unter ihnen den 18 im März 1916 aus der Reichstagsfraktion ausgeschlossenen Mitgliedern der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft, den letzten Anstoß zur Trennung von der Partei. Im April 1917 gründeten sie in Gotha die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), die dem herrschenden Regierungssystem, der Kriegspolitik der Reichsleitung, den Kriegskrediten und dem Burgfrieden den Kampf ansagte.
Kurz darauf kam es in vielen Großstädten zu «wilden» Massenstreiks. In der Berliner Metallindustrie traten dabei erstmals die Revolutionären Obleute, die auf dem linken Flügel der USPD standen, in Erscheinung. Vordergründig ging es bei dem Ausstand um eine Erhöhung der Brotrationen, in Wirklichkeit aber um den ersten großen, weite Teile des Reiches erfassenden Arbeiterprotest gegen den Krieg. Doch es waren nicht nur Arbeiter, die sich auflehnten, sondern auch Soldaten. In der Flotte mehrten sich seit Juni 1917 Hungerstreiks und unerlaubte Landgänge. Die Militärjustiz reagierte mit drakonischen, rechtlich nicht haltbaren Strafen gegen die «Rädelsführer». Gegen zehn Matrosen wurden Todesstrafen verhängt, an zweien wurden sie im September vollstreckt.
Die Reichsleitung tat wenig, um die innenpolitische Lage zu beruhigen. Reichskanzler von Bethmann Hollweg konnte den Kaiser zwar zu jener «Osterbotschaft» vom 7. April 1917 bewegen, in der Wilhelm II. Verfassungsreformen für die Zeit nach dem Krieg, darunter eine Reform des preußischen Wahlrechts, ankündigte. Aber ein Bekenntnis zum allgemeinen gleichen Wahlrecht ließ sich daraus nicht herauslesen. Um dieselbe Zeit häuften sich die Krisenzeichen beim wichtigsten Verbündeten. Kaiser Karl, der Großneffe und Nachfolger des im November 1916 verstorbenen Kaisers Franz Joseph, hatte sich zwischen Januar und April 1917, wenn auch vergeblich, um einen Sonderfrieden mit Frankreich bemüht und dabei einen (von Berlin strikt abgelehnten) deutschen Verzicht auf Elsaß-Lothringen ins Spiel gebracht. Das Scheitern der Friedensfühler machte die Habsburgermonarchie noch abhängiger von Deutschland, änderte aber nichts an dem Wunsch der Wiener Führung, um der Bewahrung des Vielvölkerstaates willen den Krieg möglichst rasch zu beenden.
Für Theobald von Bethmann Hollweg wurde die Lage im Verlauf des Sommers 1917 immer bedrohlicher. Auf der einen Seite drängten zwei der Parteien, die ihn bisher unterstützt hatten, auf einen Bruch mit der annexionistischen Rechten: das katholische Zentrum unter dem Einfluß des württembergischen Abgeordneten Matthias Erzberger, der zuvor selbst ausgreifenden Eroberungen das Wort geredet hatte, und, unter dem Druck der USPD, die Mehrheitssozialdemokraten. Auf einer von holländischen und skandinavischen Sozialisten angeregten internationalen Konferenz in Stockholm machte sich die SPD im Juni 1917 die Formel des Petrograder Kongresses des örtlichen Arbeiter- und Soldatensowjets vom «Frieden ohne Annexionen und Kontributionen» zu eigen. Wenig später forderten die Sozialdemokraten den Kanzler anläßlich einer neuen Kriegskreditvorlage ultimativ auf, sich klar zur Frage der deutschen Kriegsziele und seinen innenpolitischen Absichten zu äußern. Bethmann Hollweg weigerte sich, diesem Verlangen nachzukommen, und entzog sich damit selbst die parlamentarische Mehrheit, auf die er sich seit dem 4. August 1914 gestützt hatte.
Auf der anderen Seite stellte sich, aus dem entgegengesetzten Grund, die Oberste Heeresleitung gegen den Reichskanzler: Ihr war Bethmann Hollweg viel zu wenig entschieden bei der Durchsetzung dessen, was das Militär für notwendig hielt. Um den Kaiser zur Entlassung Bethmann Hollwegs und der Ernennung eines der OHL genehmen Reichskanzlers zu zwingen, reichten Hindenburg und Ludendorff am 12. Juli ihre Abschiedsgesuche ein. Wilhelm II. fügte sich und ernannte am 14. Juli den preußischen Staatskommissar für Volksernährung, Georg Michaelis, einen politisch unerfahrenen Verwaltungsjuristen, zum Nachfolger Bethmann Hollwegs. Von ihm hatte die OHL eine eigenständige Politik nicht zu befürchten.
Zwei Tage zuvor hatten sich die drei Parteien, die im neugebildeten Interfraktionellen Ausschuß zusammenarbeiteten, die Mehrheitssozialdemokraten, das Zentrum und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei, auf eine «Friedensresolution» geeinigt. Darin bekannten sich die fortan «Mehrheitsparteien» genannten Fraktionen zu einem «Frieden der Verständigung und der dauernden Aussöhnung der Völker». Ein solcher Friede sei unvereinbar mit «erzwungenen Gebietsabtretungen und politischen, wirtschaftlichen oder finanziellen Vergewaltigungen». Die Formulierung ließ durchaus Raum für eine Vergrößerung des deutschen Einflußgebietes, war aber aus Sicht der weiter rechts stehenden Parteien, von den Nationalliberalen bis zu den Deutschkonservativen, viel zu «weich». Die OHL protestierte schärfstens gegen die Entschließung, konnte aber nicht verhindern, daß der Reichstag sie am 19. Juli mit 212 gegen 126 Stimmen bei 17 Enthaltungen annahm. Der neue Reichskanzler hatte zuvor erklärt, die Ziele der Reichsleitung ließen sich «im Rahmen Ihrer Resolution, wie ich sie auffasse, erreichen».
Die nationalistische Rechte antwortete auf den Beschluß der Reichstagsmehrheit im September 1917 mit der Gründung der Deutschen Vaterlandspartei. Sie war als Sammelbecken aller «vaterländischen» Kräfte gedacht und hatte ihren wichtigsten Rückhalt im ostelbischen Preußen. Ihre Aktivisten kamen vorwiegend aus dem evangelischen Bildungsbürgertum und dem gleichfalls evangelischen Rittergutsbesitz, ihre Anhänger aus den Reihen der Konservativen und der Nationalliberalen. Da sich zahlreiche «nationale» Verbände der neuen Partei korporativ anschlossen, kam sie rasch auf hohe Mitgliederzahlen (angeblich 450.000 im März und 800.000 im September 1918). In ihrem Gründungsaufruf behauptete die Vaterlandspartei, die deutsche Freiheit stehe «himmelhoch über der unechten Demokratie mit allen ihren angeblichen Segnungen, welche englische Heuchelei und ein Wilson dem deutschen Volke aufschwatzen wollen, um so das in seinen Waffen unüberwindliche Deutschland zu vernichten». Einem Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, von der Rechten nach einem der beiden Vorsitzenden der SPD kurz «Scheidemann-Frieden» genannt, stellte die Vaterlandspartei einen «Hindenburg-Frieden» entgegen, der den «Siegespreis ungeheurer Opfer und Anstrengungen» heimbringen werde.
Die Gründung der Deutschen Vaterlandspartei war kein Ausdruck verbreiteter «Kriegsbegeisterung», sondern im Gegenteil ein Versuch, der wachsenden Kriegsmüdigkeit entgegenzuwirken. Die Enttäuschung über die unerwartet lange Dauer des Krieges machte sich zu jener Zeit Luft in einer Jagd auf Sündenböcke, die man für Schleichhandel und Wucher, für die Verschärfung der Klassengegensätze und die Zersetzungserscheinungen im Militär verantwortlich machen konnte. Für diese Rolle war aus der Sicht der äußersten Rechten niemand so gut geeignet wie die Juden, die pauschal verdächtigt wurden, heimlich Verbündete der Feindmächte zu sein. Der Gießener Chemieprofessor Hans von Liebig, ein prominenter Alldeutscher, ging bereits im Dezember 1915 so weit, Bethmann Hollweg öffentlich den «Kanzler des deutschen Judentums» zu nennen. Der in vielen Beschwerden aus völkischen Kreisen geäußerte pauschale Vorwurf, daß unter den «Drückebergern», die sich dem Militärdienst entzögen, auffallend viele Juden seien, veranlaßte das preußische Kriegsministerium im Oktober 1916, eine «Judenstatistik» für das Heer anzuordnen. Das Ergebnis, das diese Diffamierung schlagend widerlegte, wurde erst nach dem Krieg veröffentlicht. Die bloße Tatsache der «Judenzählung» aber bedeutete bereits eine staatliche Anerkennung und Legitimierung des Antisemitismus.
Im Herbst 1917 erlebte Deutschland den zweiten Kanzlerwechsel innerhalb von vier Monaten. Ausgelöst wurde der Sturz Michaelis’ durch maßlose und unhaltbare Angriffe, die der Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Eduard von Capelle, am 9. Oktober im Reichstag gegen die Führer der USPD richtete: Er warf ihnen vor, sie hätten Aufstandspläne bei der Hochseeflotte unterstützt. Friedrich Ebert, zusammen mit Philipp Scheidemann, Vorsitzender der Mehrheitssozialdemokraten, sagte daraufhin dem Reichskanzler offen den Kampf an. Dieser hatte mittlerweile auch die Unterstützung des Zentrums und der Fortschrittlichen Volkspartei, ja zuletzt auch der Nationalliberalen verloren.
Die Nachfolge Bethmann Hollwegs als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident trat am 1. November 1917 der bayerische Ministerpräsident Georg Graf von Hertling an. Hertling war ein überzeugter Föderalist und, obwohl er einen Politiker aus den Reihen der Fortschrittlichen Volkspartei, Friedrich von Payer, als Vizekanzler und den nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Robert Friedberg als Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums akzeptierte, Gegner einer Parlamentarisierung des Reiches. Er bot zwar keinerlei Grund zu der Annahme, daß er der Friedensresolution des Reichstags freundlicher gegenüberstehe als Michaelis, wurde aber schon wegen seiner Zugehörigkeit zum Zentrum von der Rechten nicht als einer der ihren betrachtet. Entschieden evangelische Kreise bei Konservativen, Nationalliberalen und Vaterlandspartei empfanden die Berufung eines katholischen Reichskanzlers auf dem Höhepunkt des Lutherjahres 1917, in dem die 400. Wiederkehr der Reformation gefeiert wurde, sogar als politische Provokation.
Geriet in Deutschland 1917 der «Burgfriede» in Bedrängnis, so in Frankreich die «Union sacrée». Seit 1916 häuften sich Streikaktionen, aber in ihrer großen Mehrheit blieb die Arbeiterschaft «patriotisch». Am 20. März, wenige Tage nach dem Sturz von Zar Nikolaus II., löste Alexandre Ribot Aristide Briand im Amt des Ministerpräsidenten ab. Von Ribot, einem Architekten des russisch-französischen Bündnisses von 1891/92, erwartete die Mehrheit der Nationalversammlung eine energischere Politik als von seinem Vorgänger. Als einziger Sozialist gehörte Rüstungsminister Albert Thomas, der dasselbe Ressort unter Briand im Dezember 1916 übernommen hatte, dem Kabinett an. Kurz zuvor hatte General Nivelle, der nach dem Mißerfolg von General Joffre in der Sommeschlacht am 26. Dezember 1916 zum Oberbefehlshaber der französischen Truppen ernannt worden war, sein Konzept einer Angriffsstrategie vorgelegt, das trotz Bedenken der Regierung, des Generals Pétain und des britischen Feldmarschalls Haig vom Obersten Kriegsrat gebilligt wurde. Diesem Plan entsprechend, begann am 16. April nördlich von Reims eine Offensive, die drei Tage später nach schweren Verlusten der Franzosen am Chemin des Dames von den Deutschen zum Stehen gebracht wurde.
Der Fehlschlag des schlecht vorbereiteten Unternehmens führte in etwa 160 Regimentern zu Meutereien, wobei mancherorts auch sozialistische Parolen zu hören waren. Nivelle, der inzwischen bei den Soldaten und in der Arbeiterschaft als «Blutsäufer» galt, wurde am 15. Mai von Kriegsminister Painlevé entlassen und durch den populären General Pétain, einen überzeugten Anhänger der Defensivstrategie, ersetzt. Die Meutereien zogen 3400 Verurteilungen, darunter 554 Todesurteile, nach sich, von denen 49 vollstreckt wurden. In dieselbe Zeit fielen größere Streikaktionen, die aber dank der vermittelnden Haltung von Innenminister Malvy rasch beendet werden konnten.
Als im September 1917 Paul Painlevé Ribot als Ministerpräsident ablöste, beteiligten sich die Sozialisten nicht mehr an der Regierung. (Die Nachfolge Thomas’ als Rüstungsminister trat bezeichnenderweise ein führender Industrieller, Louis Loucheur, an.) In der Entscheidung der SFIO spiegelte sich der wachsende Einfluß des linken kriegsskeptischen Parteiflügels. Das Ausscheiden aus der Regierung bedeutete aber noch nicht das Ende der «Union sacrée»: Die große Mehrheit der SFIO bewilligte weiterhin Kriegskredite und konnte sich dabei auf die Unterstützung der CGT, des größten gewerkschaftlichen Dachverbandes, verlassen. Am 18. November 1917 wurde die Regierung Painlevé als erstes Kriegskabinett von der Kammer aus nichtigem Anlaß gestürzt. Die Nachfolge trat ein Mann an, der an politischer Statur und Willenskraft seine Vorgänger weit überragte: der bürgerliche Radikalsozialist Georges Clemenceau. Der «Tiger», wie er respektvoll genannt wurde, blieb bis Januar 1920 im Amt. Mit ihm erhielt Frankreich im vorletzten Kriegsjahr eine politische Führungsgestalt von ähnlichem Rang wie David Lloyd George in England und Woodrow Wilson in den USA. Von den deutschen Reichskanzlern der Kriegsjahre genoß keiner ein auch nur annähernd gleich hohes Prestige.
In England steigerte sich im Verlauf des Jahres 1917, nicht anders als in Deutschland und Frankreich, die soziale Unruhe beträchtlich. Die ersten größeren Streiks hatte es im Februar 1915 gegeben. Dabei waren erstmals die «shop stewards», gewählte Betriebsvertrauensleute, als Organisatoren von Ausständen und damit auch als Herausforderer der Gewerkschaften hervorgetreten. Ähnlich wie die Revolutionären Obleute in der Berliner Metallindustrie und die USPD warfen sie, im engen Zusammenspiel mit der entschieden antimilitaristischen Independent Labour Party, den Trade Unions und der Mehrheit der Labour Party eine wachsende Mißachtung der Arbeiterinteressen vor. Die Kritik wurde schärfer, als Labour und Gewerkschaften im Juli 1915 einem Rüstungsgesetz (Munitions Act) zustimmten, das die Freiheit der Arbeiter auf vergleichbare Weise einschränkte wie später, im Dezember 1916, das Vaterländische Hilfsdienstgesetz in Deutschland. 1916 erfaßte die britische Statistik 76.000 Streikende in der Maschinenbauindustrie, an den Werften und im metallverarbeitenden Gewerbe, wobei 346.000 Arbeitstage verloren gingen. 1917 stieg die Zahl der streikenden Arbeiter auf 386.700 und die der ausgefallenen Arbeitstage auf 3 Millionen.
Die Regierung Lloyd George nahm die Arbeiterproteste so ernst, daß sie im Februar 1917 zu einer scharfen Kontrolle der Profite in der Kohlenindustrie überging und im Juni mehrere Kommissionen einsetzte, die die Ursache der sozialen Unruhen erforschen sollten. Offenkundig war, daß die russische Februarrevolution zur Radikalisierung innerhalb der britischen Arbeiterschaft beträchtlich beitrug. Im Juli 1917 forderte die Bergarbeitergewerkschaft die Einführung des Sechsstundentages und der Fünftagewoche. Im Oktober 1917 sah sich das Kriegskabinett genötigt, bestimmten Gruppen von Facharbeitern eine Lohnerhöhung von 12,5 Prozent zu gewähren. Eine Beruhigung der Lage trat dadurch jedoch nicht ein. Nach einem weiteren großen Streik in Coventry, einem Zentrum der Maschinenbauindustrie, drohte Rüstungsminister Winston Churchill den Streikenden ultimativ mit der Einberufung zum Militär, wenn sie nicht die Arbeit unverzüglich wieder aufnähmen. Eine von Churchill eingesetzte Untersuchungskommission kam zu dem Ergebnis: «Es ist augenscheinlich so, daß die Masse der Arbeiter danach strebt, die kriegsbedingte Regelung der Arbeitsbedingungen, wie sie derzeit besteht, zu mildern und so schnell wie möglich aufzuheben.»
Meutereien wie im französischen Heer im Frühjahr 1917 gab es im britischen nicht – auch nicht bei den schweren Kämpfen in der dritten Ypernschlacht bei Passchendaele, in der zwischen Juni und Oktober 1917 neben britischen auch Tausende von neuseeländischen und kanadischen Soldaten fielen. Die Offensive war, nachdem Premierminister Lloyd George seinen Widerstand dagegen aufgegeben hatte, auf Drängen von Feldmarschall Haig begonnen worden. Sie geriet, ähnlich wie die französische Offensive vom Frühjahr, zu einem katastrophalen Mißerfolg. Die Gesamtzahl der in Flandern Gefallenen auf der Seite der Truppen des Empire belief sich in der Zeit zwischen Ende Juli und Anfang November 1917 auf 245.000 (auf der deutschen Seite waren die Verluste wohl kaum sehr viel niedriger).
Die Zahlen der Desertionen in der British Expeditionary Force stiegen zwischen Februar und Dezember 1917 deutlich nach oben und sollten 1918 noch weiter wachsen, erreichten aber keine dramatischen Ausmaße: 1917 lag der Anteil der Anklagen wegen Desertion fast ständig deutlich unter 0,015 Prozent der britischen Mannschaftsstärke an der Westfront. Die Handhabung der Militärjustiz war im britischen Heer härter und willkürlicher als im deutschen, was sich auch in der unterschiedlichen Häufigkeit des Vollzugs der Todesstrafe niederschlug. Der wichtigste Grund dieses Sachverhalts lag offen zutage: Deutschland kannte die allgemeine Wehrpflicht seit langem, während das britische Heer sich nach 1914 von einer Berufsarmee in ein Freiwilligenheer und schließlich in eine Wehrpflichtarmee verwandelte, ohne daß gleichzeitig das alte Disziplinarrecht den veränderten Verhältnissen angepaßt wurde. Den tieferen Grund des deutsch-britischen «Härtegefälles» hat der deutsche Historiker Christoph Jahr in den Worten zusammengefaßt: «In Deutschland mit seiner Tradition als autoritärer Rechtsstaat entsprachen sich Zivilgesellschaft und Armee in vielerlei Hinsicht; anders dagegen in England, wo zweierlei Normsysteme für Zivilgesellschaft und Armee galten.»
Militärisch waren um diese Zeit die Mittelmächte in Europa erfolgreicher als die Entente. Anfang 1917 waren deutsche Truppen in Riga eingezogen; im Oktober nahmen sie mit Hilfe der Hochseeflotte die baltischen Inseln Ösel, Moon und Dagö ein. Wenige Tage später, am 24. Oktober, brachten die beiden Mittelmächte den Italienern bei Caporetto, auf deutsch Karfreit, am oberen Isonzo eine verheerende Niederlage bei; sie war begleitet von Massendesertionen und der Gefangennahme von etwa 275.000 Soldaten des italienischen Heeres. Im Nahen Osten hingegen konnten die Briten Siege an ihre Fahnen heften. Im März 1917 hatten sie Bagdad eingenommen; im Oktober stießen sie vom Suezkanal aus nach Palästina vor; Anfang Dezember räumten die Türken Jerusalem.
Einen politischen Gewinn konnte die Entente auch auf dem Balkan verbuchen. Im Juni erzwangen Frankreich und Großbritannien die Abdankung König Konstantins I. von Griechenland, eines entschiedenen Verteidigers der Neutralität seines Landes. Unter seinem Sohn Alexander bildete der frühere, 1915 von Konstantin entlassene Ministerpräsident Venizelos, der 1916 nach regionalen Aufständen an die Spitze einer «Vorläufigen Regierung» in Thessaloniki getreten war, eine neue Regierung. Sie brach Ende Juni 1917 die diplomatischen Beziehungen mit den Mittelmächten ab. Die Entente hatte einen neuen Bundesgenossen gewonnen.[7]
Das wichtigste Ereignis der zweiten Hälfte des Jahres 1917 war ein Vorgang von weltgeschichtlicher Tragweite: die russische Oktoberrevolution, die nach dem westlichen, dem gregorianischen Kalender eine Novemberrevolution war. Am 23. Oktober fand in Petrograd eine streng geheime Sitzung des Zentralkomitees der Bolschewiki statt, an der auch der kurz zuvor aus seinem finnischen Versteck zurückgekehrte Lenin teilnahm. Er schlug seinen Genossen vor, unverzüglich mit dem bewaffneten Aufstand zu beginnen. Gegen den Widerspruch von zwei der prominentesten Bolschewiki, Gregorij Sinowjew und Leonid Kamenew, wurde Lenins Resolution nach stürmischer Debatte angenommen. Nach der Sitzung tauchte Lenin wieder unter. Die organisatorische Vorbereitung des Aufstands lag in den Händen von Leo Trotzki, der am 5. Oktober (wie schon einmal, in der Revolution von 1905) zum Vorsitzenden des Petrograder Sowjets gewählt worden war und seit dem 22. Oktober auch an der Spitze des neugebildeten Militärrevolutionären Komitees des hauptstädtischen Sowjets stand.
Am 4. November übernahm das Komitee den Befehl über die Petrograder Garnison. Das war für die Bolschewiki der entscheidende Durchbruch zur Macht. Das Signal für den Umsturz gab die Regierung am 6. November mit der Besetzung der Newa-Brücken und der Schließung der Druckerei der bolschewistischen Zeitung «Arbeiterweg». Am Abend des folgenden Tages war Petrograd weitgehend in der Hand der Roten Garden, einer von den Bolschewiki bewaffneten Arbeitermiliz, und revolutionärer Truppen. Auf dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongreß, der am 7. November zusammentrat, hatten die Bolschewiki zusammen mit den ihnen nahestehenden linken Sozialrevolutionären eine sichere Mehrheit. Die Delegierten sollten nach dem Willen der Bolschewiki den Staatsstreich nicht beschließen, sondern die vollendete Tatsache billigen, was nach dem Auszug der Menschewiki und der Mehrheit der Sozialrevolutionäre am 8. November geschah. Die von Lenin namens des neugebildeten Rats der Volkskommissare, der Revolutionsregierung, vorgelegten Dekrete über den Frieden und die Bodenfrage werden einstimmig beschlossen. Das erste Dekret sah die sofortige Aufnahme von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und danach über einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen vor, das zweite die entschädigungslose Enteignung der Gutsbesitzer und die Übertragung von Grund und Boden an die Bezirksbodenkomitees und die Kreissowjets der Bauerndeputierten, wobei die endgültige Regelung der Eigentumsverhältnisse auf dem Lande der Konstituante vorbehalten blieb.
Am gleichen Tag, dem 8. November, stürmten probolschewistische Truppen, unterstützt von den Kronstädter Matrosen auf dem Kreuzer «Aurora», die mehrere Kanonenschüsse abgaben, das Winterpalais. Die dort tagenden Mitglieder der Provisorischen Regierung wurden verhaftet – allerdings ohne Ministerpräsident und Kriegsminister Kerenskij, der inzwischen geflohen war und Unterstützung bei Generälen regierungsloyaler Truppen außerhalb der Hauptstadt suchte. Bei dem Sturm auf das Winterpalais gab es sechs Tote, die einzigen Toten der Oktoberrevolution in Petrograd. In Moskau, wo sich bewaffnete Offiziersanwärter gegen die bolschewistischen Kräfte eine Woche lang wehrten, lag die Zahl der Opfer höher. Auf entschlossenen Widerstand stießen die Bolschewiki im übrigen Land nur selten, am stärksten in Sibirien und im agrarischen Süden und Südosten Zentralrußlands, wo die Sowjets, sofern es sie schon gab, von den «rechten» Sozialrevolutionären kontrolliert wurden.
Lenin hatte einen bewaffneten Aufstand propagiert, aber was im November 1917 geschah, verdient kaum diesen Namen. Wie im März vollzog sich in Rußland ein Zusammenbruch der bisherigen Ordnung. Es war nicht mehr die alte Ordnung des Zarenregimes, sondern eine schwache republikanische Übergangsordnung, die die revolutionären Kräfte mit geringem Aufwand und ohne die Mobilisierung großer Menschenmassen zu Fall brachten. Die Provisorische Regierung hatte die Lösung der drängendsten innenpolitischen Probleme, obenan der Agrarfrage, vor sich her geschoben und nicht nur keine Anstalten getroffen, den Krieg zu beenden, sondern Ende Juni die «Kerenskij-Offensive» angeordnet, die kläglich scheiterte und Rußland Mitte Juli an den Rand des militärischen Zusammenbruchs brachte. Den Kornilow-Putsch im September überlebte die Regierung Kerenskij nur mit Hilfe der revolutionären Arbeiter und nicht zuletzt der Bolschewiki, die um dieselbe Zeit im Petrograder wie im Moskauer Sowjet die Mehrheit der Deputierten hinter sich brachten. Das großstädtische Proletariat zunehmend auf der Seite der Bolschewiki, die Bauern in wachsender Zahl entschlossen, die Agrarfrage autonom, durch illegale Landbesetzungen, zu lösen, die Soldaten nicht mehr bereit, den Befehlen ihrer Vorgesetzten zu folgen: Die Provisorische Regierung besaß im November 1917 kaum noch Rückhalt in der Bevölkerung. Die Bolschewiki ergriffen die Macht in einer Situation, auf die sich ohne große Übertreibung der Begriff «Machtvakuum» anwenden läßt.
An der Macht zu bleiben war sehr viel schwieriger als sie zu ergreifen. Lenin war überzeugt, daß das Proletariat im rückständigen Rußland sich nur durchsetzen konnte, wenn es in Mittel- und Westeuropa zu Anschlußrevolutionen kam. Deshalb appellierte er am 8. November 1917 vor dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongreß an die «klassenbewußten Arbeiter der drei fortgeschrittensten Nationen der Menschheit und der größten am gegenwärtigen Krieg beteiligten Staaten», nämlich Englands, Frankreichs und Deutschlands, die ihnen gestellte Aufgabe der «Befreiung der Menschheit vom Schrecken des Krieges und seinen Folgen» zu erkennen, den russischen Arbeitern entschieden und energisch zu Hilfe zu kommen und so «die Sache des Friedens und zugleich damit die Sache der Befreiung der Werktätigen und ausgebeuteten Volksmassen von Sklaverei und jeder Ausbeutung erfolgreich zu Ende zu führen». Von der russischen über die mittel- und westeuropäische zur Weltrevolution des Proletariats: so sollte der Prozeß weitergehen, der im Frühjahr 1917 in Petrograd begonnen hatte.
Die Oktoberrevolution war, so gesehen, die logische Fortsetzung der Februarrevolution – die zweite, entscheidende Phase der russischen Revolution, in der die radikalen Kräfte vollendeten, was unter der Vorherrschaft der gemäßigten nur scheitern konnte: die Befreiung des Volkes. Verbündete hofften die Bolschewiki nicht nur im Proletariat der anderen kriegführenden Mächte, sondern auch unter den nichtrussischen Nationalitäten des ehemaligen Zarenreiches zu finden. Am 15. November beschloß der Rat der Volkskommissare eine Deklaration über die Rechte der Völker Rußlands, die das Recht auf selbständige Staatsbildung und damit auf Sezession und Souveränität verkündete. Die Verlautbarung entsprach einer Resolution der «Aprilkonferenz» der Bolschewiki und der Position, die Lenin 1914 in seiner Schrift «Über das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung» bezogen hatte. Daraufhin erklärte eine Woche später Georgien seine Unabhängigkeit; am 28. November tat der Estnische Volkstag denselben Schritt. Wie sich ein unabhängiges Georgien und Estland dem neuen, von den Bolschewiki geführten Rußland gegenüber verhalten würden, blieb fürs erste offen.
Hoch umstritten war diese Frage auch in Finnland, das bis zum Sturz des Zarenregimes ein Großfürstentum unter russischer Oberhoheit gebildet hatte und völkerrechtlich immer noch zu Rußland gehörte. Mitte November 1917 hatten der finnische Gewerkschaftsverband zusammen mit den nach links gerückten Sozialdemokraten und den finnischen Bolschewiki um Otto Kuusinen einen Generalstreik mit dem Ziel der revolutionären Machtübernahme ausgelöst. Den bewaffneten Roten Garden traten auf der Seite der bürgerlichen Unabhängigkeitsbewegung paramilitärische Verbände, sogenannte Schutzkorps, entgegen. Am 6. Dezember beschloß der Landtag, in Übereinstimmung mit der neuen, rein bürgerlichen Regierung unter dem Senatspräsidenten Pehr Evind Svinhufvud, eine formlose Erklärung über die Unabhängigkeit Finnlands. Im Januar 1918 brach der offene Bürgerkrieg aus, an dem sich auf der Seite der «Roten» auch in Finnland stationierte russische, mittlerweile bolschewistische Truppen beteiligten. Ende Januar konstituierte sich nach der nahezu kampflosen Einnahme Helsinkis ein Rat der Volksbeauftragten. Sitz der «weißen» Regierung wurde Vaasa. Svinhufvud, der in Helsinki verblieben war, gelang die Flucht auf einem Eisbrecher ins estländische Tallinn, auf deutsch Reval, von wo aus er sich nach Berlin begab. Ein deutsches Eingreifen in den finnischen Bürgerkrieg auf der Seite der «Weißen» unter ihrem militärischen Führer, Generalleutnant Carl Gustav Mannerheim, war nur noch eine Frage der Zeit.
Eine nationale Unabhängigkeitsbewegung gab es auch in der Ukraine, vor allem in ihrem Westen. Von den Mittelmächten wurde der ukrainische Nationalismus aktiv unterstützt. Ein «Bund zur Befreiung der Ukraine», eine Organisation sozialistischer Emigranten, die eine selbständige, demokratische und sozialistische Ukraine anstrebten und eine umfassende Bodenreform forderten, erhielt vom Auswärtigen Amt in Berlin großzügige finanzielle Hilfe. Gezielt angeworben wurden von den Deutschen auch ukrainische Kriegsgefangene, in denen man künftige Teilnehmer eines nationalrevolutionären Aufstands sah. Zu dieser Erhebung kam es nicht, auch nicht, nachdem deutsche Truppen einen Teil der westlichen Ukraine besetzt hatten. Aber der Wille zu größerer Selbständigkeit wuchs während des Krieges so stark an, daß sich die Provisorische Regierung im Sommer 1917 genötigt sah, der Ukraine das Recht der Selbstverwaltung zuzugestehen. Vom August ab war die nach der Februarrevolution gebildete «Zentral-Rada», eine Art Vorparlament, das von Petrograd anerkannte Vertretungsorgan der Ukrainischen Volksrepublik. Den ukrainischen Nationalisten waren diese Zugeständnisse an den Autonomiegedanken viel zu wenig. Massiver Druck auf die Zentral-Rada ging auch von den ukrainischen Bolschewiki aus, die ihre Hochburgen im industriellen Osten des Landes hatten. Nach einem mißglückten Umsturzversuch in Kiew riefen sie im Dezember in Charkow eine Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik aus. Zu ihrer Unterstützung marschierten bolschewistische Truppen aus Rußland in die östliche Ukraine ein.
Auf eine Revolutionierung Mittel- und Westeuropas mochten die Bolschewiki weiter hoffen, aber bis Ende des Jahres 1917 gab es nichts, worauf sie ihre optimistischen Erwartungen stützen konnten. Die deutschen Mehrheitssozialdemokraten, seit langem die schärfsten Kritiker der Partei Lenins unter den Parteien der Zweiten Internationale, begrüßten zwar das Dekret über den Frieden, weil es ein Ende des Krieges näher zu bringen versprach, dachten aber nicht daran, den «Burgfrieden» aufzukündigen. Die USPD zollte der Revolution der Bolschewiki Beifall, ließ es jedoch beim Ruf nach einem allgemeinen Waffenstillstand und einem annexionslosen Frieden bewenden.
In Frankreich waren die Sozialisten angesichts der Gefahr eines Sonderfriedens zwischen Rußland und den Mittelmächten nicht weniger besorgt als die bürgerlichen Parteien. Die SFIO rückte daher nach der Oktoberrevolution ein Stück weit nach rechts, und sie wäre auf diesem Weg wohl noch weitergegangen, wenn nicht die nationalistische Politik des neuen Kabinetts Clemenceau eine Barriere gegen solche Neigungen gebildet hätte. Eine probolschewistische Stellung bezog lediglich die äußerste Linke: eine kleine Minderheit, die in ihrer radikalen Ablehnung des «imperialistischen Krieges» der Haltung Lenins nahekam. In der britischen Arbeiterschaft war der Widerhall der Oktoberrevolution noch schwächer als in der französischen. Nur bei den «shops stewards», den Betriebsräten, gab es gewisse Sympathien für die Bolschewiki. Die kriegsgegnerische Indepedent Labour Party war zu sehr der parlamentarischen Demokratie verpflichtet, als daß sie sich mit der Theorie und der Praxis der Leninisten hätte befreunden können. Für das Gros der Labour Party galt das erst recht.
Am 25. November 1917 begannen in Rußland die noch von der Provisorischen Regierung angesetzten Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung auf der Grundlage des allgemeinen gleichen Wahlrechts für Männer. Die Wahlsieger waren die Sozialrevolutionäre, die als einheitliche Partei antraten, obwohl sie dies seit der Abspaltung ihres linken Flügels Anfang November nicht mehr waren. Zählte man die «rechten» Sozialrevolutionäre aus allen Teilen des Reiches zusammen, so kamen sie auf eine absolute Mehrheit der Mandate: 380 von insgesamt 703 Sitzen. 39 Mitglieder der Konstituante waren den Linken Sozialrevolutionären zuzurechnen. Auf die Bolschewiki entfielen ein knappes Viertel der Stimmen und 168 Abgeordnete. Sehr viel schlechter schnitten die «Kadetten» und die Menschewiki mit 17 beziehungsweise 16 Abgeordneten ab.
Lenin ließ sich von der Niederlage seiner Partei nicht beirren. Er hatte Mehrheit nie in einem «formalen» Sinn verstanden. Für ihn war entscheidend, daß die Bolschewiki ihren Rückhalt im großstädtischen Proletariat behauptet hatten, daß sie als einzige Partei über eine feste Organisation und eine revolutionäre Strategie verfügten und dank ihrer radikalen Antikriegs- und Agrarpolitik einstweilen nicht mit der Gegnerschaft der Masse der armen Bauern zu rechnen hatten.
So lange es irgend ging, schoben die Bolschewiki die konstituierende Sitzung der Verfassunggebenden Versammlung hinaus und agierten so, als habe es die Wahl gar nicht gegeben. Am 27. November entließ der Rat der Volkskommissare ein Dekret über die Arbeiterkontrolle, das, entgegen den Vorstellungen Lenins, vielerorts zur «wilden» Enteignung von Betrieben durch Fabrikkomitees der Arbeiter führte. Am 3. Dezember nahmen revolutionäre Truppen das Hauptquartier der russischen Streitkräfte in Mogilev ein; Generalstabschef Duchonin, der es abgelehnt hatte, irgendwelche Befehle der neuen Machthaber entgegenzunehmen, wurde dabei ermordet. Zwei Tage später, am 5. Dezember, beschlossen die Volkskommissare ein Dekret, das den bisherigen Justizapparat für abgesetzt erklärte und die Wahl neuer Richter durch die Sowjets oder durch Volksabstimmung anordnete. Am 15. Dezember wurden in Brest-Litowsk die Verhandlungen über einen Waffenstillstand abgeschlossen, die zwölf Tage zuvor begonnen hatten. Die Verhandlungen über einen Friedensschluß wurden, ebenfalls in Brest-Litowsk, am 22. Dezember aufgenommen. Die Verhandlungspartner waren wiederum nur die Deutschen und ihre Verbündeten, also Österreich-Ungarn, Bulgarien und die Türkei, nicht aber, wie die Bolschewiki es angestrebt hatten, die Mittelmächte und die Westmächte. Das Ergebnis konnte also nicht ein allgemeiner, sondern nur ein Sonderfriede sein.
Die Waffenruhe erlaubte es den Bolschewiki, ihre innere Machtstellung auszubauen. Ein Dekret über die Demokratisierung der Armee vom 16. Dezember unterstellte alle Truppenteile der Befehlsgewalt des entsprechenden Soldatenkomitees oder Sowjets und ordnete die Abschaffung aller Rangabzeichen und die Wahl der Offiziere durch die Mannschaften an. Die Armeeorganisation, durch die Massendesertionen nach dem Umsturz ohnehin nachhaltig geschwächt, wurde durch diesen Erlaß faktisch aufgelöst. Es folgten am 15. Dezember die Gründung des Obersten Volkswirtschaftsrates zur Koordinierung der Wirtschaft, am 20. Dezember die Schaffung einer «Außerordentlichen Kommission», der berüchtigten Tscheka, unter Feliks Dzierzyński, einem gebürtigen Polen, und am 27. Dezember das Dekret über die Nationalisierung der Banken. Wäre es nach Lenin gegangen, hätten die verstaatlichten Banken die Oberaufsicht über die noch in Privateigentum befindlichen industriellen Unternehmungen ausgeübt. Das Dekret über die Arbeiterkontrolle vom 27. November und der Tatendrang von örtlichen Sowjets und Fabrikkomitees durchkreuzten dieses staatskapitalistische Konzept: Eine «Sozialisierung von unten» hatte einen massiven Rückgang der Arbeitsdisziplin, der Produktivität und der industriellen Produktion zur Folge.
Die Bodenreform, die vielerorts schon vor der Oktoberrevolution von den Bauern selbst, also «von unten», in Angriff genommen worden war, kam in manchen Teilen Zentralrußlands bereits Ende des Jahres 1917, in anderen Regionen erst sehr viel später zum Abschluß. Die landlosen oder landarmen Bauern erhielten im Durchschnitt 80 Prozent der Verteilungsmasse, während der Rest an Staat, Kommunen und Genossenschaften ging. Mit der Landverteilung allein waren die Probleme der Bauern aber schon deswegen nicht zu lösen, weil der Hunger während des Krieges eine große Zahl von Menschen aus der Stadt aufs Land getrieben hatte, wodurch die Zahl der Personen, die Anspruch auf Landzuteilung hatten, um etwa 3 Millionen wuchs. Der Landanteil der Bauern schrumpfte infolgedessen, so daß man von einer Nivellierung der ländlichen Besitzstrukturen auf einem niedrigen und häufig unrentablen Niveau sprechen kann. Die Schaffung von bäuerlichem Privateigentum entsprach nicht dem, was man gemeinhin unter «Sozialismus» verstand. Im Rußland des Jahres 1917 aber bildete diese Art von Bodenreform eine Vorbedingung der Machtergreifung und Machtbehauptung der radikalsten Sozialisten, der Bolschewiki.
Für die Friedensverhandlungen, die am 22. Dezember in Brest-Litowsk begannen, hatten die Bolschewiki eine revolutionäre Neuerung durchgesetzt: Sie wurden öffentlich geführt. Nachdem der Rat der Volkskommissare bereits Ende November alle Geheimverträge zwischen dem Zarenreich und der Entente veröffentlicht hatte, war dieser Schritt nur logisch. Die Vertreter des neuen Rußland erhielten dadurch die Möglichkeit, den Verhandlungstisch als Tribüne für revolutionäre Propaganda zu nutzen und die Mittelmächte als Imperialisten zu entlarven. Die deutsche Seite hatte sich am 18. Dezember beim Kreuznacher Kronrat auf ein expansives Programm verständigt, zu dem ein «Selbstbestimmungsrecht» für Polen, Litauen und Kurland gehörte. Die Ukraine, auf deren Unabhängigkeit Berlin und Wien hinarbeiteten, sollte nach dem Willen der deutschen Schwerindustrie das Reich mit phosphorarmen Erzen und Manganerzen beliefern, während Österreich-Ungarn vor allem am ukrainischen Getreide interessiert war.
Nachdem der österreichische Außenminister Czernin am 25. Dezember, dem ersten Weihnachtsfeiertag, nach Abstimmung mit den Deutschen in betont konzilianter Form auf die Grundsatzrede des russischen Delegationsführers Adolf Joffe, ein flammendes Plädoyer für einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, einschließlich der Kolonialvölker, geantwortet und damit allgemeine Verwirrung gestiftet hatte, sorgte einen Tag später der deutsche Generalmajor Max Hoffmann, der Chef des «Generalstabs Oberost», für Klarheit. Die russische Seite verstehe offenbar den Verzicht auf gewaltsame Annexionen anders als die Mittelmächte, sagte er. Diese bestünden auf der freiwilligen Loslösung bestimmter Gebiete von Rußland, das heißt Polens, Litauens und Kurlands. Die russische Delegation war empört, drohte mit dem Abbruch der Verhandlungen und erreichte dann am 28. Dezember eine zehntägige Konferenzpause, in der sie neue Instruktionen einholen wollte. Innerhalb dieser Frist sollten auch die anderen kriegführenden Mächte erklären, ob sie zu einem Frieden ohne Annexionen und Kontributionen bereit waren (an diese Bedingung hatten die Mittelmächte ihre Zustimmung geknüpft). Ob die Verhandlungen wieder aufgenommen wurden, war eine Zeitlang ungewiß.
Am 8. Januar 1918 kehrte die russische Delegation, diesmal unter Führung von Leo Trotzki, seit der Oktoberrevolution Volkskommissar für auswärtige Beziehungen, nach Brest-Litowsk zurück. Trotzki nutzte die Chance, die Annexionspläne der Mittelmächte öffentlich anzuprangern, auf wirkliche und nicht bloß scheinbare, manipulierte Selbstbestimmung der Litauer, Letten und Polen zu pochen und an die Friedenssehnsucht der Völker, vor allem des deutschen Volkes, zu appellieren. Zusammen mit den inzwischen bekannt gewordenen Forderungen des Generals Hoffmann bewirkte das weltrevolutionäre Pathos Trotzkis Massenaktionen in Deutschland und Österreich, die die Bolschewiki mit höchsten Erwartungen erfüllten. In Wien rief die österreichische Sozialdemokratie für den 14. Januar zu Großkundgebungen auf; am gleichen Tag begann eine Welle von Streiks, die große Teile des Landes erfaßten.
Am 18. Januar (dem Tag, an dem der Streik auch auf Budapest übergriff) empfing Außenminister Czernin eine Abordnung des kurz zuvor gewählten Wiener Arbeiterrates und sicherte ihr zu, daß seine Regierung keine Gebietserwerbungen auf Kosten Rußlands anstrebe und vorbehaltlos das polnische Recht auf Selbstbestimmung anerkenne. Tags darauf bestätigte Czernin diese Aussagen schriftlich. Daraufhin setzten sich erst der sozialdemokratische Parteivorstand, dann auch der Arbeiterrat für einen Abbruch des Streiks ein. Es dauerte einige Tage, bis die Arbeiter diesem Aufruf Folge leisteten.
Die Nachrichten vom österreichischen Streik gaben den Revolutionären Obleuten der Berliner Metallindustrie den Anstoß, ihrerseits den Generalstreik zu proklamieren. Am 28. Januar befanden sich bereits über eine halbe Million Menschen im Ausstand. Allein in Berlin streikten mehrere Hunderttausende Arbeiter der rüstungswichtigen Metallindustrie. Neben den Führern der USPD ließen sich auch prominente Mehrheitssozialdemokraten, unter ihnen die beiden Parteivorsitzenden Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann, in den Streikausschuß wählen, um den Ausstand, an dem sich die Gewerkschaften nicht beteiligten, möglichst rasch zum Abschluß zu bringen. Am 4. Februar war das Ziel erreicht. Bei längerer Dauer hätte der Streik die militärische Schlagkraft des Reiches bedroht. Entsprechend massiv waren die Gegenmaßnahmen der Militärbehörden, der Polizei und der Justiz: Aktive Streikteilnehmer wurden in großer Zahl verhaftet oder zum Heeresdienst eingezogen.
Inzwischen waren in Brest-Litowsk die Verhandlungen erneut unterbrochen worden. Am 18. Januar hatte General Hoffmann zusätzlich zu den bisherigen Forderungen die Räumung Livlands und Estlands verlangt und zur Bekräftigung der deutschen Position demonstrativ mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Trotzki reagierte wie zuvor Joffe: Er forderte eine Verhandlungspause und reiste mit seiner Delegation nach Petrograd zurück.
Dort war am gleichen Tag die Verfassunggebende Versammlung zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammengetreten. Es sollte bei dieser einen Sitzung bleiben. Die Bolschewiki konfrontierten die nichtbolschewistische Mehrheit mit der ultimativen Forderung, alle Staatsgewalt sofort den Sowjets zu übertragen. Nachdem dieser Antrag abgelehnt worden war, verließen die Bolschewiki die Versammlung. Die verbliebenen Abgeordneten beschlossen Dekrete über die Abschaffung des Grundbesitzes und die Einberufung einer Friedenskonferenz; außerdem erklärten sie Rußland feierlich zu einer demokratischen föderativen Republik. Demonstranten, die der Konstituante ihre Sympathie bekunden wollten, wurden von bolschewistischen Elitetruppen unter Einsatz von Schußwaffen aufgehalten; es gab viele Tote und Verwundete. Als die Abgeordneten am nächsten Tag ihre Beratungen fortsetzen wollten, wurde ihnen der Eingang zum Tagungsort, dem Taurischen Palais, durch Soldaten versperrt, die mit Gewehren, Maschinengewehren und zwei Feldartilleriegeschützen bewaffnet waren. Zeitungen, die über die Sitzung vom Vortag berichteten, wurden durch Angehörige bolschewistischer Truppen beschlagnahmt, zerfetzt und verbrannt.
Die gewaltsame Auflösung der Konstituante entsprach einem Beschluß des Allrussischen Exekutivkomitees der Sowjets. Das einschlägige Dekret hatte Lenin verfaßt. Er behauptete, «jeder Verzicht auf die uneingeschränkte Macht der Sowjets, auf die vom Volk eroberte Sowjetrepublik zugunsten des bürgerlichen Parlamentarismus und der Konstituierenden Versammlung wäre jetzt ein Schritt rückwärts, (er) würde den Zusammenbruch der ganzen Oktoberrevolution der Arbeiter und Bauern bedeuten … Es war daher unvermeidlich, daß die Fraktion der Bolschewiki und der linken Sozialrevolutionäre, die jetzt offenkundig die ungeheure Mehrheit in den Sowjets bilden und das Vertrauen der Arbeiter und der Mehrheit der Bauern genießen, diese Konstituierende Versammlung verließen. Es ist klar, daß der übrig gebliebene Teil der Konstituierenden Versammlung infolgedessen nur die Rolle einer Kulisse spielen könnte, hinter der der Kampf der Konterrevolutionäre für den Sturz der Sowjetmacht vor sich gehen würde.»
Die Sprengung der Konstituante am 19. Januar 1918 markierte nicht mehr und nicht weniger als den endgültigen Bruch zwischen den Bolschewiki und der demokratischen Mehrheit der europäischen Arbeiterbewegung. Die Berufung auf eine höhere Mehrheit als die, die sich in Wahlen äußerte, war die leninistische Variante von Rousseaus Unterscheidung zwischen der wahren «volonté générale» und der demgegenüber unerheblichen «volonté de tous»: ein dialektischer Kunstgriff, dazu bestimmt, der einmal errungenen Macht den Schein einer theoretischen Legitimation zu verschaffen. Der Staatsstreich der Bolschewiki war von zwingender innerer Logik, wenn man von ihren Prämissen ausging und sich in ihre Situation zu Beginn des Jahres 1918 hineinversetzte. Ihre Politik war eine radikale Reaktion auf die radikale Rückständigkeit Rußlands, die gesellschaftliche sowohl wie die der politischen Kultur. Eben deshalb stieß der Januarputsch im eigenen Land zunächst auf keinen Massenwiderstand. Aber wo immer die Arbeiterschaft an mehr Freiheit und Rechtssicherheit gewöhnt war als in Rußland, mußten die Bolschewiki mit scharfem Widerspruch gegen ihr Vorgehen rechnen, und dieser Widerspruch ließ nicht lange auf sich warten. Er kam am deutlichsten und grundsätzlichsten aus dem Land, auf das die Bolschewiki ihre größten Hoffnungen setzten: aus Deutschland.
Hier waren nicht nur die Mehrheitssozialdemokraten, sondern auch die gemäßigten Kräfte unter den Unabhängigen Sozialdemokraten empört über den Gewaltakt vom 19. Januar. Karl Kautsky, der sich aus Protest gegen die Bewilligung der Kriegskredite durch die MSPD der USPD angeschlossen hatte, hielt Lenin vor, die Diktatur einer von mehreren Parteien sei nicht die «Diktatur des Proletariats» im Sinne von Marx und Engels, «sondern die Diktatur eines Teiles des Proletariats über einen anderen Teil». Die Diktatur einer Minderheit aber finde ihre kraftvollste Stütze in einer ergebenen Armee, und je mehr die Minderheit die Gewalt der Waffen an die Stelle der Majorität setze, «desto mehr drängt sie auch jede Opposition dahin, ihr Heil im Appell an die Bajonette und Fäuste zu suchen, statt im Appell an die Wahlstimmen, der ihr versagt ist: dann wird der Bürgerkrieg die Form der Austragung politischer und sozialer Gegensätze».
Der Bürgerkrieg aber war für Kautsky die grausamste Form des Krieges und darum eine Katastrophe. «Im Bürgerkrieg kämpft jede Partei um ihre Existenz, droht den Unterliegenden völlige Vernichtung … Mancher verwechselt den Bürgerkrieg mit der sozialen Revolution, hält ihn für deren Form und ist geneigt, die im Bürgerkrieg unvermeidlichen Gewalttätigkeiten damit zu entschuldigen, daß ohne solche eine Revolution nicht möglich sei … Wollte man nach dem Beispiel der bürgerlichen Revolutionen sagen, die Revolution sei gleichbedeutend mit Bürgerkrieg und Diktatur, dann müßte man auch die Konsequenz ziehen und sagen: die Revolution ende notwendigerweise in der Herrschaft eines Cromwell oder Napoleon.»
Selbst auf der äußersten Linken, in der «Spartakusgruppe», waren die Meinungen über den Januarputsch der Bolschewiki geteilt. Clara Zetkin, die Vorkämpferin der sozialistischen Frauenbewegung, und der Historiker Franz Mehring verteidigten die Zerschlagung der Konstituante ohne Vorbehalt: Zetkin meinte gar, der Verzicht auf diese Aktion «wäre ein Verbrechen gewesen, gepaart mit Narrheit». Rosa Luxemburg hingegen, seit Juli 1916 in «Schutzhaft», hielt es für unentschuldbar, daß die Bolschewiki nach der (auch von ihr gerechtfertigten) Verjagung der Verfassunggebenden Versammlung nicht unverzüglich Neuwahlen ausgeschrieben hätten. «Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie auch noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur die Freiheit des anders Denkenden»: So lauteten die meistzitierten Sätze der erst posthum veröffentlichten Schrift «Die russische Revolution». Sie waren allerdings nicht als Bekenntnis zu einem liberalen, sondern zu einem revolutionären, sozialistischen Pluralismus gemeint. An «Klassenverräter» und bürgerliche «Revolutionäre» dachte die Autorin nicht, als sie das Wort von der «Freiheit des anders Denkenden» niederschrieb.
Was die Sprengung der Konstituante anging, hatte Lenin die führenden Bolschewiki hinter sich. Hinsichtlich der Friedensfrage sah es anders aus. Lenin war entschlossen, jeden Frieden hinzunehmen, der dem Regime der Bolschewiki das Überleben sicherte. Deswegen plädierte er für die unverzügliche Unterzeichnung des Friedensvertrags. Im gleichen Sinn äußerte sich Stalin. Bucharin und Dzierzyński hielten die Annahme der deutschen Bedingungen für eine politische Katastrophe. Trotzki sprach sich dafür aus, die Unterschrift zu verweigern, aber nicht weiterzukämpfen, sondern die Zersetzung in den Armeen der Mittelmächte zu fördern; «Weder Krieg noch Frieden» lautete seine Parole. Im Zentralkomitee fand sich nach heftigen Auseinandersetzungen eine Mehrheit für Trotzkis Linie. Am 10. Februar erklärte dieser, inzwischen nach Brest-Litowsk zurückgekehrt, den Krieg für beendet und brach die Verhandlungen ab. Die deutsche Seite antwortete am 16. Februar mit einem Ultimatum an die Sowjetregierung, das diese unbeantwortet ließ. Am 18. Februar machten die Deutschen ernst und gingen zum Angriff über. Lenin kämpfte nochmals mit vollem Einsatz für die Annahme der Friedensbedingungen, und diesmal setzte er sich mit 7 von 13 Stimmen im Zentralkomitee durch. Die deutsche Regierung wurde telegraphisch informiert, daß der Rat der Volkskommissare bereit sei, die Friedensbedingungen zu akzeptieren und sich zu etwaigen neuen Bedingungen sofort zu äußern.
Die deutsche Antwort vom 22. Februar ging über das bisher Bekannte noch hinaus. Neben der Aufgabe des gesamten Baltikums und Finnlands sollte Rußland die von der Zentralen Rada am 22. Januar verkündete Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik anerkennen, was Deutschland bereits am 10. Februar in einem Sonderfrieden getan hatte. (Diese Forderung schloß auch den Rückzug der bolschewistischen Truppen ein, die am 9. Februar Kiew besetzt hatten.) Tatsächlich war die Ukraine mittlerweile ein deutsches Protektorat. Während ihrer Offensive besetzten die deutschen Truppen außer dem restlichen Baltikum auch große Teile Weißrußlands und der Ukraine, darunter am 2. März die Hauptstadt Kiew.
Einen Tag später erfolgte in Brest-Litowsk, nachdem Lenin für den Fall der Ablehnung mit seinem Rücktritt als Parteiführer und Vorsitzender des Rats der Volkskommissare gedroht hatte, die Unterzeichnung des Friedensvertrages. Es war ein brutales Diktat. Rußland verlor ein Drittel seiner Bevölkerung und seines Ackerlandes, über die Hälfte seiner gesamten Industrie, darunter drei Viertel seiner Schwerindustrie, acht Zehntel seiner Eisenvorräte und neun Zehntel seiner Kohleförderung. Durch die Bildung eines unabhängigen ukrainischen Staates und die Abtretung grusinischer und armenischer Gebiete an die Türkei wurde seine Position am Schwarzen Meer erheblich geschwächt. Zur Ostsee verblieb ihm nach der Besetzung des gesamten Baltikums durch deutsche Truppen nur noch ein schmaler Zugang.
Nachdem Rußland bezwungen war, setzten die Mittelmächte, ohne Rücksicht auf den Vertrag von Brest-Litowsk, ihren Vormarsch im Kaukasus fort, wobei das Deutsche und das Osmanische Reich in einen konfliktträchtigen Wettlauf eintraten: Deutsche Truppen besetzten im Juni 1918 Tiflis, türkische im September Baku und seine Erdölfelder. Die Demütigung des geschlagenen Landes ging auch in anderen Bereichen weiter: Durch zusätzliche Verträge mußte sich Rußland Ende August 1918 zur Zahlung von 6 Milliarden Goldmark verpflichten und definitiv auf die nordbaltischen Provinzen Livland und Estland verzichten. Wie zuvor schon im Fall Kurlands waren es auch jetzt wieder die deutschbaltische Oberschicht und ihre im Reich lebenden Repräsentanten, die besonders massiv auf die Abtretung «ihrer» Territorien und deren Germanisierung drängten.
Die öffentliche Meinung Deutschlands hätte sich aber wohl auch ohne diesen Einfluß leicht davon überzeugen lassen, daß es notwendig war, in Gestalt der «Randstaaten» Ostmitteleuropas einen Sicherheitsgürtel gegenüber Sowjetrußland zu schaffen. Einer der «Randstaaten» war Finnland, wo deutsche Truppen und ein eigens für diesen Zweck gebildetes «Hilfskorps Mannerheim» den «Weißen» zu Hilfe kamen und ihnen im Mai 1918 zum Sieg verhalfen. In einem anderen «Randstaat», der Ukraine, löste die deutsche Protektoratsmacht im April 1918 die von den Sozialisten beherrschte Zentral-Rada ab. An ihre Stelle trat eine konservative Regierung unter dem «Hetman» Pavlo Skoropadsky. Sie gab dem Staatsnamen «Ukrainische Volksrepublik» auf und ersetzte ihn durch den Namen «Ukrainischer Staat». Die Unterstützung der Mittelmächte erkaufte sich das Skoropadsky-Regime mit umfangreichen Getreidelieferungen.
Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk brachte Deutschland dem Kriegsziel eines von ihm beherrschten Mitteleuropa so nahe, wie es Anfang 1918 nur irgend möglich war, und verstieß damit eklatant gegen die Friedensresolution des deutschen Reichstags vom 19. Juli 1917. Dennoch stimmte die Volksvertretung am 22. März 1918 dem Vertragswerk mit großer Mehrheit zu. Unter den Ja-Stimmen waren auch die der beiden bürgerlichen «Mehrheitsparteien», des Zentrums und der Fortschrittlichen Volkspartei. Die MSPD, gespalten zwischen Gegnern, Befürwortern und «Neutralen», enthielt sich der Stimme. Nur die USPD stimmte mit Nein. Zusammen mit den beiden anderen «Mehrheitsparteien» hatten die Mehrheitssozialdemokraten zuvor eine Resolution verabschiedet, die die Erwartung aussprach, das Reich werde dem Selbstbestimmungsrecht Polens, Litauens und Kurlands Rechnung tragen.
Mit dem Diktat von Brest-Litowsk durchaus vergleichbar war der Friede von Bukarest, den die Mittelmächte zwei Monate später, am 7. Mai 1918, mit Rumänien abschlossen. Das besiegte Land mußte die ganze Dobrudscha abtreten, von der das verbündete Bulgarien aber nur den südlichen Teil erhielt; der nördliche wurde der Verwaltung der Siegermächte unterstellt. Deutschland und Österreich-Ungarn erhielten besondere Rechte bei der Ausbeutung der Ölquellen, und auf die Dauer von zwei Jahren sicherten sich die beiden Mächte sämtliche Agrarüberschüsse Rumäniens. Gewissermaßen als Ausgleich durfte Rumänien das im April annektierte, zuvor zu Rußland gehörende Bessarabien behalten. Der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Richard von Kühlmann, hatte durchaus recht, als er im Auswärtigen Ausschuß des Bundesrates das wesentliche Ergebnis des Bukarester Friedens mit den Worten beschrieb, in wirtschaftlicher Hinsicht sei Rumänien nunmehr als Kolonie der Mittelmächte anzusehen.
Am 7. März 1918, vier Tage nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Brest-Litowsk, billigte der 7. Parteitag der «Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki)», so der hier beschlossene neue Parteiname, die russische Kapitulation. Lenin konnte die Delegierten davon überzeugen, daß die Unterwerfung unter die deutschen Bedingungen notwendig gewesen war, um dem Sowjetsystem zu einer «Atempause» zu verhelfen. Die eigentliche Rettung freilich konnte, wie Lenin dem Parteitag darlegte, nur die «Revolution in ganz Europa» sein, beginnend mit der deutschen Revolution, die leider nicht so rasch voranschreite, wie die Bolschewiki sich das wünschten. Aber es bleibe «absolut wahr, daß wir ohne die deutsche Revolution zugrunde gehen». Weil diese Revolution noch nicht gekommen sei und Rußland über keine einsatzfähige Armee verfüge (das Dekret über den Aufbau einer neuen, der Roten Armee war erst am 20. Februar ergangen), sei ein «Tilsiter Friede», ein Friede von der Art, wie Napoleon ihn 1807 dem besiegten Preußen auferlegt hatte, unvermeidlich geworden. Jetzt komme es darauf an, eine neue Armee aufzubauen, das Kriegswesen gründlich zu erlernen und Ordnung auf den Eisenbahnen zu schaffen. Die besten Lehrmeister seien dabei die Deutschen. «Lernt bei den Deutschen Disziplin, sonst sind wir ein verlorenes Volk und werden uns ewig in der Sklaverei befinden.»
Disziplin mußte notfalls auch mit terroristischer Gewalt erzwungen werden. Auf dem Höhepunkt der deutschen Offensive, am 21. Februar 1918, hatte der Rat der Volkskommissare den von Trotzki, dem neuen Kriegskommissar, verfaßten und von Lenin unterzeichneten Aufruf «Das sozialistische Vaterland ist in Gefahr!» erlassen (und damit bewußt auf den berühmten Aufruf der französischen Nationalversammlung vom 11. Juli 1792 Bezug genommen). Darin wurden die Arbeiter und Bauern von Petrograd und Kiew und allen Gebieten im Bereich der neuen Front verpflichtet, Bataillone aufzustellen, um unter Führung militärischer Fachleute Schützengräben auszuheben. In diese Bataillone mußten «alle arbeitsfähigen Mitglieder der bürgerlichen Klasse, Männer und Frauen, unter Aufsicht von Rotgardisten eingereiht werden; wer sich widersetzt, ist zu erschießen». Der Aufruf schloß mit den Worten: «Feindliche Agenten, Spekulanten, Einbrecher, Rowdys, konterrevolutionäre Agenten und deutsche Spione sind am Tatort zu erschießen. Das sozialistische Vaterland ist in Gefahr! Es lebe das sozialistische Vaterland! Es lebe die sozialistische Weltrevolution!»
Das Gefühl der Bedrohung ließ auch nach dem Friedensschluß von Brest-Litowsk nicht nach, und es war begründet. Am 9. März landeten britische Truppen im Eismeerhafen Murmansk. Dort lagerte von den Westmächten geliefertes Kriegsmaterial, das die Entente nicht in die Hände des ehemaligen Verbündeten fallen lassen wollte. Am 12. März verlegte der Rat der Volkskommissare seinen Sitz vom strategisch bedrohten Petrograd in das vergleichsweise sichere Moskau, das nun wieder zu dem wurde, was es vor 1712 gewesen war: zur russischen Hauptstadt. Dort tagte Mitte März der Vierte (außerordentliche) Allrussische Sowjetkongreß. Er stimmte dem Friedensvertrag gegen den erbitterten Widerstand des linken Flügels der Bolschewiki unter Bucharin und der Linken Sozialrevolutionäre zu. Die letzteren erklärten daraufhin ihren Austritt aus dem Rat der Volkskommissare, in dem sie seit dem 22. Dezember 1918 mit zwei Mitgliedern vertreten gewesen waren. Damit verloren die Bolschewiki einen wichtigen Verbündeten, der immer noch über einen gewissen Massenanhang, vor allem in den Gebieten an der Wolga, verfügte. Weitere Widerstandsherde waren das Kosakengebiet am Don und Transkaukasien, wo die Bolschewiki fast gar keinen Rückhalt hatten und innerhalb der sozialistischen Bewegung die Menschewiki stärker waren als die Partei Lenins. Die Gefahr eines umfassenden Bürgerkrieges wuchs also, und mit ihr die Gefahr eines Eingreifens der westlichen Verbündeten in die innerrussischen Machtkämpfe. Mehr als eine «Atempause» hatte der Vertrag von Brest-Litowsk dem Sowjetregime in der Tat nicht verschafft.
Der bolschewistische Terror war freilich nicht nur eine Reaktion auf die extrem schwierige innere und äußere Situation, in der Rußland sich im Frühjahr 1918 befand. Er ergab sich mit innerer Notwendigkeit aus Lenins Vorhaben, in einem rückständigen Land eine neue kommunistische Gesellschaft zu schaffen. Die Schwäche der bürgerlichen Kräfte hatte ihn zu dem Schluß geführt, daß das russische Proletariat beziehungsweise dessen Avantgarde, die Kommunistische Partei, einen Großteil der Aufgabe erledigen mußte, die Marx zufolge die historische Aufgabe der Bourgeoisie war: die Beseitigung der Grundlagen der alten, von Jahrhunderten der «zaristischen Selbstherrschaft» und der «asiatischen Willkür der Behörden» geprägten Gesellschaft und Herrschaftsordnung.
Lenin war insofern ein «Westler», als der Westen für ihn der Inbegriff der wissenschaftlichen, technischen und industriellen Modernität war und Rußland in dieser Hinsicht den Spiegel seiner Zukunft vorhielt. Der Übergang vom julianischen zum gregorianischen Kalender, am 6. Februar 1918 neuer Zeitrechnung vom Rat der Volkskommissare verfügt und am 14. Februar in Kraft getreten, war darum ein Akt von hoher symbolischer Bedeutung, mit dem das revolutionäre Rußland seinen Willen bekundete, sich auf das Niveau der fortgeschrittenen Nationen zu heben. Daß Lenin sich vorzugsweise auf das Vorbild Deutschland berief, war kein Zufall: Das deutsche Kaiserreich stand nicht für die liberale, sondern für eine autoritäre Variante des Westens. Von Deutschland lernen hieß für Lenin auf eine Modernisierung ohne Liberalisierung zu setzen. Das normative Projekt des Westens, wie es in den atlantischen Revolutionen von 1776 und 1789 Gestalt angenommen hatte, bot aus seiner Sicht nichts, woran Rußland sich orientieren konnte. An der Französischen Revolution interessierte ihn, wie schon Marx, nicht so sehr die erste, gemäßigte als vielmehr die zweite, jakobinische oder terroristische Phase. Die Schreckensherrschaft von 1793/94 mußte, wie Marx 1847 schrieb, «nur dazu dienen, durch ihre gewaltigen Hammerschläge die feudalen Ruinen wie vom französischen Boden wegzuzaubern. Die ängstlich-rücksichtsvolle Bourgeoisie wäre in Dezennien nicht mit dieser Arbeit fertig geworden».
Die Grundannahme von Marx und Engels war ein historischer Analogieschluß: So wie die Bourgeoisie eine funktionslos gewordene Klasse, den Feudaladel, abgelöst hatte, so mußte das Proletariat die Bourgeoisie, nachdem diese ihre gesellschaftliche Aufgabe erfüllt hatte, von der Macht verdrängen. Tatsächlich war der «Vierte Stand», die Arbeiterklasse, in den entwickelten Gesellschaften des Westens nie zu jenem «allgemeinen Stand» geworden, als der sich der «Dritte Stand» 1789 mit einem gewissen Recht fühlen konnte. Für das russische Proletariat galt das erst recht. Nur die strukturelle Schwäche des russischen Bürgertums gab einer Gruppe von großteils der «Intelligenzija» entstammenden Berufsrevolutionären, den Bolschewiki, die Möglichkeit, im Namen des Proletariats die Macht an sich zu reißen.
Die jakobinische «terreur» war nur ein Durchgangsstadium gewesen, dem erst der Thermidor, eine neuerliche Regierung gemäßigter Kräfte, und dann die Herrschaft Napoleons folgten. Um zu verhindern, daß sich in Rußland Ähnliches wiederholte, waren die Bolschewiki, die Lenin schon 1905 die «Jakobiner der modernen Sozialdemokratie» genannt hatte, entschlossen, ungleich härter und konsequenter gegen ihre Feinde vorzugehen als ihr historisches Vorbild. Sie glaubten sich dazu auch deswegen berechtigt und verpflichtet, weil, gemessen an den jeweiligen zeitgenössischen Maßstäben, Rußland 1917/18 um vieles rückständiger war als Frankreich 1793/94 – so rückständig, daß sich ein Ende des Terrors gar nicht absehen ließ. Die Schreckensherrschaft der Jakobiner hatte die Ideen von 1789 nicht dauerhaft verdunkeln können. Die russische Revolution von 1905 und die Februarrevolution von 1917 hatten keine Ideen hervorgebracht, die die des Oktober 1917 hätten überstrahlen können. Der Terror der Bolschewiki, der Träger dieser Ideen, war von Anfang an ein Teil ihres Projekts: des bisher radikalsten Gegenentwurfs zum normativen Projekt des Westens.[8]
Freiheit für die zivilisierten
Völker:
Wilsons neue Weltordnung
Für die Westmächte bedeutete das, was seit Oktober 1917 in Rußland und zwischen Rußland und den Mittelmächten geschah, eine dreifache Herausforderung. Erstens entlastete der Sieg der Bolschewiki die Mittelmächte vom Druck des Zweifrontenkrieges: Deutschland konnte seine Kräfte nunmehr ganz auf die Westfront, Österreich-Ungarn auf die italienische Front konzentrieren. Zweitens verlangte die Propaganda der Bolschewiki eine Antwort, und zwar weniger ihre auf die proletarische Revolution als die auf den allgemeinen Frieden zielenden Parolen. Von der politischen Tribüne, die die russischen Revolutionäre aus dem Verhandlungstisch von Brest-Litowsk machten, konnten unerwünschte Wirkungen auf die Arbeiterschaft Westeuropas, vielleicht sogar Amerikas ausgehen: Mit dieser Möglichkeit mußte man in London, Paris und Washington rechnen. Drittens war die bloße Tatsache, daß in Brest-Litowsk über eine Front hinweg verhandelt wurde, für die Westmächte nicht ungefährlich: Die Mittelmächte erweckten den Eindruck, daß sie die einzigen seien, die den Friedensappell der Bolschewiki ernst nähmen.
Als erster westlicher Staatsmann gab der britische Premierminister David Lloyd George eine Antwort auf den Aufruf der Bolschewiki, alle kriegführenden Mächte sollten öffentlich ihre Bedingungen für einen Friedensschluß darlegen. Am 5. Januar 1918 hielt der liberale Politiker auf einem Kongreß der britischen Gewerkschaften in London eine Rede, in der er sich erstmals umfassend über die Kriegsziele seiner Regierung äußerte. Großbritannien führe keinen Angriffskrieg gegen das deutsche Volk, sagte er. Es beabsichtige keine Zerstörung Deutschlands und auch nicht der Verfassung des deutschen Kaiserreichs, «obwohl wir eine solche militärautokratische Konstitution im 20. Jahrhundert für einen gefährlichen Anachronismus halten». Durch die Einführung einer wahrhaft demokratischen Verfassung würde Deutschland den überzeugendsten Beweis erbringen, «daß der alte Geist militärischer Vorherrschaft in diesem Krieg tatsächlich erstorben sei, und es würde es uns viel leichter machen, mit Deutschland einen weitherzigen demokratischen Frieden zu schließen. Das jedoch ist eine Sache, die das deutsche Volk zu entscheiden hat.» Großbritannien wolle auch nicht Österreich-Ungarn zerstören oder die Türkei aus den von Türken bewohnten Gebieten Kleinasiens und Thrakiens vertreiben. Es gehe um das Recht der Selbstregierung für die Völker der Donaumonarchie, darunter der dort lebenden Italiener, und, was das Osmanische Reich betreffe, um die Anerkennung der besonderen nationalen Bedingungen Arabiens, Armeniens, Mesopotamiens, Syriens und Palästinas.
An der Spitze der britischen Forderungen stand nach wie vor die vollständige Wiederaufrichtung Belgiens. Außerdem müsse, wie Lloyd George betont vorsichtig formulierte, das Verlangen Frankreichs nach «Wiedererwägung» (reconsideration) des «großen Unrechts» von 1871, der ohne Befragung der Bevölkerung vollzogenen Annexion Elsaß-Lothringens durch Deutschland, erfüllt werden. An Rußland gerichtet, prangerte der Premierminister «Preußen» an, das sich die eroberten russischen Provinzen einverleiben wolle. «Die Demokratie Englands beabsichtigt, bis zum Letzten den Demokratien Frankreichs und Italiens und allen seinen Verbündeten beizustehen. Wir werden stolz sein, bis zum Ende weiter an der Seite der neuen Demokratie Rußlands zu kämpfen … Aber wenn die gegenwärtigen Machthaber Rußlands unabhängig von ihren Verbündeten etwas unternehmen, so haben wir keinerlei Mittel, einzuschreiten, um die Katastrophe aufzuhalten, der ihr Land sicherlich verfallen ist. Rußland kann nur durch sein eigenes Volk gerettet werden.»
Es folgten ein Bekenntnis zu einem unabhängigen Polen, das alle wahrhaft polnischen Elemente umfasse, die Forderung nach einer internationalen Regelung für die deutschen Kolonien, die den Wünschen und Interessen ihrer Bewohner Rechnung tragen müsse, die Ankündigung, daß Großbritannien auf Gutmachung des Schadens bestehen werde, den Deutschland in Vergewaltigung des internationalen Rechts verübt habe, und schließlich ein Plädoyer für eine internationale Organisation, die Kriege durch Schlichtung internationaler Streitigkeiten verhindere, Rüstungen begrenze und so einen gerechten und dauerhaften Frieden ermögliche. Für diese Ziele kämpfe das britische Empire, und um die Bedingungen eines solchen Friedens sicherzustellen, seien seine Völker bereit, noch größere Opfer als bisher zu bringen.
Lloyd George warb mit seiner Rede nicht nur um die weitere Unterstützung durch die britische Arbeiterbewegung (und das, wie das freundliche Echo bei den Trade Unions und der Labour Party zeigte, mit Erfolg). Er versuchte auch, eine Brücke über den Atlantik zu schlagen, indem er sich Forderungen des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson wie die nach dem Recht der Völker auf Selbstregierung und einem Völkerbund mehr oder minder deutlich zu eigen machte. Wilsons engste Berater, an ihrer Spitze Oberst Edward M. House, rieten dem Präsidenten bereits seit Dezember 1917 zu einer Grundsatzerklärung über die Kriegsziele der Vereinigten Staaten. Eine solche Erklärung erschien House um so dringender, als es ihm im November auf einer interalliierten Konferenz in Paris auf Grund französischen und italienischen Widerstands nicht gelungen war, eine sehr allgemein gehaltene gemeinsame Verlautbarung der Verbündeten durchzusetzen. Der Beginn der Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk gab einen weiteren Anstoß, mit einer offiziellen amerikanischen Stellungnahme nicht länger zu warten. Am 8. Januar 1918 trug Wilson vor dem amerikanischen Kongreß seine berühmten «Vierzehn Punkte» vor, die bewußt so formuliert waren, daß sie und nicht die Rede von Lloyd George als die autoritative Antwort des Westens auf die Friedensappelle der Bolschewiki in die Geschichte eingingen und Wilson zum wahren Widerpart Lenins wurde.
Von der Rede des britischen Premierministers unterschied sich die Ansprache des amerikanischen Präsidenten unter anderem dadurch, daß sie die Bolschewiki mit überaus schmeichelhaften Worten umwarb. Die Überzeugung des russischen Volkes von dem, was recht, menschlich und ehrenhaft sei, sei mit «Offenheit, Weitsicht, Großzügigkeit des Geistes und auf eine derart allgemein menschliche Weise sympathisch» vorgetragen worden, daß dies die Bewunderung eines jeden Freundes der Menschheit erregen müsse. Ob die gegenwärtigen Führer Rußlands dies glaubten oder nicht, es sei das von Herzen kommende Bedürfnis und die Hoffnung Amerikas, daß sich eines Tages ein Weg öffnen werde, «der uns das Vorrecht einräumt, dem russischen Volk bei der Erfüllung seiner kühnsten Hoffnungen auf Freiheit und einen gesicherten Frieden zu helfen».
In seinen Vierzehn Punkten forderte Wilson öffentliche Friedensverhandlungen und Friedensverträge ohne irgendwelche Geheimklauseln, die Freiheit der Schiffahrt auf den Meeren, eine möglichst weitgehende Beseitigung von Handelsgeheimnissen, allgemeine Abrüstung, einen freien, offenen, absolut unparteiischen Ausgleich aller Kolonialforderungen, wobei die Interessen der betroffenen Bevölkerung ebenso berücksichtigt werden müßten wie die der Kolonialmächte, die vollständige Räumung russischen Territoriums von fremden Truppen und eine Regelung aller Rußland betreffenden Fragen dergestalt, daß dieses Land über seine eigene Entwicklung frei entscheiden und sich mit seinen selbstgewählten Vertretungsorganen in der Gesellschaft der freien Nationen willkommen fühlen könne. Belgien müsse geräumt und seine Souveränität wiederhergestellt werden, besetztes französisches Gebiet ebenso. Das Unrecht, das Preußen Frankreich 1871 angetan habe, müsse gutgemacht werden (should be righted). Die Grenzen Italiens gelte es entlang klar erkennbarer Nationalitätslinien (along clearly recognizable lines of nationality) neu zu ziehen. Die Völker Österreich-Ungarns sollten die denkbar freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung (the freest opportunity of autonomous development) erhalten. Zu räumen waren die Territorien Rumäniens, Serbiens und Montenegros; Serbien sollte überdies einen garantierten und sicheren Zugang zum Mittelmeer erhalten.
Für die Türken verlangte Wilson eine gesicherte Souveränität, wobei andere Nationalitäten, die jetzt unter türkischer Herrschaft lebten, in den Genuß einer freien und autonomen Entwicklung kommen und die Dardanellen ein allen Nationen offenstehender, international garantierter freier Schiffahrtsweg werden müßten. Zur polnischen Frage hieß es, es sei ein unabhängiger polnischer Staat zu errichten, der die Gebiete mit unstrittig polnischer Bevölkerung umfasse, der einen sicheren, freien Zugang zum Meer habe und dessen Status und territoriale Integrität durch internationale Übereinkunft zu garantieren seien. Schließlich sei ein allgemeiner Völkerbund (a general association of nations) zu schaffen mit dem Zweck, großen und kleinen Staaten gleichermaßen die politische Unabhängigkeit und die territoriale Integrität zu sichern.
Gegen Ende seiner Rede wandte sich Wilson an die Deutschen. Amerika neide Deutschland nicht seine Größe und nicht seine Leistungen; es wolle seinen legitimen Einfluß als Macht nicht schmälern. Die Vereinigten Staaten wünschten Deutschland «weder mit Waffen noch mit feindseligen Handelsregelungen zu bekämpfen, wenn es seinerseits willens ist, sich mit uns und den anderen friedliebenden Nationen der Welt auf der Grundlage der Gerechtigkeit, des Rechts und des fairen Umgangs miteinander vertraglich zu verbinden. Wir wünschen lediglich, daß es einen Platz der Gleichrangigkeit (a place of equality) unter den Völkern der Welt, der neuen Welt, in der wir jetzt leben, einnimmt und nicht einen dominierenden Platz (a place of mastery). Wir maßen uns auch nicht an, Deutschland eine Auswechslung oder Änderung seiner Institutionen anzuraten. Doch es ist, offen gesagt, notwendig, und zwar notwendig im Sinn einer Vorbedingung für vernünftige Verhandlungen zwischen uns und Deutschland, daß wir wissen, für wen seine Vertreter sprechen – für die Mehrheit des Reichstages oder für die Militärpartei und die Männer, deren Credo imperiale Herrschaft ist.» Die Schlußworte des Präsidenten klangen beschwörend: «Der moralische Höhepunkt dieses größten und letzten Krieges für die menschliche Freiheit ist gekommen, und sie (die Vereinigten Staaten, H. A. W.) sind bereit, ihre eigene Stärke, ihr eigenes höchstes Anliegen, ihre eigene Integrität und ihre Hingabe unter Beweis zu stellen.»
Seine Rede vom 2. April 1917, in der er die Parole «to make the world safe for democracy» ausgab, hatte Wilson nur halten können, weil zweieinhalb Wochen zuvor in Rußland das Regime des Zaren gestürzt worden war. Die Vierzehn-Punkte-Rede vom 8. Januar 1918 konnte er in dieser Form nur vortragen, weil das Ereignis des 19. Januar, die Verjagung der frei gewählten Konstituante durch die Bolschewiki, noch nicht stattgefunden hatte. Die lobenden Bemerkungen über die junge russische Demokratie und die sympathische Offenheit ihrer Führer zeugten von geringer Kenntnis dessen, was in Rußland geschah; sie waren diktiert von Wilsons Wunsch, Rußland in einen scharfen Gegensatz zu Deutschland zu bringen. Mochten die Bolschewiki sich auch erfreut zeigen über die Anerkennung aus Washington, so hatten sie doch keine Bedenken, den amerikanischen Präsidenten wenige Tage später durch ihren Gewaltakt bloßzustellen.
Die Illusionen hinsichtlich des neuen Rußland waren aber nicht die einzige anfechtbare Passage der Rede. Einige von Wilsons Punkten gingen großzügig über widerstrebende Realitäten hinweg. Der Präsident war sich schwerlich der Tatsache bewußt, daß das Prinzip der demokratischen Mehrheitsherrschaft, wenn es uneingeschränkt galt, in national gemischten Staaten leicht zur Vergewaltigung von ethnischen Minderheiten führen konnte. Er stellte überdies strategische Forderungen wie die nach dem Meereszugang für Serbien und Polen auf, ohne zu fragen, ob sich dies mit dem Nationalitätenprinzip vereinbaren ließ. Die Ausführungen zu den legitimen Interessen der Kolonialvölker waren schließlich so allgemein gehalten, daß sie die Kolonialmächte (zu denen seit dem spanisch-amerikanischen Krieg 1898 ja auch die USA gehörten) nicht ernsthaft beunruhigen mußten. Wilson war ein Südstaatler aus Virginia und teilte die Vorurteile des amerikanischen Südens gegenüber den Schwarzen. Wie die meisten Amerikaner und Europäer hielt er letztlich nur die weißen Völker für wirklich «zivilisiert». Zu einem glaubwürdigen Anwalt der Befreiung der Kolonialvölker konnte er angesichts solcher Prägungen nicht werden.
All das nahm der Rede aber nicht ihren weltgeschichtlichen Rang. Der Präsident steigerte die Brisanz der «Vierzehn Punkte» noch, als er am 11. Februar 1918 in einer weiteren Botschaft an den Kongreß die zündende, aber nicht näher definierte Parole von der «Selbstbestimmung» (self-determination) ausgab. Zu Ende gedacht, lief Wilsons Vision einer befriedeten Welt sich selbst regierender Nationen, eine an Thomas Paines «Common Sense» und Immanuel Kants Schrift «Zum ewigen Frieden» erinnernde Zielvorstellung, auf eine Infragestellung des (mit fragwürdigem Recht so genannten) «Westfälischen Systems» hinaus, das unter Berufung auf die Souveränität der Staaten Einmischungen in deren innere Angelegenheiten untersagte. Sie war zugleich eine Antwort auf Lenins revolutionäre Variante des Selbstbestimmungsrechts der Völker und konnte leicht, obgleich Wilson unter «self-determination» nichts anderes als «self-government», also innenpolitische Selbstregierung, verstand, als Propagierung eines Rechts «zivilisierter» Völker auf Sezession und Eigenstaatlichkeit gedeutet werden. Ihre die alte Ordnung sprengende Kraft entfalteten die Vierzehn Punkte und die Botschaft vom 11. Februar bereits 1918: zum einen bei den europäischen Völkern, die nach staatlicher Unabhängigkeit strebten, obenan den Polen, den Tschechen und den Südslawen des Habsburgerreiches, zum anderen bei den Kräften, die auf eine Demokratisierung des deutschen Kaiserreiches hinarbeiteten.
In Berlin wurden die «Vierzehn Punkte» völlig zu Recht als Aufruf zu einer demokratischen Umwälzung in Deutschland interpretiert. Entsprechend negativ fielen die Reaktionen der deutschen Rechten, aber auch der Reichsleitung aus. Am 24. Januar 1918 erteilte Reichskanzler Graf Hertling im Hauptausschuß des Reichstags den an die deutsche Adresse gerichteten konkreten Forderungen des amerikanischen Präsidenten eine klare Absage. Die Neuordnung im Osten gehe allein Rußland und die Mittelmächte an; eine «gewaltsame Angliederung Belgiens» habe nie einen Programmpunkt der deutschen Politik gebildet; irgendwelche Gebietsverzichte Deutschlands, ob im Westen oder im Osten, lehnte der Kanzler rundweg ab. Was die Freiheit der Meere betraf, machte Hertling sie von einem britischen Verzicht auf Gibraltar, Malta, Aden, Hongkong, die Falklandinseln und anderen Stützpunkten abhängig.
In Frankreich waren die Sozialisten dankbar für die Offenlegung der amerikanischen Kriegs- oder besser Friedensziele. Die beharrliche Weigerung von Ministerpräsident Clemenceau, die französischen Kriegsziele zu präzisieren, vertiefte den Gegensatz zwischen Regierung und Opposition; die SFIO wurde in Frankreich zur eigentlichen «Wilson-Partei» (so wie sich in Deutschland dasselbe von der gemäßigten Mehrheit der USPD und in England von der Labour Party sagen ließ). Die starre Haltung des Regierungschefs erklärte sich nicht nur aus seiner Entschlossenheit, Elsaß-Lothringen ohne Volksabstimmung an Frankreich zurückzugliedern (worauf sich bisher weder Wilson noch Lloyd George noch die französischen Sozialisten festgelegt hatten). Clemenceau hatte auch nicht das geringste Interesse daran, öffentlich über seine weitergehenden, von Generalstabschef Joffre unterstützten Forderungen im Hinblick auf das Saargebiet und das Rheinland zu sprechen. Ebenso entschieden weigerte sich die italienische Regierung unter Ministerpräsident Orlando und Außenminister Sonnino, ihre Kriegsziele zu erläutern: Zu offenkundig war der Widerspruch zwischen Wilsons Bekenntnis zum Nationalitätsprinzip und ihrem Beharren auf der Brennergrenze, auf Istrien und großen Teilen von Dalmatien.
Vittorio Emanuele Orlando war der seit Oktober 1917 amtierende Nachfolger Paolo Bosellis, unter dessen Regierung auch die beiden Reformsozialisten Leonida Bissolati und Ivanoe Bonomi Ministerposten übernommen hatten. Bissolati war der beredteste Sprecher der «Demokratischen Interventionisten», die sich im Sinne Wilsons zum Selbstbestimmungsrecht der Völker bekannten, die Forderung nach der Annexion deutsch-, slawisch- oder griechischsprachiger Gebiete also ablehnten. Orlando näherte sich den «Demokratischen Interventionisten» zumindest taktisch an, als er, auf Drängen des Generalstabs und gegen den Willen von Außenminister Sonnino mit den Südslawen zu kooperieren begann, was eine gewisse Zurückhaltung im Hinblick auf die italienischen Forderungen nach Ausdehnung auf der Ostseite der Adria verlangte. Der halboffizielle «Patto di Roma», verabschiedet auf einem «Kongreß der unterdrückten Völker» im April 1918, trug dieser neuen Linie Rechnung. Ein Widerruf der entsprechenden Teile des Londoner Geheimvertrages mit der Entente, der im November 1917 von der Sowjetregierung publik gemacht worden war, fand aber bis zum Kriegsende nicht statt.
Unter den Emigranten aus der Habsburgermonarchie, die sich für die Unabhängigkeit ihrer Länder einsetzten, stand keiner den Ideen Wilsons so nahe wie der tschechische Philosoph Tomáš Masaryk, der 1850 in Mähren geborene Sohn eines slowakischen Kutschers und einer deutsch-mährischen Bauerntochter, der von 1900 bis 1914 als Abgeordneter der von ihm gegründeten «Realistischen Partei» dem österreichischen Reichsrat angehört hatte. An den Vierzehn Punkten aber störte ihn wie seinen Mitarbeiter Edvard Beneš, daß Wilson, schon um Österreich-Ungarn nicht noch enger an die Seite Deutschlands zu drängen, ebenso wie Lloyd George (und wie dieser wohl auch im Hinblick auf einen möglichen «Sonderfrieden» mit Wien) darauf verzichtet hatte, die Auflösung der Donaumonarchie zu fordern. In dieser Hinsicht waren Ministerpräsident Clemenceau und sein Außenminister Stéphen Pichon bessere Verbündete: Beide Politiker ließen keinen Zweifel daran aufkommen, daß sie die bedingungslose Kapitulation und damit das Ende Österreich-Ungarns anstrebten. Sie wurden 1918 in dem Sinn aktiv, den Masaryk wünschte: der Förderung nationaler Unabhängigkeitsbestrebungen im Habsburgerreich.
Masaryk und Beneš konnten in diesen Kampf etwas einbringen. Beide hatten 1916 in Paris mit Zustimmung der französischen Regierung den Tschechoslowakischen Nationalrat gegründet, der auf eine gemeinsame Staatlichkeit von Tschechen und Slowaken hinarbeitete – ein Ziel, auf das sich tschechische und slowakische Exilorganisationen erstmals im Oktober 1915 in Cleveland, Ohio, und dann erneut, in verbindlicherer Form, Mitte Mai 1918 im Vertrag von Pittsburgh einigten, in dem Masaryk den Slowaken weitgehende Autonomie zusicherte. Nach der Februarrevolution ging Masaryk nach Rußland, wo er die Tschechoslowakische Legion, eine Truppe von Kriegsgefangenen und Deserteuren aus dem österreichisch-ungarischen Heer, zu einer Befreiungsarmee umorganisierte, die auf der französischen Seite der Westfront eingesetzt werden sollte. Um dorthin zu gelangen, mußte sie, da der direkte Weg durch die Staatsgebiete der Mittelmächte versperrt war, einen großen Umweg durch Sibirien bis nach Wladiwostok in Kauf nehmen, wo am 5. April 1918 japanische Truppen gelandet waren.
Die Sowjetregierung hatte den Plan zunächst gebilligt, zog aber nach mehreren Zwischenfällen ihre Zustimmung zurück. Der Befehl Trotzkis, die inzwischen auf mindestens 40.000 Mann angewachsene Legion zu entwaffnen, ließ sich nicht ausführen, da diese massiven Widerstand leistete. Binnen weniger Wochen gelang es ihr, ein großes Gebiet an der mittleren Wolga, die Gegend um Ufa im südlichen Ural, einen Teil des südwestlichen Sibirien und einen Großteil der Strecke der Transsibirischen Eisenbahn bis in die Nähe von Irkutsk unter ihre Kontrolle zu bringen. Das war nur möglich durch das Zusammenwirken mit russischen Gegnern der Bolschewiki wie den Sozialrevolutionären des Wolgagebiets. Am 8. Juni 1918, dem Tag, an dem die Legion in Samara einzog, erklärte das dortige Komitee aus sozialrevolutionären Mitgliedern der Konstituante die Regierung der Bolschewiki für abgesetzt und sich selbst zur Provisorischen Regierung. Die Tschechoslowakische Legion wurde so, anstatt nach Frankreich zu gehen, zu einem aktiven Element des beginnenden russischen Bürgerkrieges. Auf ihr Konto gingen viele Greuel, darunter die Ausplünderung der Zivilbevölkerung und die Ermordung von deutschen und österreichisch-ungarischen Offizieren, die in ihre Hände gefallen waren.
Im Sommer 1918 schien der Sturz der bolschewistischen Regierung zeitweilig nur noch eine Frage von Tagen zu sein. Anfang Juli entfesselten die Linken Sozialrevolutionäre in Moskau und Mittelrußland einen Aufstand, in dessen Verlauf am 6. Juli der deutsche Botschafter Graf Mirbach ermordet wurde. Um dieselbe Zeit gelang es «weißen» Kräften unter den Generälen Denikin und Krasnow, dem «Hetman» der Donkosaken, die Bolschewiki aus dem Kuban- und dem Dongebiet zu vertreiben. Im westlichen Sibirien sammelte Admiral Koltschak, ein Anhänger des Zaren, gegenrevolutionäre Kräfte, die zusammen mit der Tschechoslowakischen Legion Kasan einnahmen. Die Antwort der Bolschewiki war die Ermordung der Zarenfamilie in Jekaterinburg, dem späteren Swerdlowsk, am 16. August 1918. Kurz zuvor hatten «Weiße» im äußersten Norden Rußlands, in Archangelsk, die Bolschewiki aus der Stadtregierung vertrieben. Einen Tag danach, am 1. August, wurde die Stadt den Briten und Franzosen übergeben, die von Murmansk aus angerückt waren, um das in dem Eismeerhafen gelagerte alliierte Kriegsmaterial vor einem deutschen Zugriff zu sichern. (In Murmansk gab es bereits seit einiger Zeit eine ähnliche Zusammenarbeit mit dem örtlichen Sowjet, der am 29. Juni seine Beziehungen mit dem Rat der Volkskommissare in Moskau abgebrochen hatte.) Aus einer Aktion, die sich ursprünglich gegen die Deutschen gerichtet hatte, wurde schrittweise eine alliierte Intervention im russischen Bürgerkrieg.
Auf ein hartes gemeinsames Vorgehen der Verbündeten gegenüber den Bolschewiki drängte vor allem, sekundiert von Großbritannien, der einstige Hauptkreditgeber und wichtigste ausländische Investor des Zarenreiches: Frankreich. Die Intervention sollte vom ostsibirischen Wladiwostok ausgehen, wo noch sehr viel mehr alliiertes Kriegsmaterial lagerte als in Murmansk und Archangelsk. Das bisher von den Bolschewiki kontrollierte Wladiwostok wurde am 29. Juni von einem isolierten Teil der Tschechoslowakischen Legion, der in den Monaten zuvor hierher gelangt war, eingenommen. Die Absicht der Tschechen, nach Westsibirien zurückzukehren und dort ihre Kameraden beim Kampf gegen die Bolschewiki zu unterstützen, ließ sich aber nur mit Hilfe der Verbündeten, das heißt der USA oder Japans, verwirklichen.
Sympathie für die Sache der Tschechen war ein wesentlicher Grund, weshalb Präsident Wilson dem Drängen der Franzosen und Briten schließlich nachgab und die Entsendung amerikanischer Truppen, insgesamt 7.000 Mann, nach Sibirien anordnete. An Kämpfen gegen die Rote Armee nahmen die amerikanischen Verbände nur äußerst selten teil. Ihre Hauptaufgabe bestand in der Bewachung von Teilstrecken der Transsibirischen Eisenbahn, die zuvor von den Bolschewiki kontrolliert worden waren. Aber trotz dieser Zurückhaltung gab es seit August 1918 keinen Zweifel mehr, auf wessen Seite die USA im russischen Bürgerkrieg standen: auf der Seite der «Weißen», die die Herrschaft der im Januar von Wilson noch umworbenen Bolschewiki stürzen wollten.[9]