Am 9. November erklärte die faschistische Mehrheit der Deputiertenkammer die Mandate der oppositionellen Abgeordneten für erloschen. Es folgten, auf der Grundlage des Staatsschutzgesetzes vom 25. November 1926, die Errichtung eines Sondergerichtshofes (Tribunale Speciale) für politische Straftaten, die Einführung neuer, auch rückwirkend geltender schwerer Strafen, gegebenenfalls der Todesstrafe, für antifaschistische Betätigung sowie einer Polizeihaft, die administrativ, also ohne Einschaltung von Gerichten verhängt werden konnte. Auf Grund des neuen Gesetzes wurde der faktische Führer der Kommunisten, Antonio Gramsci, den die Polizei bereits am 8. November 1926 verhaftet hatte, im Juli 1928 vom Sondergericht zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Wer von den prominenten Linken noch nicht emigriert oder inhaftiert war, versuchte, ins Ausland zu entkommen. Italien war seit dem November 1926 auch offiziell ein Einparteienstaat und mehr denn je ein Polizeistaat.
Die Politik der Repression konnte nur wirken, weil sie von einer Politik der Integration begleitet wurde. Auf die Gewinnung der Arbeiterschaft zielte die 1925 geschaffene Freizeitorganisation Opera Nazionale Dopolavoro (OND), die vor allem mit ihren sportlichen, kulturellen und touristischen Angeboten den proletarischen Massen einen Ausgleich für den Verlust der politischen Freiheit und wiederholte Lohnsenkungen bieten sollte und dieses Ziel in begrenztem Umfang wohl auch erreichte: Die Mitgliederzahl der OND stieg von 280.000 im Jahr 1926 auf über 1 Million 1929 und schließlich auf 4,6 Millionen im Kriegsjahr 1940.
Als sehr viel weniger wirksam erwiesen sich die Bemühungen um die Überwindung von Klassengesellschaft und Klassenkampf im «stato corporativo». Die am 21. April 1927, dem legendären «Geburtstag Roms», vom Großen Faschistischen Rat beschlossene Carta del Lavoro sah die Eingliederung der staatlich anerkannten Berufsverbände, der «confederazioni», von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in gemeinsame «corporazioni» vor. In den Korporationen sollten die Vertreter von Kapital und Arbeit unter Führung von Staat und Partei die Produktion im nationalen Interesse regeln und planen. Ein neues Wahlgesetz vom Mai 1928 gab den «confederazioni» das Vorschlagsrecht für die vom Großen Faschistischen Rat zu beschließenden Kandidaturen auf der faschistischen Einheitsliste für die Parlamentswahlen – ein Recht, das angesichts des ausschlaggebenden Einflusses des PNF freilich nur auf dem Papier stand.
Die erste Wahl auf der Grundlage des neuen Wahlrechts im März 1929 erbrachte die erwartete plebiszitäre Akklamation: 8,5 Millionen Ja-Stimmen standen nur 136.000 Nein-Stimmen gegenüber. Nach der Wahl vergingen nochmals fünf Jahre, bis am 5. Februar 1934 ein Gesetz über die Bildung und Aufgaben der Korporationen verabschiedet und eine Nationalversammlung der insgesamt 22 Korporationen einberufen werden konnte. Eine autonome Interessenvertretung war im «stato corporativo» nicht mehr möglich. Entscheidend war die Willensbildung des faschistischen Machtzentrums um Mussolini. Die «confederazioni» und «corporazioni» mit ihrem schwerfälligen Apparat und das Einheitsparlament dienten nur als legitimatorische Fassade. Daran änderte sich auch nichts, als im Januar 1939 Parlament und Korporationen in der Camera dei fasci e delle corporazioni zusammengeschlossen wurden.
Als Integrationspolitik waren auch die Lateranverträge vom 11. Februar 1929 zu verstehen. Im ersten Vertrag, dem «Trattato», wurde der Kirchenstaat wieder hergestellt, der im Oktober 1870 durch den Anschluß Roms an das Königreich Italien aufgehört hatte zu bestehen. Die Anerkennung der Souveränität und der Regierungsgewalt des Papstes über die Città del Vaticano erlaubte es dem Heiligen Stuhl, die römische Frage für beigelegt zu erklären. Der zweite Vertrag, eine Finanzkonvention, sagte dem Vatikan als Ersatz für den alten Kirchenstaat eine hohe Entschädigung zu. Der dritte Vertrag, das Konkordat, gewährte der katholischen Kirche Bedingungen, die sie unter einer liberalen Regierung nie hätte durchsetzen können: Die katholische Religion wurde als Staatsreligion anerkannt; die Kirche erhielt eine Garantie für die Freiheit der Seelsorge und des Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen; die kirchlich geschlossene Ehe galt fortan auch als zivilrechtlich wirksam.
Ein Hindernis auf dem Weg zum Konkordat war zunächst der Monopolanspruch der faschistischen Jugendorganisation, der 1926 geschaffenen Opera Nazionale Ballila (Ballila war der Name eines fünfzehnjährigen Jungen, der 1790 mit einem Steinwurf das Signal zum Aufstand gegen die Österreicher in Genua gegeben hatte). Der Opera Nazionale Ballila sollten zwecks körperlicher und militärischer Ertüchtigung sowie politischer Erziehung alle Jungen zwischen 7 und 14 Jahren angehören, ohne daß es eine rigide Beitrittspflicht gab. (Parallel dazu waren die Piccole italiane für Mädchen zwischen 8 und 14 Jahren, die Avanguardisti und die Giovani italiane für die männliche beziehungsweise weibliche Jugend zwischen 14 und 18 Jahren zuständig.) Der Kirche gelang es, ihren Jugendgruppen, die unter dem Namen Associazione di Azione Cattolica zusammengefaßt wurden, einen Sonderstatus zu sichern: Sie blieben bestehen, mußten sich aber jeder Tätigkeit enthalten, die in die gesetzlichen Aufgabengebiete der Staatsjugend fielen. An den Universitäten hingegen blieben die katholischen wie alle anderen nichtfaschistischen Vereinigungen ausgeschaltet: Die männlichen Studenten waren fast zu 100 Prozent in den Gruppi universitari fascisti organisiert.
Die Lateranverträge zogen einen Schlußstrich unter einen langen Konflikt, der fast sechs Jahrzehnte lang das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und dem italienischen Staat schwer belastet hatte. Mit der Wiederherstellung der weltlichen Herrschaft des Papstes und der Privilegierung der katholischen Kirche Italiens wurde eine Grundentscheidung des Risorgimento, die für den laizistischen Nationalstaat, revidiert. Der Faschismus dachte zwar nicht daran, sich zu «katholisieren» oder christlicher zu geben, als er war. Aber der Friedensschluß von 1929 festigte die Position des Regimes nicht nur im Innern, indem er die Katholiken stärker als zuvor an die neue Ordnung band. Er erhöhte auch das Prestige des faschistischen Italien und seines Führers im Ausland: Die gläubigen Katholiken in aller Welt hatten nun einen Grund, Mussolini und seiner Regierung ein gewisses Wohlwollen entgegenzubringen.
Wenn in den Jahren nach dem «Marsch auf Rom» etwas dem Regime Mussolinis reale Legitimation verschaffte, war es die wirtschaftliche Erholung seit Ende 1922. Diese Entwicklung entsprach zwar dem Trend der Weltwirtschaft, wurde aber durch die liberale Wirtschafts- und die strenge Haushaltspolitik von Finanzminister De Stefani zielstrebig gefördert (ein eigenes Wirtschaftsministerium gab es damals in Italien nicht). Die Industrieproduktion wuchs zwischen 1922 und 1929 um 50 Prozent, und auch die Landwirtschaft verzeichnete beträchtliche Wachstumsraten, zu denen die von der Regierung proklamierte «battaglia di grano», eine Ankurbelung der Getreideproduktion, wesentlich beitrug. Die Landwirtschaft erfreute sich schon aus ideologischen Gründen der besonderen Aufmerksamkeit des Regimes: Von den sozialen und mentalen Schäden der Industrialisierung überzeugt, forderten die Faschisten eine «ruralizzazione» (Verländlichung) Italiens. Das als ungesund empfundene Wachstum der Städte sollte beendet, der ländliche Raum gezielt entwickelt werden. Auf diese Weise hoffte der Faschismus auch der weiteren Auswanderung nach Übersee wirksam entgegenwirken zu können.
Eine Agrarreform, die die Interessen der großen Eigentümer verletzt hätte (eine Aufteilung der Güter etwa oder eine Abschaffung der «mezzadria», des Halbpachtsystems, in der Toskana), schied von vornherein aus: Die Latifundenbesitzer durften nicht verprellt werden, weil sie die wichtigsten Verbündeten der Faschisten waren; ohne ihre Hilfe wäre die Partei Mussolinis nicht an die Macht gekommen. Die Ruralisierung konnte infolgedessen nur die Form der Binnenkolonisation annehmen. Als Raum hierfür kamen neben der toskanischen Maremma und dem Maccarese nördlich von Rom nur die Pontinischen Sümpfe im Süden der Hauptstadt in Frage.
In dem zuletzt genannten Gebiet begannen 1930 seit langem geplante großflächige Trockenlegungsarbeiten, die in der Zeit der Weltwirtschaftskrise auch im Sinne einer konjunkturbelebenden staatlichen Arbeitsbeschaffung durchgeführt wurden. In den dreißiger Jahren entstanden hier fünf neue Retortenstädte: Littoria, das heutige Sabaudia, Pomezia, Aprilia und Pontina. Sie wurden als kommunale ländliche Zentren (centri comunali agricoli) konzipiert und orientierten sich am Idealbild einer faschistischen Stadt: Im Zentrum standen das Rathaus und ihm gegenüber die katholische Kirche, beide überragt von dem örtlichen Sitz der Partei, der «casa del fascio» mit ihrem Liktorenturm. Weiter gehörten in der Regel eine Milizkaserne und ein Freizeitzentrum der Opera Nazionale Dopolavoro zum Stadtkern.
Die Ruralisierung wurde wie die «Getreideschlacht» mit großem propagandistischem Aufwand betrieben, zeitigte aber nicht die gewünschten Ergebnisse. Zwischen 1921 und 1930 nahm die Zahl der Beschäftigten insgesamt um 1,1 Millionen zu, im landwirtschaftlichen Sektor aber nahm sie um 530.000 ab. Bis 1940 wurden nur 100.000 Menschen auf neu kultiviertem Land angesiedelt. Da der Faschismus sich nicht als rückwärtsgewandt, sondern modern präsentieren wollte, konnte er in der Praxis auch gar nicht das Land systematisch gegenüber der Stadt privilegieren. Er mußte, um der Krise nach 1929 entgegentreten zu können, auch die industrielle Erzeugung beleben, was er, an die Praxis früherer Regierungen anknüpfend, mit Hilfe protektionistischer, jetzt am utopischen Ziel der Autarkie ausgerichteter Maßnahmen tat: Die Stahlindustrie produzierte zu Preisen, die zwischen 50 und 100 Prozent über denen des Weltmarkts lagen.
Das wichtigste Instrument der faschistischen Industriepolitik war das 1933 gegründete Istituto per la Ricostruzione Industriale (IRI), das zeitweilig 42 Prozent des Kapitals aller Aktiengesellschaften und sämtlicher kriegswichtigen Industrien kontrollierte. Mit seinem gemischten, teils staatlichen, teils privaten Management trug das IRI vermutlich entscheidend dazu bei, daß die Wachstumsraten des italienischen Bruttoinlandsprodukts in den dreißiger Jahren erstmals den europäischen Durchschnitt leicht übertrafen und der Anteil Italiens an der Weltindustrieproduktion 1938 mit 2,8 Prozent knapp über dem Stand von 1928, nämlich 2,7 Prozent, lag.
Nicht nur den neuen, auch den alten Städten suchte der Faschismus seinen Stempel aufzudrücken. Unter dem Stichwort «sventramento» (Niederreißung) wurden, wo immer das möglich erschien, die historischen Stadtzentren entkernt, wodurch Platz für faschistische Monumentalbauten und neue axiale Straßenzüge entstand. Besonders tiefe Spuren hat die Urbanisierungspolitik des Regimes in Rom hinterlassen. Dort ließ Mussolini durch seinen Chefarchitekten Marcello Piacentini die gesamte innerstädtische Straßenführung sternförmig auf die Piazza Venezia, wo seit 1929 sein Amtssitz, der Palazzo Venetia, lag, ausrichten. Die großen neuen Straßen eigneten sich nicht nur für Paraden, auf ihnen konnten die Massen auch rasch zu den Reden strömen, die der charismatische «Duce» vom Balkon des Palazzo Venezia aus hielt.
Von den älteren römischen Bauten galten Mussolini nur die antiken, und unter diesen vor allem die der Kaiserzeit, als wirklich erhaltenswert. Straßendurchbrüche sollten den Blick frei geben auf die Überreste des kaiserlichen Rom, den Kapitolshügel, das Forum Romanum, den Palatin, das Kolosseum und den Circus Maximus, und diese zu einem einzigen großen Erinnerungsmonument machen. Eben diesem Ziel diente auch das Projekt der Via dell’Impero, der heutigen Via dei fori Imperiali. Das antike Herrschaftszentrum wurde auf diese Weise von einem breiten faschistischen Straßenring umgeben, wobei der «Duce» auch bei diesen Straßen Wert darauf legte, daß sie sich für Paraden eigneten.
Das alte Rom wurde während der Herrschaft Mussolinis radikal umgestaltet. Das Ergebnis hat Wolfgang Schieder wie folgt zusammengefaßt: «Das Rom der Antike, vor allem das kaiserliche Rom, ist seitdem topographisch nur noch in faschistischer Verfremdung präsent. Um die antiken Monumente in ihrer authentischen Form kennenzulernen, müßten daher erst einmal die faschistischen Überlagerungen abgetragen oder zumindest deutlich gemacht werden. Solange das nicht der Fall ist, wird die römische Antike durch den Faschismus repräsentiert.»
Im faschistischen Romkult, der «romanità fascista», spiegelte sich der Wunsch des Regimes, sich durch Berufung auf ein historisches non plus ultra selbst zu erhöhen. Das Imperium Romanum galt als Vorbild des neuen, erst noch zu schaffenden Impero fascista. Aus dem alten Rom stammten die meisten Symbole und zahlreiche Begriffe der Faschisten, von «fasci» und den Liktorentürmen über die hierarchische Gliederung der Miliz in «manipoli», «centurie», «coorti» und «legioni» bis hin zum Gruß mit dem erhobenen rechten Arm. 1926 ließ sich Mussolini bei einem demonstrativen Flottenbesuch in Libyen, wo Italien in Kämpfe mit der einheimischen Unabhängigkeitsbewegung verwickelt war, als neuer Scipio Africanus feiern. Nach dem Vorbild des Augustus stilisierte er sich nach dem Abessinienkrieg von 1935/36 zum großen Friedensstifter. Rechtzeitig zum 2000. Geburtstag des ersten römischen Kaisers ließ er (als Teil eines modernen Pavillons zwischen dem völlig umgebauten Augustus-Mausoleum und dem Tiber) die Ara Pacis aus dem Jahr 9 vor Christus rekonstruieren. Italien und die Welt sollten wissen, wer der legitime Erbe des Augustus und der berufene Bewahrer seines Geistes war: der «Duce del Fascismo».
Eine ausgefeilte, wissenschaftliche Geltung beanspruchende Ideologie besaß der Faschismus, anders als der Kommunismus, nicht. Was seine Propagandisten an Bekundungen grundsätzlicher Art vortrugen, entstammte zum größten Teil der irrationalistischen Lebensphilosophie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, namentlich der von Henri Bergson entwickelten Lehre vom «élan vital» und Georges Sorels Plädoyer für die «action directe» und den Mut zum Mythos. Im April 1925 verabschiedete ein Kongreß faschistischer Intellektueller in Bologna ein von Giovanni Gentile verfaßtes Manifest, das sich an die «Intellektuellen aller Nationen» richtete. Der Faschismus, heißt es dort, werde «wie alle groß gewordenen geistigen Bewegungen immer stärker, immer fähiger zur Anziehung und Aufsaugung, immer wirksamer im Gewebe der Geister, Ideen, Interessen, Institutionen, kurz – in das lebendige Gefüge des italienischen Volkes besser eingefügt. Dann kann es nicht mehr darum gehen, die einzelnen Menschen zu zählen und zu messen, sondern die Idee zu beachten und richtig einzuschätzen, die wie jede wahre und lebendige Idee, welche ihre eigene Kraft ist, nicht von Menschen gemacht ist, sondern umgekehrt die Menschen macht.» In einer kurz darauf veröffentlichten Antwort nannte Benedetto Croce das Manifest eine «Schülerarbeit, in der sich überall ideologische Konfusionen und schlecht miteinander verknüpfte Überlegungen bemerkbar machen».
Mussolini selbst hielt erst 1932 die Zeit für gekommen, in einem Beitrag für die «Enciclopedia Italiana» so etwas wie eine «Doktrin des Faschismus» (Dottrina del fascismo) vorzulegen. Der «Mensch des Faschismus» verkörperte aus seiner Sicht «ein Leben, in welchem das Individuum durch Selbstverleugnung, durch Preisgabe seiner Sonderinteressen, selbst durch den Tod jenes durch und durch geistige Dasein verwirklicht, in dem seine Würde als Mensch beruht». Der Faschismus war «eine religiöse Auffassung, in der der Mensch in seiner inneren Verbundenheit mit einem höheren Gesetz gesehen wird, zu einem objektiven Geist, der über das besondere Individuum hinausgeht und es zu einem mitwissenden Glied einer geistigen Gemeinschaft macht … In diesem Sinn ist der Faschismus totalitär, und der faschistische Staat als Zusammenfassung und Vereinheitlichung aller Werte gibt dem Leben des ganzen Volkes seine Deutung, bringt es zur Entfaltung und kräftigt es.» Der Begriff der faschistischen Autorität habe nichts zu tun mit dem Polizeistaat. «Eine Partei, die eine Nation totalitär beherrscht, ist ein neues Faktum der Geschichte.»
Der Faschismus, wie Mussolini ihn authentisch deutete, verwarf die aufgeklärte Vernunft und bekannte sich zur Kraft des instinktiven Willens. Der Faschismus war antiindividualistisch, antiliberal und antimaterialistisch. Er stellte sich gegen eine Demokratie, die das Volk mit der Mehrheit gleichsetzte, und beanspruchte für sich, eine reinere Form der Demokratie zu verkörpern, weil er ein qualitatives Verständnis vom Volk habe. Der Faschismus sah im Staat ein Absolutum, in Individuen und Gruppen etwas Relatives. Er war nationalistisch, kriegerisch und expansiv und lehnte weltumspannende Verbrüderungen ab. «Der Krieg allein bringt alle menschlichen Energien zur höchsten Anspannung und verleiht den Völkern die Würde des Adels, die den Mut und die Virtù haben, dem Kampf die Stirn zu bieten … Für den Faschismus ist das Streben zum Impero, das heißt zur Expansion der Nation, ein Ausdruck der Vitalität … Völker, die steigen oder wieder aufsteigen, sind imperialistisch, nur niedergehende Völker können verzichten.»
Mussolini zögerte nicht, den Faschismus die «Doktrin des gegenwärtigen Jahrhunderts» zu nennen: ein Verdikt, das er damit begründete, daß die Völker heute ein Verlangen nach Autorität, Lenkung und Ordnung hätten. Er behauptete sogar, daß der Faschismus in der Welt nunmehr jene «Allgemeingeltung» (universalità) habe, die alle Doktrinen hätten, «die, indem sie sich verwirklichen, eine Etappe in der Geschichte des menschlichen Geistes darstellen». Der «Duce» schien in seinem Artikel von 1932 also davon auszugehen, daß der Faschismus keine reine italienische Erscheinung, sondern ein bestimmter Regimetypus sei – erreichbar auch für andere Völker, die sich zu einem radikalen Bruch mit den Illusionen des liberalen Zeitalters und den Versprechungen des Marxismus entschlossen.
Doch wenn er aus konkreten Anlässen sprach, hob Mussolini stets die Einzigartigkeit Italiens und seiner historischen Bestimmung hervor. Es waren eher die Antifaschisten auf der Linken, die frühzeitig den Begriff «Faschismus» vom italienischen Ursprungsland ablösten, um damit einen bestimmten neuen Typus gewalttätiger Bewegungen und Regime von rechts zu charakterisieren. In diesem Fall bedeutete der Begriff freilich nicht notwendig dasselbe, was er im italienischen Fall beinhaltete. Denn was immer außerhalb der Apenninenhalbinsel aus den italienischen Erfahrungen gelernt wurde, konnte nur wirksam werden, wenn es sich mit einem vergleichbar starken, die jeweilige Besonderheit betonenden Nationalismus verband. «Faschistische» Regime mochten sich zu Zweckbündnissen gegen Dritte verbinden und um Sympathisanten außerhalb der eigenen Grenzen bemühen. Aber eine «faschistische Internationale» wäre ein Widerspruch in sich gewesen.
Das Wort «totalitär» benutzte Mussolini in seinem Beitrag für die «Enciclopedia Italiana» 1932 nicht das erste Mal. Schon 1925 hatte er den «wilden totalitären Willen» (feroce volontà totalitaria) der Faschisten beschworen. Eine Neuschöpfung des «Duce» war der Begriff nicht: Vor Mussolini hatten seit 1923 liberale Kritiker wie Giovanni Amendola und Sozialisten wie Lelio Basso das faschistische Regime als «totalitario» bezeichnet. Mussolini meinte mit «totalitär» die von keiner Opposition gefährdete einheitliche Willensbildung des Staates entsprechend seiner 1925 ausgegebenen Devise «Alles im Staat, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat» (tutto nello Stato, niente al di fuori dello Stato, nulla contra lo Stato).
Als «totalitär» gilt seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts ein Regime, für das Politik im Kern der Kampf zwischen Freund und Feind ist, das jede Opposition gewaltsam unterdrückt und alle Andersdenkenden durch die Allgegenwart seiner Geheimpolizei einschüchtert, das jede Art von Gewaltenteilung zugunsten des Machtmonopols einer Partei ausschaltet und mit Hilfe von Ideologie, Propaganda und Terror jene akklamatorische Zustimmung der Massen erzeugt, die es zur Legitimation nach innen und außen benötigt. In dieser Richtung hatte sich das faschistische Italien schrittweise entwickelt. Seit der Errichtung des Einparteienstaates Ende 1926 kam der Staat Mussolinis dem totalitären Regimetyp so nahe wie keine andere zeitgenössische Diktatur mit Ausnahme der Sowjetunion, in der Stalin um dieselbe Zeit seine verbliebenen Rivalen vollends ausschaltete.
Unbeschränkt aber war die Herrschaft Mussolinis nicht. Es gab neben dem «Duce del Fascismo» den König, der, wenn auch über kein persönliches, so doch über ein Amtscharisma verfügte und auch im Krieg militärischer Oberbefehlshaber der Streitkräfte in der Heimat blieb, es gab das von der faschistischen Partei nicht voll kontrollierte Militär, den zivilen Staatsapparat und die katholische Kirche, die in einem erheblichen Teil der italienischen Gesellschaft hohe Autorität genoß. Diese Gesellschaft war keineswegs vollständig gleichgeschaltet. Die Arbeiterschaft hatte das Regime zwar neutralisieren, aber nicht wirklich integrieren können. Im liberalen Bürgertum waren, wenn man aus dem Verhalten der liberalen Politiker und dem Wandel von Croces Positionen derart verallgemeinernde Schlußfolgerungen ziehen darf, die Vorbehalte gegen das Regime nach 1924 stärker als vor der Matteotti-Krise.
Zu den Stützen des faschistischen Staates gehörten nach wie vor Großgrundbesitzer und Industrielle, deren Hilfe entscheidend dazu beigetragen hatte, daß Mussolini im Oktober 1922 das Amt des Ministerpräsidenten übernehmen konnte. Aber sie bestimmten nicht die Politik des Regimes, sondern sahen sich durch den wachsenden Einfluß des faschistischen Apparats mehr und mehr in die Defensive gedrängt. Zu keiner Zeit traf auf Italien die berühmte von Georgi Dimitroff vorgetragene Faschismusdefinition des 13. Plenums des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale vom Dezember 1933 zu, wonach der «Faschismus an der Macht … die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals» war.
Sehr viel näher kam 1930 ein rechtskommunistischer Abweichler aus Deutschland, August Thalheimer, der Wirklichkeit im faschistischen Italien. Er knüpfte an die von Karl Marx 1852 in seinem «Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte» vorgelegte Analyse des bonapartistischen Regimes in Frankreich an. Demnach war das politische System Louis Napoleons, des späteren Kaisers Napoleon III., die «verselbständigte Macht der Exekutivgewalt». Louis Napoleon war die höchste Staatsgewalt zugefallen, weil der offene Krieg zwischen Bourgeoise und Proletariat sich erschöpft hatte und keine der beiden Klassen stark genug war, eine neue Schlacht zu schlagen. Die Bourgeoisie war zu der Einsicht gelangt, daß sie, um ihre soziale Macht zu retten, auf die unmittelbare Ausübung ihrer politischen Macht über das Parlament verzichten und sich unter den Schutz einer starken Exekutivgewalt stellen mußte.
Parallelen zur Gegenwart lagen Thalheimer zufolge auf der Hand. Die Diktatur des italienischen Faschismus bedeutete, wie die des Bonapartismus in Frankreich, «die ‹Verselbständigung der Exekutivgewalt›, die politische Unterwerfung aller Massen, einschließlich der Bourgeoisie selbst, unter die faschistische Staatsmacht bei sozialer Herrschaft der Großbourgeoisie und der Großgrundbesitzer. Gleichzeitig will der Faschismus, wie der Bonapartismus, der allgemeine Wohltäter aller Klassen sein: daher ständige Ausspielung einer Klasse gegen die andere, ständige Bewegung in Widersprüchen im Innern.»
Mussolini als italienische Reinkarnation des zweiten Kaisers aus dem Hause Bonaparte: Bei allen Unterschieden zwischen Bonapartismus und Faschismus, die auch Thalheimer nicht leugnete, gab es in der Tat manche frappierenden Parallelen. Wie siebzig Jahre zuvor in Frankreich war es auch in Italien dem Proletariat nicht gelungen, selbst an die Macht zu kommen. Auch hier waren breite bürgerliche Kreise des instabilen parlamentarischen Systems überdrüssig und entsprechend empfänglich für das Versprechen eines starken Staates. Hier wie dort verfügte der Usurpator über eine gewaltbereite Privatarmee – Louis Napoleon über die «Gesellschaft des 10. Dezember», Mussolini über die «Squadre». Mussolini war in höherem Maß als Louis Napoleon ein charismatischer Führer, der Massen zu mobilisieren vermochte. Er verstand sich auf «Öffentlichkeitsarbeit», die notwendig war, um den Massen so zu erscheinen, wie er gesehen werden wollte: als willensstarker, durch nichts zu erschütternder, dynamischer Führer. Solange er seinen Apparat mit dem Gran Consiglio del Fascismo an der Spitze beherrschte und Erfolge vorweisen konnte, durfte er sich der plebiszitären Akklamation der Italiener einigermaßen sicher sein – zumal Terror und Wahlmanipulation im faschistischen Italien noch viel stärker ausgeprägt waren als im zweiten französischen Kaiserreich.
Im Verhältnis zur Außenwelt unterschied sich das Italien des «Duce» aber zunächst stark vom bonapartistischen Frankreich. Napoleon III. hatte immer wieder versucht, seine Herrschaft durch eine prestigeträchtige, aber riskante Außen- und Kriegspolitik zu stabilisieren. Mussolini begab sich in der Frühzeit seiner Regierung nur einmal, im Sommer 1923 nach der Ermordung des italienischen Vertreters bei der internationalen Kommission zur Festsetzung der griechisch-albanischen Grenze, General Tellini, und seiner Begleiter auf griechischem Territorium, auf den gefährlichen Boden einer Militäraktion: Er ließ, um Italien ein Faustpfand für Schadensansprüche zu sichern und das Ansehen seines Landes zu erhöhen, die griechische Insel Korfu von italienischen Truppen besetzen, räumte sie aber auf Druck des Völkerbunds und vor allem Großbritanniens rasch wieder, nachdem zuvor eine Pariser Botschafterkonferenz Griechenland zu einer Zahlung von 50 Millionen Lire verurteilt hatte.
In den folgenden Jahren blieben auswärtige Gewaltaktionen auf die italienischen Kolonien in Afrika, Eritrea, Somalia, Tripolitanien und, vor allem, der Cyrenaika, beschränkt. Dort führten Generalstabschef Badoglio, seit 1929 Generalgouverneur von Tripolitanien und der Cyrenaika, und sein Stellvertreter, General Graziani, beide Veteranen des Libyenkrieges von 1911/12, in den Jahren 1930/31 einen gnadenlosen, auch mit Hilfe von Giftgas geführten Kampf gegen eine Aufstandsbewegung im Norden des Landes, ja schließlich gegen die einheimische Nomadenbevölkerung insgesamt. Zehntausende kamen in Konzentrationslagern um. Im September 1931 wurde der Rebellenführer Omar al-Mukhtar nach einem Schauprozeß öffentlich hingerichtet. Bald darauf konnte Badoglio den erfolgreichen Abschluß des Feldzugs nach Rom melden.
In Europa hingegen gab sich das faschistische Italien außenpolitisch überwiegend maßvoll, ja in einigen Fällen betont kooperativ. Es verständigte sich im Januar 1924 mit dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen über Fiume, das es bereits im September 1923, noch während der Korfukrise, seinem Staatsgebiet angegliedert hatte. Mit Rumänien wurde 1926, mit Ungarn 1927 ein Freundschaftsvertrag geschlossen. Ein anderes Land auf der Ostseite der Adria erfuhr, wie schon erwähnt, eine weniger freundliche Behandlung: Albanien wurde durch die beiden Tirana-Verträge von 1926 und 1927 immer mehr in außenpolitische und militärische Abhängigkeit von Italien gebracht. Auf das Verhältnis zum benachbarten Österreich nahm das Italien Mussolinis keine Rücksicht, als es im Sommer 1923 mit der rigorosen Italianisierung Südtirols begann und Italienisch zur Amts- und Schulsprache machte. 1925 wurde Italienisch auch zur Gerichtssprache erklärt; Anfang 1926 erging ein Dekret, daß den Südtirolern die Italianisierung ihrer Namen zur Pflicht machte; 1927 erfolgte ein Verbot deutscher Parteien und Vereine. Nicht nur in Österreich, sondern auch in Deutschland rief dieses Vorgehen parteiübergreifend leidenschaftliche Proteste hervor. Die Politik des Reiches aber blieb davon im wesentlichen unberührt: Offiziell galt das Vorgehen Roms in «Alto Adige» (Oberetsch) als inneritalienische Angelegenheit. Nur einmal, im Februar 1926, beantwortete Außenminister Stresemann einen antideutschen Ausfall Mussolinis mit einer scharfen Zurechtweisung im Reichstag.
Mitte der zwanziger Jahre war das Urteil der europäischen Öffentlichkeit über das faschistische Italien gespalten. Die Sozialdemokraten und die Kommunisten sahen in Mussolini den im Interesse der Kapitalisten regierenden blutigen Unterdrücker der Arbeiterklasse. Auf der äußersten Rechten gab es begeisterte Zustimmung für die Niederwerfung der «Marxisten» und die Beseitigung des schwachen parlamentarischen Systems. Aber auch unter konservativen Politikern fand Mussolini hohe Anerkennung. Der Schatzkanzler des zweiten Kabinetts Baldwin, Winston Churchill, war bei einem Italienbesuch im Winter 1926/27 beeindruckt von der «hier herrschenden Disziplin, der Ordnung und den lächelnden Gesichtern». Nach einer Audienz beim «Duce» erklärte er am 19. Januar 1927 auf einer Pressekonferenz, «angesichts eines solchen mit größter Bereitwilligkeit angenommenen Systems wäre die Behauptung absurd, die italienische Regierung stehe nicht auf einer breiten Basis oder könne sich nicht auf die aktive Zustimmung der großen Masse stützen». Wenn er, Churchill, Italiener gewesen wäre, dann hätte er «in ihrem Kampf (dem Kampf der Regierung Mussolini, H. A. W.) gegen die bestialischen Gelüste und Begierden des Leninismus sicherlich von Anfang an und von ganzen Herzen auf ihrer Seite» gestanden.
Auch Liberale zollten dem faschistischen System Italiens und seinem Führer Reverenz. Am 11. Mai 1930 würdigte der Chefredakteur des «Berliner Tageblattes», Theodor Wolff, Mussolini nach einem ausführlichen Interview als maßvollen Realpolitiker ohne «nationalistische Eitelkeit». Die Antwort, die der «Duce» auf eine kritische Frage nach der Unterdrückung und Inhaftierung Andersdenkender gab, blieb unkommentiert: Er, Mussolini, müsse eine «autoritäre Demokratie» aufbauen.
Ein anderer deutscher Liberaler, der Schriftsteller Emil Ludwig, führte im Frühjahr 1932 eine Reihe von Interviews mit Mussolini, die er anschließend als Buch veröffentlichte. Darin feierte er den «Duce» als «großen Staatsmann», als «echten Diktator», als «Mann von der feinsten Höflichkeit» und als «natürlichsten Menschen von der Welt». Daß Mussolini ausdrücklich versicherte, der Faschismus sei «kein Exportartikel», war auch als Antwort auf Fragen nach den Gefahren der Diktatur zu verstehen. Beruhigt zeigten sich Ludwig wie Wolff, die beide aus jüdischen Familien stammten, darüber, daß der Faschismus Mussolinis Bekundung zufolge nicht antisemitisch war – eine Feststellung, die den unausgesprochenen Wunsch des «Duce» in sich schloß, nicht mit seinem leidenschaftlichsten deutschen Bewunderer in einen Topf geworfen zu werden: mit Adolf Hitler.[22]
Von Poincaré zu Poincaré:
Frankreich 1923–1929
Ein Jahr, nachdem in Italien die Faschisten an die Macht gelangt waren, schien sich auch in Frankreich eine Systemkrise anzubahnen: Am 14. Oktober 1923 hielt der Präsident der Republik, Alexandre Millerand, in Évreux, nahe Paris, eine Rede, in der er in kaum verschlüsselter Form eine Stärkung der Präsidialgewalt forderte und sich so demonstrativ auf die Seite des regierenden Bloc national unter Ministerpräsident Raymond Poincaré und gegen die Opposition stellte, daß die Linke dies als verdeckten Angriff auf das überkommene parlamentarische System verstand. Der Graben zwischen dem ehemaligen Sozialisten Millerand und den Oppositionsparteien war nun nicht mehr zu überbrücken. Die Kritik am Präsidenten wurde flankiert von einer großangelegten Kampagne der bürgerlichen Radikalsozialisten gegen die gesamte Außen-, Innen- und vor allem Finanzpolitik der Regierung Poincaré. Édouard Herriot, der Vorsitzende der Radicaux, ging im Winter 1923/24 soweit, öffentlich den Abbruch der französisch-belgischen Ruhrbesetzung zu fordern. An die Stelle der Konfrontationspolitik des Bloc national wollte die bürgerliche Linke die Zusammenarbeit mit Großbritannien und das Bemühen um eine Verständigung mit Deutschland setzen.
Zwischen den Radicaux und den Sozialisten gab es in dieser Hinsicht ein breites Feld der Übereinstimmung. Im Januar und Februar 1924 vereinbarten die Radikalsozialisten und die SFIO ein Wahlbündnis – jenes Cartel des gauches, das bei den Wahlen zur Deputiertenkammer im Mai 1924 einen großen Erfolg errang. Zwar erhielt der Bloc national mehr Stimmen als die Linke (4,5 Millionen gegenüber 4,2 Millionen), aber das Wahlgesetz und die Wahlabsprachen der Linken führten dazu, daß der letzteren eine sichere Mandatsmehrheit zufiel: Den 287 Abgeordneten der Kartellparteien (darunter 139 Radicaux und 104 Sozialisten) standen 228 Parlamentarier der Rechten gegenüber. Die Kommunisten kamen, dank einiger regionaler Hochburgen wie des Großraums Paris, auf 26 Abgeordnete. Die radikale Rechte, die Action française, blieb bedeutungslos.
Der Wahlsieg des Kartells machte die Position Millerands unhaltbar. Er hatte die Überparteilichkeit mißachtet, zu der ihn sein Amt verpflichtete, und mußte dafür einen hohen Preis bezahlen: Am 11. Juni kam er der Rücktrittsforderung der Linken nach. Zu seinem Nachfolger wurde zwei Tage später mit Unterstützung Poincarés der Senatspräsident Gaston Doumergue, ein Politiker des rechten Flügels der Radicaux, zum neuen Präsidenten der Republik gewählt. Unmittelbar danach beauftragte Doumergue Herriot mit der Regierungsbildung.
Der langjährige Bürgermeister von Lyon und Professor der Literaturwissenschaft hätte gern auch Sozialisten in sein Kabinett aufgenommen. Aber diese hatten sich schon im April 1919 auf ihrem ersten Nachkriegsparteitag in Paris gegen jedwede Beteiligung an einer Koalitionsregierung ausgesprochen. Das Nein zu einer derartigen Teilhabe an der «bürgerlichen» Macht ergab sich aus dem 1919 bekräftigten Bekenntnis zum proletarischen Klassenkampf. An diesem Credo hielt die SFIO unter der Führung von Léon Blum schon deshalb fest, weil jede Abweichung die Gefahr der Parteispaltung hervorgerufen hätte: Der linke Flügel wäre in diesem Fall von der Gründung einer linkssozialistischen Partei oder einem Anschluß an die Kommunisten vermutlich nicht mehr abzuhalten gewesen. Das Höchstmaß der Zusammenarbeit mit fortschrittlichen bürgerlichen Kräften war daher die parlamentarische Unterstützung einer Regierung der Radicaux, und eben dazu erklärte sich die SFIO im Juni 1924 bereit.
Der Machtwechsel von 1924 bedeutete vor allem eine außenpolitische Zäsur. Herriot, in Personalunion Ministerpräsident und Außenminister, konnte sich der Zustimmung der Sozialisten sicher sein, als er, entsprechend den Vorabsprachen, die er Ende Juni 1924 mit dem britischen Premierminister Ramsay MacDonald in Chequers getroffen hatte, auf der Londoner Reparationskonferenz vom Juli und August 1924 dem Dawes-Plan und der Räumung des Ruhrgebiets innerhalb eines Jahres zustimmte. Irgendwelche Sicherheitsgarantien der angelsächsischen Mächte erhielt Frankreich nicht, auch keine Anerkennung des von Paris betonten Zusammenhangs zwischen deutschen Reparationen und interalliierten Kriegsschulden. Aber angesichts der Schwäche des Franc und der daraus resultierenden Abhängigkeit von britischem und amerikanischem Wohlwollen hätte auch eine «nationalere» Regierung als die Herriots sich einen Konflikt mit London und Washington kaum leisten können. Die Ruhrbesetzung hatte sich als eklatanter Mißerfolg erwiesen: Daran konnte es im Sommer 1924 keinen Zweifel mehr geben.
Unstrittig war zwischen den regierenden Radicaux und den sie tolerierenden Sozialisten auch die (von Herriot schon in seiner ersten Regierungserklärung angekündigte) Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion Ende Oktober 1924. Frankreich, der Hauptgläubiger des Zarenreichs, hatte sich deshalb gegen das Regime der Bolschewiki gestellt, weil diese die Rückzahlung der russischen Vorkriegsschulden ablehnten. 1924 signalisierte Moskau seine Bereitschaft, über die Entschädigung französischer Investoren in Verhandlungen einzutreten und auf Einmischungen in die französische Innenpolitik künftig zu verzichten (beide Zusagen blieben praktisch folgenlos). Für die entschieden antikommunistische Unternehmerschaft Frankreichs aber hatte die Schuldenfrage inzwischen an Bedeutung verloren. Wichtiger erschien es ihr, die Wirtschaftsbeziehungen zur Sowjetunion zu verbessern. Auch aus diesem Grund löste die außenpolitische Kurskorrektur vom Oktober 1924 im bürgerlichen Frankreich keinen Proteststurm aus.
Anders als in der Außenpolitik gab es hinsichtlich der Finanz politik zwischen Radicaux und Sozialisten tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten: Jene wollten die Besitzenden ungeachtet des fortschreitenden, auch durch internationale Spekulation vorangetriebenen Währungsverfalls möglichst schonen, diese die Währung durch eine Kapitalabgabe in Höhe von 10 Prozent sanieren. Finanzminister Étienne Clémentel lehnte diese Forderung ab und trat am 2. April 1925 zurück. Als sein Nachfolger, der radikale Senator Anatole de Monzie, ankündigte, daß er auf die Vorschläge der SFIO eingehen wollte, setzte eine Kapitalflucht in die Schweiz ein. Am 10. April brachte der Senat eine Finanzvorlage der Regierung Herriot und damit diese selbst zu Fall.
Mit dem Rücktritt Herriots begann eine Phase der politischen Instabilität. Zwischen April 1925 und Juli 1926 erlebte Frankreich sechs verschiedene Regierungen. Einen ruhenden Pol bildete in dieser Zeit der Quai d’Orsay: An der Spitze des Außenministeriums stand seit dem 17. April 1925 der ehemalige Sozialist Aristide Briand, der diese Funktion faktisch ununterbrochen bis zum 12. Januar 1932 innehatte. In das erste Jahr seiner Tätigkeit als Außenminister fielen die am 10. Oktober 1925 unterzeichneten, noch ausführlicher zu behandelnden Locarno-Verträge, in denen Deutschland seine Westgrenzen als endgültig anerkannte. Locarno stand am Beginn jenes von Briand und seinem deutschen Kollegen Gustav Stresemann geprägten Kapitels in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen, das von vielen, freilich längst nicht allen Zeitgenossen als Aufbruch in eine friedliche Zukunft des Kontinents gefeiert wurde.
Die Stabilisierung der Währungsverhältnisse gelang den vom Linkskartell getragenen Regierungen nicht. Im Sommer 1926 sank der Kurs des Franc dramatisch: Mitte 1925 waren für ein Pfund Sterling 91 Francs zu zahlen gewesen (1914 nur 25), im Juli 1926 zunächst 200, einige Tage später bereits 240 Francs. Am 17. Juli wurde ein von Finanzminister Caillaux eingebrachter Antrag auf Sondervollmachten (décrets-lois) für die Regierung, das neunte Kabinett Briand, von der Deputiertenkammer abgelehnt. Herriot, der durch eine scharfe Gegenrede dieses Ergebnis herbeigeführt hatte, war seinerseits nicht in der Lage, eine parlamentarische Mehrheit für die neue, von ihm gebildete Regierung zu gewinnen. Damit war das Cartel des gauches nach 25 Monaten endgültig gescheitert. Sein Unvermögen, dem Niedergang des Franc Einhalt zu gebieten, erschien vielen, vermutlich den meisten Franzosen als Offenbarungseid der Linken, nicht wenigen, den Anhängern der radikalen Rechten, aber als mehr: als Beweis für die Unzulänglichkeit des parlamentarischen Systems.
Die traditionelle Speerspitze der extremen Rechten, die monarchistische und radikal nationalistische Action française, verdankte ihre politische Bedeutung zu guten Teilen dem Rückhalt, den sie im französischen Klerus bis hinauf zu Bischöfen und Kardinälen besaß. Die ultrarechte Richtung im französischen Katholizismus erhielt Mitte der zwanziger Jahre vorübergehend Auftrieb, als das Cartel des gauches Anstalten traf, die kirchliche Sonderstellung Elsaß-Lothringens zu beseitigen, wo, anders als im übrigen Frankreich, auch nach der Rückgliederung von 1918 das Konkordat von 1801 fortbestand. Die Versammlung der französischen Kardinäle und Erzbischöfe beantwortete den Vorstoß der Regierung Herriot im März 1925 mit einer Verurteilung des Laizismus und aller laizistischen Gesetze. Als die Regierung ihr Vorhaben auf Grund des Widerstands in der Kammer zurückzog, verebbte sehr rasch auch die kirchliche Gegenbewegung.
Im Herbst 1926 traf ein päpstlicher Bannstrahl die Organisation, die im Kampf gegen den Laizismus der Dritten Republik immer auf der Seite der Kirche gestanden hatte: die Action Française. Pius XI. sah im «integralen Nationalismus», wie ihn Charles Maurras und seine Anhänger predigten, das, was er war: eine militante weltliche Ersatzreligion. Die Schriften von Maurras wurden auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt, die Lektüre der Tageszeitung «L’Action Française» bei Strafe der Exkommunikation verboten. Es folgte eine Säuberung des Klerus und, vor allem, des Episkopats: Bischöfe, die sich weiter zur Action Française bekannten, wurden abgesetzt; ein mit Maurras sympathisierender Kardinal verlor seine Purpurwürde.
Der Bruch mit der Action française schwächte die Organisation des integralen Nationalismus nachhaltig. Die Nutznießer der kirchlichen Umorientierung waren jene Katholiken, die sich im Geist des «ralliement» der 1890er Jahre seit langem auf den Boden der republikanischen Staatsform gestellt hatten und eine christlich-demokratische «Realpolitik» betrieben. Der Vatikan hatte seinerseits keine Bedenken, Anfang 1927, wenige Monate nach dem Zerfall des Cartel des gauches, der auf friedliche Verständigung mit Deutschland ausgerichteten Politik Aristide Briands auf geradezu demonstrative Weise durch den Nuntius in Paris öffentlichen Beifall zu spenden.
Die Action française war Mitte der zwanziger Jahre freilich nur eine Erscheinungsform des französischen Rechtsradikalismus. Im Zuge des Kampfes gegen das Linkskartell entstanden neue Vereinigungen und Bünde wie die Ligue républicaine nationale, die sich um den ehemaligen Präsidenten Alexandre Millerand sammelte, der 1925 von dem Publizisten Georges Valois, einem bisherigen Vorstandsmitglied der Action française, gegründete Faisceau, der schon in der Wahl seines Namens die Anlehnung an das Vorbild des italienischen Faschismus deutlich machte, und die ein Jahr zuvor entstandenen Jeunesses Patriotes (JP) um den weit rechts stehenden Abgeordneten Pierre Taittinger, ein Ableger der sehr viel älteren Ligue des patriotes. Millerands Ligue zählte 1926 etwa 300.000, Valois’ Faisceau 60.000, Taittingers JP etwa 65.000 Mitglieder. Die zuletzt genannte Organisation hatte ihre Anhänger nicht zuletzt unter Gymnasiasten und Studenten. Ähnlich wie die Camelots du Roi, die Stoßtrupps der Action française, suchten sie die offensive Auseinandersetzung mit der akademischen Linken in der Ligue d’action universitaire républicaine et socialiste, mit denen sie immer wieder Straßenkämpfe im Pariser Quartier Latin ausfocht. Einig waren sich Action française, Faisceau und Jeunesse Patriotes in dem Ziel, die Dritte Republik mit Gewalt zu Fall zu bringen. Als das Cartel des gauches im Sommer 1926 zerbrach und Frankreich unter der erneuten Führung Poincarés in eine Phase der innenpolitischen Stabilisierung eintrat, ließ der Zulauf zu den rechtsradikalen Verbänden vorübergehend nach; der Faisceau hörte nach raschem Niedergang 1928 sogar zu bestehen auf. Ausgestanden aber war die Gefahr von rechts noch längst nicht, wie sich in der Zeit der Weltwirtschaftskrise nach 1930 zeigen sollte.
Auf der anderen Seite des politischen Spektrums arbeiteten um dieselbe Zeit die Kommunisten darauf hin, den Sozialisten den Rang als die große proletarische Massenpartei abzulaufen. Zwar war die Zahl der Mitglieder des Parti Communiste seit der Gründung in Tours im Dezember 1920 gesunken – von 130.000 auf 30.000 im Jahr 1930. Aber der harte Kern der «militants» bestand aus entschlossenen Kämpfern, die die Weisungen der Führung und die Generallinie der Komintern diszipliniert befolgten und sich von staatlicher Repression nicht beeindrucken ließen. Die Kommunisten suchten die Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt und hatten für die zahllosen Zusammenstöße mit der Polizei ihren Preis zu bezahlen: Die Parteiführer mit Marcel Cachin, Maurice Thorez und Jacques Duclos an der Spitze mußten immer wieder Gefängnisstrafen verbüßen; am Vorabend des 1. Mai 1929 wurden 4000 Mitglieder des PC in Vorbeugehaft genommen; im Oktober desselben Jahres standen das gesamte Zentralkomitee und die Redaktion der «Humanité», des von der alten SFIO übernommenen Zentralorgans der Partei, vor Gericht.
Wahlbündnisse mit den Sozialisten oder der bürgerlichen Linken lehnten die Kommunisten kategorisch ab. Infolgedessen konnten sie ihre steigenden Stimmenzahlen nicht in Mandatsgewinne umwandeln: Bei den Kammerwahlen von 1924 hatte der PC 875.000 Stimmen gewonnen; 1928 kam er auf 1,06 Millionen. Die Zahl der Sitze in der Deputiertenkammer aber sank auf Grund der Einführung des Mehrheitswahlrechts und der selbstgewählten Isolierung der Kommunisten von 26 auf 12.
Die aktiven Anhänger der PC rekrutierten sich vor allem aus den Reihen der Berg- und Metallarbeiter sowie der Eisenbahner und waren zugleich auch Mitglieder des kommunistischen Gewerkschaftsverbandes, der Confédération Générale du Travail Unitaire (CGTU). Die roten Hochburgen lagen zum einen in stark industrialisierten Gegenden wie den Departments Seine und Seine-et-Oise, der alsbald «banlieue rouge» genannten Umgebung von Paris, wo die Kommunisten bei den Kommunalwahlen von 1925 mehrere Rathäuser erobern konnten (darunter Saint-Denis, wo Jacques Duclos Bürgermeister wurde). Zum anderen gelang es der Kommunistischen Partei, in ländlichen Gegenden mit alter antifeudaler Tradition, vor allem im Zentralmassiv und dessen Umfeld, viele Bauern hinter sich zu bringen. Die größten Erfolge errangen die Kommunisten hier in den Departments Corrèze, Dordogne, Haute-Vienne, Allier, Cher und Lot-et-Garonne. Anders als die radikale Rechte verfügten die Kommunisten in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre über eine starke und wachsende Massenbasis – ein Sachverhalt, der von breiten bürgerlichen Schichten mit zunehmender Besorgnis registriert wurde.
Die französische Politik trug seit dem 23. Juli 1926 für die Dauer von drei Jahren den Stempel eines Mannes: des konservativen Republikaners Raymond Poincaré. Er bildete, nachdem Herriot für sein Kabinett keine parlamentarische Mehrheit gefunden hatte, ein «großes Ministerium», dem sechs frühere Ministerpräsidenten, darunter Briand als Außen- und Herriot als Erziehungsminister, angehörten. Poincaré selbst übernahm in Personalunion auch die Leitung des Finanzministeriums. Mitglieder von der rechten Fédération républicaine unter Louis Marin bis hin zu den Radicaux waren in der Regierung vertreten; bei den Radicaux verweigerte aber eine linke Minderheitsgruppe unter Édouard Daladier die Unterstützung des Kabinetts Poincaré. Der Ministerpräsident genoß wegen seines Sachverstands und seiner Solidität einen starken Rückhalt bei Industrie und Banken. Der bloße Regierungswechsel reichte aus, um dem Franc zu einem beträchtlichen Kursgewinn gegenüber dem Pfund Sterling zu verhelfen: Innerhalb einer Woche sank der Preis des Pfundes von 245 auf 184 Franc.
Poincaré begann seine Stabilisierungspolitik mit Steuererhöhungen, die über die Empfehlungen einer Expertenkommission noch hinausgingen, umfassenden Einsparungen im Staatshaushalt und einem drastischen Personalabbau im öffentlichen Dienst. Auf diese Weise wurde zunächst das Defizit im Budget, dann das in der Zahlungsbilanz beseitigt. Die Banque de France setzte den Zinsfuß von 6 auf 7½ Prozent herauf. Die Sondervollmachten, die Poincaré für die Durchführung des neuen Kurses benötigte, waren ihm, anders als der Vorgängerregierung, von der Deputiertenkammer mit großer Mehrheit bewilligt worden. Am 16. August 1926 ließ der Ministerpräsident, um den Unterzeichnern der Kriegsanleihen und kleinen Sparern ein Gefühl der Sicherheit zurückzugeben, Deputiertenkammer und Senat als Nationalversammlung in gemeinsamer Sitzung feierlich die Errichtung einer autonomen Amortisationskasse (Caisse d’Amortisation) beschließen, deren einziger Zweck die Tilgung der Staatsgutscheine war.
Seinen ursprünglichen Plan, die Vorkriegsparität zwischen Franc und Pfund, nämlich 25 zu 1, wiederherzustellen, gab Poincaré aus Furcht vor sozialen Unruhen rasch wieder auf. Am 20. Dezember 1926 wurde die Banque de France ermächtigt, so viele Devisen einzukaufen, daß der Franc beim Stand von 122 Franc gleich 1 Pfund Sterling gehalten werden konnte. Die Prosperitätsphase, in der die westliche Welt sich 1926/27 befand, trug entscheidend dazu bei, daß die Stabilisierung ohne große Erschütterungen erfolgen konnte: An Streikaktionen des kommunistischen CGTU beteiligte sich nur eine Minderheit der Arbeiter.
Die verbliebene Zeit bis zu den Kammerwahlen von 1928 nutzte die Regierung Poincaré für einige einschneidende Reformen, darunter 1927 die schrittweise Einführung des unentgeltlichen Unterrichts an der Unterstufe der Gymnasien und im März 1928 die Einführung obligatorischer Sozialversicherungen für Krankheit, Schwangerschaft, Alter und Tod, die allerdings, nachdem sie am 1. Juli 1930 in Kraft getreten waren, wegen des hinhaltenden Widerstands der meisten Unternehmen nur schwache Wirkungen entfalten konnten. 1927 stellte die Kammer das bis 1919 gültige Mehrheitswahlrecht mit zwei Wahlgängen wieder her, wobei auch die Sozialisten, obwohl eher Anhänger des Verhältniswahlrechts, auf Betreiben Léon Blums der Änderung zustimmten. Bei den Wahlen vom April 1928 traten die Parteien der Mitte und der Rechten als Block unter der Parole «Unité nationale» an; die Radicaux und die Sozialisten gingen in vielen Wahlkreisen Wahlbündnisse ein.
Aus dem ersten Wahlgang am 22. April 1928 gingen die Sozialisten mit 1,69 Millionen Stimmen erstmals als stärkste Partei hervor. Die Radicaux kamen auf 1,66 Millionen, die Parteien der Rechten auf 2,4, die der rechten Mitte auf 2,1 Millionen. Beim zweiten Wahlgang am 29. April schwenkten viele Wähler der Radicaux zu den Parteien der Nationalen Einheit um. Das verschaffte diesen einen deutlichen Vorsprung: Sie erhielten 325 von insgesamt 610 Mandaten. Hätten die Kommunisten beim zweiten Wahlgang Kandidaten der Sozialisten oder der Radicaux unterstützt, statt ihre Bewerber im Rennen zu belassen, wäre das Ergebnis vermutlich ein ganz anderes gewesen.
Den Wahlerfolg nahm Poincaré zum Anlaß, den Franc nunmehr offiziell zu stabilisieren. Am 24. Juni 1928 wurde der Franc beim Kurs von 124 zum Pfund Sterling und 25,5 zum amerikanischen Dollar wieder auf die Goldbasis gestellt. Das entsprach einer Abwertung um 80 Prozent gegenüber dem Vorkriegskurs. Die Unterzeichner von Kriegsanleihen und kleinen Sparer waren die eigentlichen Opfer der Währungsreform, aber sie schickten sich überwiegend klaglos in das offenkundig Unvermeidbare. In der Folgezeit hortete die Bank von Frankreich Goldreserven in solcher Menge, daß sie damit britischen und amerikanischen Unmut auslöste. Zeitweilig schien es, als habe sich Frankreich dank Poincaré in eine Insel der Stabilität verwandelt.
Wenige Monate nach der Abwertung des Franc zerbrach die Regierung der Nationalen Einheit. Innerhalb der Radikalen Partei drängte der linke Flügel um Daladier und Caillaux auf eine Trennung von Poincaré. Ihr Hauptargument war, daß der kirchenfreundliche Kurs der Rechten ein Verbleiben der Partei in der Regierung unmöglich mache. Auf dem Parteitag der Radicaux Anfang November 1928 gelang es Herriot nicht, die Annahme eines Antrags zu verhindern, der die radikalen Minister zum Rücktritt aufforderte. Da die Angesprochenen sich dem Beschluß fügten, bildete Poincaré ein neues, sein fünftes und letztes Kabinett ohne die Radicaux, das deutlich rechts von der Vorgängerregierung stand. Von den Kabinettsmitgliedern verdienten zwei das Etikett «rechts» im besonderen Maß: Innenminister André Tardieu und Kolonialminister André Maginot.
Auf die Außenpolitik wirkte sich der Rechtsruck nicht aus. Poincaré hatte dem friedlichen Ausgleich mit Deutschland, für den Briand stand, bisher keine Steine in den Weg gelegt, und er tat es auch in der neuen Regierung nicht. Ein neues Reparationsabkommen, der noch zu erörternde Young-Plan, in dessen Rahmen Frankreich sich zur vorzeitigen Räumung des besetzten Rheinlands verpflichtete, wurde am 12. Juli 1929 von der Deputiertenkammer mit knapper Mehrheit angenommen. Zwei Wochen später, am 26. Juli, erklärte der gesundheitlich geschwächte Ministerpräsident seinen Rücktritt, um sich danach einer unaufschiebbaren Operation zu unterziehen. In den Jahren nach 1926 hatte sich Poincaré vom entschiedenen Nationalisten zum verständigungsbereiten Realpolitiker gewandelt. Das parlamentarische System hatte in dieser Zeit so gut funktioniert wie selten zuvor, durch die Ordnung der Staatsfinanzen war das Ansehen Frankreichs in der Welt gestiegen. Es hing nicht nur von innenpolitischen Faktoren ab, ob diese Entwicklung sich nach Poincarés Demission fortsetzen würde.
Die politische Stabilisierung Frankreichs in den Jahren nach 1926 fiel zeitlich zusammen mit einem starken Aufschwung der französischen Wirtschaft. Das Bruttosozialprodukt wuchs zwischen 1924 und 1929 um jährlich etwa 3 Prozent, die Produktivität um 2,4 Prozent. Der Motor der Prosperität war die Industrie, deren Produktion zwischen 1921 und 1929 jährlich um durchschnittlich 9,5 Prozent anstieg. Nimmt man 1913 als Basisjahr, lag der Index der industriellen Produktion 1929 bei 140. In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre vollzog sich eine umfassende Rationalisierung der französischen Industrie im Zeichen des aus Amerika überkommenden «Taylorismus». Besonders bemerkenswert war das Wachstum beim Maschinen- und Flugzeugbau, in der Auto- und in der chemischen Industrie. Produktionsmethoden, die im Krieg in der Rüstungsindustrie entwickelt worden waren, fanden nun Anwendung bei der serienmäßigen Herstellung von hochwertigen Konsumgütern wie Personenkraftwagen.
Entgegen der verbreiteten Vorstellung von einer «blockierten Gesellschaft» vollzog sich im Frankreich der Zwischenkriegszeit ein wenn auch nicht rapider, so doch kontinuierlicher Wandel von der Agrar- zur Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. 1906 waren 43 Prozent aller Erwerbstätigen im primären Sektor, der Landwirtschaft, beschäftigt gewesen, 1932 waren es noch 30 Prozent. Die Zahlen der im sekundären Sektor, Industrie und Handwerk, Beschäftigten stiegen in derselben Zeit von 30 auf 34, die der im tertiären, dem Dienstleistungssektor, Beschäftigten von 27 auf 30 Prozent. Die Landwirtschaft nahm am Prozeß der Modernisierung kaum Teil; sie befand sich in den zwanziger Jahren in einer Phase des Niedergangs. Nur in vier Jahren (1924, 1925, 1927 und 1929) übertraf die Agrarproduktion den Stand von 1914. Die Löhne der Arbeiter stiegen zwischen 1913 und 1929 in Paris um 12, in den Provinzen um 21 Prozent. In der gleichen Zeit wuchsen die Unternehmerprofite um 50 Prozent. Gegenüber der politisch und gewerkschaftlich gespaltenen Arbeiterschaft besaß das industrielle «Patronat» den Vorteil einer einheitlichen Interessenorganisation: Seit 1919 gab es einen einzigen, schlagkräftigen Dachverband, die auf Betreiben des damaligen Handelsministers Étienne Clémentel gegründete Confédération Générale de la Production Française.
Einen gewissen Anteil am Wirtschaftswachstum der Zwischenkriegszeit hatten, auch infolge der protektionistischen Zollpolitik, die französischen Kolonien. Der Außenhandel der Kolonien verdoppelte sich zwischen 1913 und 1933. 1929 importierten die Kolonien Waren im Wert von insgesamt 19 Milliarden Francs, davon 3 Milliarden aus Frankreich; sie exportierten 14 Milliarden, davon 6 Milliarden nach Frankreich. Im gleichen Jahr hatte das Mutterland eine Gesamteinfuhr von 53 Milliarden und eine Ausfuhr von 51 Milliarden Francs. Der wichtigste Abnehmer französischer Produkte war Algerien, das staatsrechtlich aus drei französischen Departements bestand. Diese drei Departements waren in den beiden Kammern des Parlaments vertreten, ebenso Cochinchina, die «alten» Kolonien Martinique, Gouadeloupe, Réunion, vier Städte in Senegal und die französischen Besitzungen in Indien, darunter Pondichéry, Chandernagor und Mahé. Die einheimische Bevölkerung hatte, außer in Senegal und in den französischen Besitzungen in Amerika, kein Stimmrecht.
Das Recht der Selbstbestimmung wurde den Kolonien, mit Ausnahme des syrisch-libanesischen Mandatsgebiets, mehr oder minder konsequent vorenthalten. Frankreich setzte auf kulturelle Assimilation der Eliten und hatte damit in den schwarzafrikanischen Kolonien mehr Erfolg als in Nordafrika; es tat mehr für die Entwicklung des Schulwesens als alle anderen Kolonialmächte.
In Frage gestellt und bekämpft wurde die französische Kolonialherrschaft in den zwanziger und dreißiger Jahren in Südostasien, im Nahen Osten, in Nordafrika und in Französisch-Kongo. In Indochina unternahm die 1927 in Tonking gegründete, bürgerlich geprägte, revolutionäre Vietnamesische Nationalistische Partei im Februar 1930 einen Aufstandsversuch, die sogenannte Yen-Bucht-Meuterei, die blutig niedergeworfen wurde. Die Führung des Unabhängigkeitskampfes ging danach mehr und mehr an die Kommunisten über. 1930 gründete Ngyen Ai Quoc, der spätere Ho Chi Minh, der während seiner in Frankreich verbrachten Jahre zum Marxisten und Leninisten geworden war, in Hongkong die Kommunistische Partei Indochinas. Im Mai 1930 brach nach der Tötung mehrerer Demonstranten im nördlichen Annam ein kommunistisch gelenkter Aufstand aus, der sich rasch ausbreitete und erst 1931 niedergeschlagen werden konnte. Zahllose Unabhängigkeitskämpfer wurden getötet, Zehntausende in die Plantagen von Cochinchina deportiert. Die kommunistische Bewegung aber organisierte sich im Untergrund neu und bereitete sich auf den Partisanenkampf vor, mit dem sie im Zweiten Weltkrieg die japanischen Okkupanten und nach 1945 Frankreich und schließlich die USA herausforderte.
Im Nahen Osten wurde Frankreich schon bald nach dem Ende des Ersten Weltkriegs mit dem erstarkten arabischen Nationalismus konfrontiert. Im französischen Mandatsgebiet, das Syrien und den Libanon umfaßte, setzte Paris zunächst auf die christliche Minderheit, womit es die muslimische Mehrheit gegen sich aufbrachte. Der Libanon wurde unmittelbar nach Kriegsende besetzt; in Syrien vertrieben französische Truppen im Sommer 1920 den kurz zuvor von einer Notabelnversammlung in Damaskus gewählten König Faisal. Im Libanon wurde ein abhängiger Staat geschaffen, in dem eine christliche Mehrheit einer starken muslimischen Minderheit gegenüberstand. In Syrien riefen die Franzosen erst zwei Staaten, den von Damaskus und den von Aleppo, aus und schufen dann für zwei islamische Sekten, die Drusen und die Alawiten, zwei autonome Verwaltungsgebiete.
1923 begann ein Aufstand der Drusen, der sich 1925/26 zu einem allgemeinen syrischen Aufstand ausweitete. Auf seinem Höhepunkt bombardierten die Franzosen Damaskus, was auch in Frankreich empörte Reaktionen hervorrief. (Die schärfsten Kritiker waren hier, wie auch in anderen Fragen der Kolonialpolitik, die Kommunisten.) Der verantwortliche Hohe Kommissar, General Maurice Sarrail, wurde durch den liberalen Senator Henri de Jouvenel abgelöst. 1927 konnte der Drusenaufstand beendet werden. 1928 berief Jouvenels Nachfolger, der Diplomat Henri Ponsot, eine Verfassunggebende Versammlung ein. Deren Werk fand die französische Seite allerdings nicht annehmbar: Es sah einen gemeinsamen syrisch-libanesischen Staat vor und ließ die Vorrechte der Mandatsmacht unerwähnt. 1930 oktroyierte Frankreich eine Verfassung für Syrien in einer Form, die seinen Wünschen entsprach. Auf ihrer Grundlage wurde 1932 erstmals ein syrisches Parlament gewählt.
Eine Konstituante berief die Mandatsmacht auch im Libanon ein; im Mai 1926 wurde dort eine konstitutionelle Libanesische Republik proklamiert. Ihre Verfassung sicherte die Vorrechte der Mandatsmacht, regelte aber nicht die Machtverteilung zwischen den Glaubensgemeinschaften. Ihre Gegensätze machten eine normale parlamentarische Arbeit fast unmöglich, so daß die Verfassung mehrfach außer Kraft gesetzt und abgeändert wurde. Der Unabhängigkeit war der Libanon mit der Republikgründung von 1926 gleichwohl einen großen Schritt näher gekommen – ein Faktum, das den syrischen Nationalismus zusätzlich anstachelte. Sein organisatorischer Ausdruck war der Nationale Block, dessen Präsident Haschem el-Atassi ein Vertreter des Panarabismus war. Eine andere Richtung innerhalb des Nationalen Blocks strebte vorrangig ein Groß-Syrien an, das nicht nur den Libanon, sondern auch Palästina und Transjordanien, zwei britische Mandatsgebiete, umfassen sollte. Ein im November 1933 abgeschlossener Vertrag zwischen der Mandatsmacht und der syrischen Regierung, der die Unabhängigkeit Syriens im Rahmen eines Bündnisses mit Frankreich für 1937 vorsah, scheiterte 1934 daran, daß die Nationalisten im syrischen Parlament die Ratifizierung verhinderten. Das 1932 gewählte Parlament wurde daraufhin von der Mandatsmacht aufgelöst, die Entlassung Syriens in die Unabhängigkeit zunächst einmal vertagt.
Der Panarabismus fand in der Zwischenkriegszeit nicht nur im Nahen Osten, sondern auch in Nordafrika einen gewissen Widerhall. Der intellektuelle Wortführer dieser Bewegung war ein im Libanon geborener Druse, der Schriftsteller und Historiker Schakib Arslan, der nach dem Ersten Weltkrieg von Genf aus in der Zeitschrift «La Nation Arabe» den Zusammenschluß der Araber aller Länder propagierte. Für den Maghreb forderte Arslan einen von Frankreich unabhängigen, einheitlichen großen Staat auf der Grundlage der islamischen Orthodoxie, womit er sich mit den räumlich noch weiter ausgreifenden Ambitionen der panislamischen Bewegung berührte. Einen starken Einfluß übte auch die ägyptische Wafd-Partei aus, die seit 1924 die bestimmende innenpolitische Kraft in Kairo war. Im Frühjahr 1919 appellierte sie in einem Manifest an den amerikanischen Präsidenten Wilson, sich zum Sprecher des Selbstbestimmungsrechts der arabischen Völker zu machen.
Diese Forderung machte sich auch der tunesische Scheich Ta’albi zu eigen. Im Februar 1920 gründete er die liberalkonstitutionelle Destour-Partei, die die Tunesier mehrfach zu Demonstrationen gegen die französischen Behörden aufrief. Als sie wenig später einen «realpolitischen» Kurs einschlug und das französische Protektorat grundsätzlich anerkannte, stellte sich auch das nominelle Oberhaupt Tunesiens, der Bey von Tunis, auf ihre Seite, was zu scharfen Auseinandersetzungen mit dem französischen Generalresidenten Lucien Saint führte. 1922 konzedierte die Protektoratsmacht die Bildung von gemischten, aus Europäern und Tunesiern zusammengesetzten örtlichen Gremien, die über gewisse Kompetenzen in der Gewerbepolitik verfügten. 1928 folgte die Reorganisation des Großen Rates, der aus der 1896 geschaffenen Beratenden Konferenz hervorgegangen war, und aus einer direkt gewählten französischen und einer von örtlichen Räten und Kammern beschickten tunesischen Sektion bestand.
Einer jüngeren Generation tunesischer Nationalisten war eine derart symbolische Machtbeteiligung entschieden zu wenig. 1934 spaltete sich die Destour-Partei. Die von dem damals einunddreißigjährigen Habib Bourguiba gegründete Neo-Destour-Partei verlangte die tunesische Souveränität und ein aus dem allgemeinen Wahlrecht hervorgegangenes Parlament, in dem Europäer und Juden ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend vertreten sein sollten. In kultureller Hinsicht stärker an Frankreich ausgerichtet, weltlicher, also weniger islamisch als die alte Destour-Partei, konnte die Neo-Destour-Partei bald über die Intellektuellen hinaus einen breiten Anhang in der Mittelschicht gewinnen.
Die Reaktion des weit rechts stehenden Generalresidenten Peyrouton bestand aus einer Reihe von repressiven Maßnahmen wie dem Verbot von Versammlungen und Zeitungen sowie der Verbannung Bourguibas und anderer Funktionäre der Neo-Destour-Partei in den Süden des Landes. Im März 1936 wurden sie, nachdem die Regierung in Paris Peyrouton durch den liberalen Armand Guillon abgelöst hatte, freigelassen. Die Konflikte zwischen den tunesischen Nationalisten und der französischen Protektoratsmacht aber gingen weiter. Sie eskalierten in blutigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und Demonstranten der Neo-Destour-Partei am 9. April 1938 und der anschließenden Verhängung des Ausnahmezustands. Die Grundlagen der französischen Herrschaft über Tunesien waren in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg bereits nachhaltig erschüttert.
Die heftigsten Kämpfe mit einer einheimischen Bewegung hatte Frankreich nach 1918 in Marokko, dem jüngeren seiner beiden nordafrikanischen Protektorate, zu bestehen. Die Zahl der Europäer in diesem an Rohstoffen reichen, inzwischen teilweise industrialisiertem Gebiet war, verglichen mit Tunesien, gering: etwa 300.000 bei einer Gesamtbevölkerung von über 8 Millionen. (In Tunesien kamen 200.000 Europäer, darunter mehr Italiener als Franzosen, auf etwa 3 Millionen Einwohner). 1920 begann unter Führung von Abd el-Karim die Erhebung der Rifkabylen, eines Berberstammes, gegen die spanische Herrschaft im Nordosten Marokkos. Als die Spanier ihren Widerstand nach drei Jahren einstellten und damit einen großen Teil ihres Protektorats den Rebellen überließen, wandte sich Abd el-Karim gegen Französisch-Marokko. Unter dem Oberbefehl von Marschall Pétain gingen seit 1925 Franzosen und Spanier gemeinsam massiv gegen die Rifkabylen vor. Im März 1926 mußte Abd el-Karim kapitulieren. Seine Rebellion entsprach zu sehr älteren, «tribalen» Mustern des Kampfes der Berber gegen den höheren Herrscher, als daß man sie umstandslos als moderne antikoloniale Bewegung einstufen könnte. Daß ihr Beispiel den antikolonialen Kräften nicht nur in Marokko Auftrieb gab, erscheint aber sicher.
Nach dem Tod des Sultans Mulla Jussuf im Jahr 1927 bewog der französische Generalresident Théodore Steeg die Ulema, das oberste Gremium der Schrift- und Rechtsgelehrten des Sultanats Marokko, nicht einen der älteren Söhne des Herrschers, sondern den erst achtzehnjährigen Muhammed als Muhammed V. zum neuen Sultan auszurufen. Von Muhammed V. erhoffte die Protektoratsmacht, daß er ihren Vorgaben widerspruchslos folgen würde, und in der Regel verhielt sich der junge Sultan auch dieser Erwartung entsprechend.
1930 löste Muhammed V. eine schwere Krise aus, als er auf Drängen des neuen Generalresidenten Lucien Saint den Berberstämmen im Bereich des Zivilrechts eine autonome Gerichtsbarkeit auf der Grundlage ihres Gewohnheitsrechts gewährte, während für das Strafrecht die französische Justiz zuständig sein sollte. Damit wurden die Berber der Anwendung der Scharia, des islamischen Rechts, entzogen, und ebendies löste heftigen Widerspruch auf Seiten der arabischen Marokkaner aus. Auch säkulare Nationalisten schlossen sich den Protesten an, weil sie in der Privilegierung der Berber einen gezielten Versuch sahen, die Herausbildung einer einheitlichen marokkanischen Nation zu verhindern. Die Gegenbewegung war schließlich teilweise erfolgreich: Im April 1934 wurde auf Grund einer neuen Verordnung die Gerichtsbarkeit des Sultans und der Paschas für den Bereich des Strafrechts wiederhergestellt.
Die nationalistische Bewegung ließ sich weder von diesem Zugeständnis noch vom Verbot ihrer Zeitschriften beeindrucken und setzte ihre Proteste fort. 1934 wurde ein Marokkanisches Aktionskomitee gegründet, das Ende des Jahres in einem Reformplan eine Begrenzung des Protektoratsverhältnisses, Verbesserungen des Erziehungswesens und die Einführung repräsentativer Einrichtungen forderte. An die Spitze der nationalistischen Bewegung aber trat mit Allal el-Fassi ein Mann, der enge Beziehungen zum islamischen Panarabisten Schakib Arslan unterhielt und ein streng islamisches Gemeinwesen propagierte. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre gehörte die Sympathie der Massen eher ihm als den Wortführern eines säkularen Nationalismus.
Anders als Marokko und Tunesien war Algerien offiziell ein Teil Frankreichs: Seit 1848 gliederte es sich in drei französische Departements. 1936 wurden 950.000 französische Siedler gezählt, die vor allem in den großen Städten, namentlich Algier und Oran, wohnten; ihnen standen 6 Millionen Araber und Berber gegenüber. Am Ersten Weltkrieg hatten 175.000 muslimische Algerier teilgenommen; 25.000 von ihnen waren gefallen. Sie entrichteten damit den höchsten Blutzoll unter den nichteuropäischen Einheiten, die zwischen 1914 und 1918 auf französischer Seite kämpften. Als Anerkennung dieses Beitrags zum Sieg über die Mittelmächte verfügte ein Gesetz vom Februar 1919 die steuerliche Gleichbehandlung von Franzosen und Muslimen. Dasselbe Gesetz räumte Arabern und Berbern das Recht auf die Wahl von Vertretern in den örtlichen Räten ein, wo die Franzosen aber weiterhin die Mehrheit hatten. Parität zwischen beiden Gruppen gab es nur in den sogenannten Finanziellen Vertretungen.
Die Unzufriedenheit mit der Diskriminierung von Arabern und Berbern fand ihren Ausdruck in einer von der Kommunistischen Partei Frankreichs unterstützten Initiative: der Gründung des Nordafrikanischen Stern (Étoile Nord-Africaine) im Jahr 1926. Von Anfang an stand die Unabhängigkeit Algeriens an der Spitze seiner Forderungen. Unter der Führung des charismatischen Ahmed Messali Hadj löste sich der Verband allmählich vom kommunistischen Einfluß, blieb aber eine revolutionäre Organisation, die ihre Anhänger vor allem in der Arbeiterschaft hatte. Mehrfache Verbote und Verhaftungen von Messali Hadj konnten die Bewegung nicht dauerhaft schwächen. Mitte der dreißiger Jahre schloß sich Messali Hadj der panarabischen Bewegung unter Schakib Arslan an und begann, mit der extremen Rechten Frankreichs Verbindung aufzunehmen. Nach dem endgültigen Verbot des Nordafrikanischen Stern durch die Volksfrontregierung unter Léon Blum im Januar 1937 gründete Messali Hadj den Parti Populaire Algérien, der 1939, nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, ebenfalls verboten wurde.
Im Gegensatz zum Nordafrikanischen Stern war die 1935 von Scheich Abd el Hamid Ben Badis gegründete, vor allem von Schrift- und Rechtsgelehrten getragene Association des ouléma reformistes d’Algérie, eine entschieden islamistische Unabhängigkeitsbewegung. Im Vordergrund seiner Aktivitäten standen die Gründung von Koranschulen und das Bemühen um die Wiederbelebung traditioneller islamischer Werte. Eine Massenbewegung konnte der Verband mit diesem Programm ebensowenig werden wie sein Antipode, die 1930 entstandene Fédération des Élus Algériens um den Arzt Bendeskul und den Apotheker Ferhat Abbas, eine Vereinigung von meist akademisch gebildeten, durch ihre französische Erziehung geprägten Algeriern, die die volle Gleichberechtigung von Arabern, Berbern und Franzosen im Rahmen Frankreichs, mithin die kulturelle Assimilation der Muslime anstrebte.
Diese Linie entsprach den Vorstellungen der französischen Sozialisten, stieß aber auf vehementen Widerspruch beim Nordafrikanischen Stern und beim Verband der Ulema. Die schrittweise Verleihung des französischen Bürgerrechts an Araber und Berber, wie sie die Volksfrontregierung nach 1936 plante (zunächst war an 20.000 bis 30.000 Personen gedacht), scheiterte am verbissenen Widerstand der französischen Siedler. Die Folge war eine Radikalisierung der algerischen Unabhängigkeitsbewegung: Der Zulauf zu Messali Hadjs Parti Populaire Algérien nahm zu; die frankreichfreundlichen assimilatorischen Kräfte fühlten sich zurückgestoßen; Ferhat Abbas wandelte sich zum Anwalt voller algerischer Autonomie im Rahmen einer Föderation mit Frankreich. Der Unabhängigkeitskampf der Jahre nach 1954 warf seine Schatten voraus.
Anders als im Maghreb war die französische Kolonialherrschaft in Schwarzafrika in der Zwischenkriegszeit noch keinen großen Erschütterungen ausgesetzt. Eine Ausnahme bildete Französisch-Kongo. Auf die Brutalität, mit der dort die einheimische Bevölkerung von Kolonialoffizieren und weißen Händlern und Pflanzern behandelt wurde, machte 1927 nach einer ausgedehnten Reise der Schriftsteller André Gide die französische Öffentlichkeit in einem weites Aufsehen erregenden Bericht aufmerksam. Um diese Zeit hatte bereits die religiös geprägte antikoloniale Protestbewegung des Kimbanguismus in Belgisch-Kongo auf die Nachbarkolonie übergegriffen. Im Juni 1928 kam es im Gebiet um Gbaya im Distrikt Haute Sangha zu Ausschreitungen gegen Kolonialoffiziere und durchreisende Europäer. Der charismatische Führer der Bewegung, ein Mann namens Karinou, wurde im Dezember 1928 zusammen mit seinem Bruder von Kolonialtruppen aus dem Senegal getötet. 1930 verhafteten die Behörden André Matswa, den Gründer der antikolonialen Amicale des Originaires de l’AEF (Afrique Équatoriale Française), den man für die Unruhe in der schwarzen Bevölkerung verantwortlich machte. Der Verhaftung folgten Streiks und weitere Proteste, die in gewohnter Weise unterdrückt wurden. Die Ordnung war damit äußerlich wiederhergestellt, die Erbitterung der Schwarzen über ihre anhaltende Diskriminierung aber blieb. Das französische Kolonialreich mochte in Schwarzafrika sicherer sein als in anderen Weltregionen, aber erste Risse im Fundament zeigten sich auch hier.[23]
Vom
Empire zum Commonwealth:
Großbritannien in der Ära Baldwin
Wie die französischen, so gehörten auch die drei britischen Mandatsgebiete im Nahen Osten, Irak, Transjordanien und Palästina, zur Kategorie A der Völkerbundsmandate: Sie galten als so entwickelt, daß die Unabhängigkeit in relativ kurzer Zeit zu erwarten war. Der Irak, seit 1921 im Auftrag der Briten von König Faisal aus dem Haus der Haschemiten, dem kurzzeitigen Herrscher von Syrien, regiert und seit 1924 eine konstitutionelle Monarchie, war das erste Mandatsgebiet, das in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Der Vertrag vom 30. Juni 1930, durch den dies geschah, erlegte dem Irak freilich eine enge außen- und militärpolitische Bindung an das Vereinigte Königreich auf, wozu auch die Überlassung von zwei Luftwaffenstützpunkten gehörte. In Transjordanien, dem östlichen Teil der ehemaligen türkischen Provinz Palästina, wurde 1921 ein neues Emirat unter Abdullah, dem Bruder Faisals, errichtet. In noch höherem Maß und sehr viel länger als der Irak blieb Transjordanien von Großbritannien abhängig. Erst 1946 erlangte es als Königreich Jordanien seine nominelle Unabhängigkeit.
Sehr viel konfliktreicher verlief die Entwicklung in Palästina. Die «Balfour Declaration» von November 1917, die den Juden eine nationale Heimstatt in diesem Gebiet versprach, hatte eine verstärkte jüdische Einwanderung zur Folge. Von London aus wurde die Immigration unterstützt, von den Beamten im Mandatsgebiet aus Rücksicht auf die arabische Bevölkerungsmehrheit nach Kräften behindert. (Mit knapp 84.000 Einwohnern stellten die Juden Anfang der zwanziger Jahre nur ein starkes Zehntel der Bevölkerung.) 1920 und 1921 gab es erste arabische Proteste gegen die jüdische Immigration. Der Vertrag, mit dem der Völkerbund 1922 Großbritannien die Verwaltung Palästinas übertrug, billigte den Juden eine Mitwirkung an der Gründung einer nationalen Heimstatt durch die Jewish Agency zu. Im gleichen Jahr entstand auf arabischer Seite der Oberste Muslimische Rat unter Führung des Muftis von Jerusalem, Mohammed Amin el-Husseini, der, mittlerweile Großmufti, 1931 einen Allgemeinen Islamischen Kongreß nach Jerusalem einberief, womit der Konflikt zwischen den Juden und den palästinensischen Arabern zu einer Angelegenheit der gesamten arabischen und islamischen Welt wurde.
In der Zwischenzeit hatten sich die Spannungen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen erheblich verschärft. Seit der Einführung strikter nationaler Einwanderungsquoten in den USA im Mai 1924 stieg die Zahl jüdischer Immigranten aus Polen sprunghaft an. 1929 kam es erstmals zu einem blutigen Aufstand der Araber, in dessen Verlauf 133 Juden und 87 Araber den Tod fanden. Vier Jahre später begann der Zustrom von Juden aus Deutschland. 1936 organisierten die Araber einen Generalstreik mit dem Ziel, einen vollständigen Ein wanderungsstopp, ein Verbot des Landverkaufs an Juden sowie die Wahl einer palästinensischen Volksvertretung durchzusetzen, was zu neuen gewaltsamen Auseinandersetzungen führte. Die Mandatsmacht konnte und wollte angesichts der Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland die jüdische Immigration nicht unterbinden. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs stellten die Juden knapp 30 Prozent der Bevölkerung Palästinas. Die ursprünglich von den Briten beabsichtigte Errichtung eines gemeinsamen Staates der Juden und Araber hatte sich als Utopie erwiesen. Das palästinensische Problem blieb ungelöst.
Anders als Palästina war Ägypten kein Mandatsgebiet, sondern seit 1914 ein britisches Protektorat. 1922 erklärte Großbritannien unter dem Druck der nationalistischen, von dem charismatischen Saad Saghlul geführten Wafd-Partei einseitig die Unabhängigkeit Ägyptens, behielt sich aber die Sicherung des Suezkanals, die Landesverteidigung und den Schutz der ausländischen Interessen vor. Im Jahr darauf verwandelte sich Ägypten in eine konstitutionelle Monarchie unter König Fuad I. Die Wafd-Partei stieg bei den Wahlen des gleichen Jahres zur stärksten politischen Kraft auf. Als im Februar 1925 der Generalgouverneur des Sudan und britische Oberbefehlshaber («Sirdar») der ägyptischen Armee, Sir Lee Stack, von ägyptischen Nationalisten ermordet wurde, schloß London Ägypten von der Verwaltung des Kondominiums aus, belastete es aber weiter mit den Kosten der gemeinsamen Verwaltung. 1936 veranlaßten heftige nationalistische Unruhen Großbritannien zum Einlenken: Das Kondominium über den Sudan wurde wiederhergestellt, die militärische Besetzung Ägyptens beendet. Das Vereinigte Königreich sicherte sich aber für die Dauer von zwanzig Jahren das Recht, Truppen in der Suezkanalzone zu stationieren. Im Kriegsfall war Großbritannien zur Hilfe verpflichtet, wofür Ägypten sein Gebiet den Briten zur Verfügung stellen mußte. Im März 1937 erfolgte die Aufnahme Ägyptens in den Völkerbund.
Ägypten war das einzige afrikanische Land, das sich in der Zwischenkriegszeit aus der britischen Herrschaft weitgehend löste. In Tanganyika, dem Großteil der ehemaligen deutschen Kolonie Ost-Afrika, einem Mandat der Kategorie B, versuchte das Vereinigte Königreich seine Kontrolle durch eine Politik der «indirect rule», durch Übertragung von Kompetenzen an traditionelle Autoritäten, zu sichern. Erste Ansätze zu einer Unabhängigkeitsbewegung zeigten sich 1929 mit der Gründung der Tanganyika African Association, deren große Zeit aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg kommen sollte. Im benachbarten Kenia war schon vier Jahre zuvor mit der Kikuyu Central Association unter Jomo Kenyatta ein unabhängiges Sprachrohr der einheimischen Bevölkerung entstanden. Ins gleiche Jahr fällt die Gründung der West African Students Union in London, einer Keimzelle der Unabhängigkeitsbewegung in Nigeria. In Rhodesien, das seit 1936 eine britische Kronkolonie bildete, sicherte sich die kleine Minderheit der Weißen durch das Landverteilungsgesetz von 1930 52 Prozent des Territoriums, alle Städte, einschließlich der schwarzen Townships, und sämtliche Bodenschätze. Eine Rassentrennung nach südafrikanischem Vorbild sorgte für die anhaltende Diskriminierung der einheimischen Bevölkerung. Dasselbe Schicksal erlitten die Schwarzen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, einem Mandat der Kategorie C, das seit 1920 von der Südafrikanischen Union, einem Mitglied des britischen Empire, verwaltet wurde. Aufstände der Bondelzwats und Rehobother wurden zwischen 1922 und 1924 blutig niedergeworfen.
Die schwersten Erschütterungen erlebte das britische Empire während der Zwischenkriegszeit in Indien. Seit Dezember 1919 lag in Gestalt des Government of India Act eine Verfassung für den Subkontinent vor. Sie trennte die Zentralregierung, die für Außenpolitik, Verteidigung und Strafrecht zuständig und nur London verantwortlich war, von den Provinzregierungen. Hier sollte künftig das Prinzip der Dyarchie, der Doppelherrschaft, gelten: Die «reserved subjects», darunter Polizei und Finanzen, wurden von einem britischen Generalgouverneur und einem paritätischen Exekutivrat, der aus zwei Briten und zwei Indern bestand, verwaltet, die «transferred subjects» hingegen, obenan das Erziehungswesen, wurden indischen Ministern übertragen, die ihrerseits gewählten Gesetzgebungsräten der Provinz verantwortlich waren. Im Juni 1921 trat das Gesetzeswerk in Kraft.
Die praktischen Wirkungen der Reform hielten sich in engen Grenzen. Die Weigerung einer von den Briten eingesetzten Kommission, das Blutbad von Amritsar, ein schon in anderem Zusammenhang behandeltes Ereignis vom April 1919, mit der gebotenen Schärfe zu verurteilen, war für den Indischen Nationalkongreß der Anlaß, eine eigene Untersuchungskommission einzusetzen und die neue Verfassung zu boykottieren. 1920 begann unter Führung von Mahatma Gandhi eine Kampagne des Nationalkongresses für die Nichtbeteiligung (asahayoga) an den neuen Organen, zivilen Ungehorsam und Selbstregierung (svaraj); sie wurde im Februar 1922 nach der Ermordung von 22 Polizisten in Uttar Pradesch abgebrochen. Gandhi, ein Hindu aus der Kaufmannskaste, der in London Rechtswissenschaften studiert und seit den 1890er Jahren in Südafrika den Widerstand indischer Einwanderer gegen diskriminierende Gesetze organisiert hatte, wurde im März 1922 festgenommen und zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Ende 1924 erfolgte seine Begnadigung auf Grund von Krankheit.
Die Ablehnung der Verfassung von 1919 durch die große Mehrheit der Inder veranlaßte die britische Regierung zur Ausarbeitung von Reformvorschlägen. Da die zweite von zwei Kommissionen, die mit dieser Aufgabe betraut waren, nur aus Briten bestand, rief sie den geharnischten Protest der Kongreßpartei hervor. Diese verlangte nunmehr, im August 1928, ultimativ den Dominion-Status für Indien, der binnen Jahresfrist zu gewähren war. Der Gegenentwurf einer indischen Verfassung, der von einer Konferenz aller indischen Parteien in Kalkutta im Dezember 1928 verabschiedet werden sollte, scheiterte am Veto der Muslim-Liga unter Mohammed Ali Jinnah. Da die Regierung in London die Forderungen der Kongreßpartei nicht zu erfüllen bereit war, forderte diese im Dezember 1929 die volle Unabhängigkeit (purnasvara).
Gandhi begann im März 1930 mit einer neuen Kampagne des zivilen Ungehorsams, bei der diesmal die Aufhebung des aus dem Jahr 1836 stammenden britischen Salzmonopols im Vordergrund stand. Der «Salzmarsch» endete damit, daß Gandhi, nachdem er am 16. April 1930, seinen Anhängern ein Beispiel gebend, am Meeresstrand bei Dandi symbolisch einige Salzkörner aufgelesen hatte, zusammen mit den getreuesten seiner Gefolgsleute, verhaftet wurde. Es folgte die Massenverhaftung von Tausenden von Nachahmungstätern, die sich durch demonstratives Salzsieden auf Marktplätzen strafbar machten. Ein knappes Jahr später, im März 1931, wurden alle politischen Gefangenen auf Grund einer Vereinbarung zwischen Gandhi und dem britischen Vizekönig Lord Irwin, dem späteren Lord Halifax, freigelassen. Das Salzsieden für den Haushaltsgebrauch war fortan gestattet.
Eine Round-Table-Konferenz in London im Herbst 1931, an der auch Gandhi teilnahm, brachte keine Lösung des indischen Verfassungskonflikts, weil es nicht gelang, bei den Wahlrechtsbestimmungen den Minderheiten, von den Muslims bis zu den kastenlosen Hindus, zu einem angemessenen Schutz vor einer Überstimmung durch die Hindu-Mehrheit zu verhelfen. Ein Versuch von Premierminister MacDonald, das Problem einseitig durch Aufspaltung der Hindus in Kastenhindus und Kastenlose zu lösen, stieß auf den erbitterten Widerstand Gandhis, der in einen Hungerstreik trat und mit Fasten bis zum Tod drohte. Am 24. September 1932 wurde der britische Octroi schließlich im sogenannten «Punapakt» zurückgenommen.
Das vorläufige Ende des Streits war die von London oktroyierte Verfassung vom 4. August 1935, die eine Föderation zwischen den Provinzen von Britisch-Indien und den vertraglich an die britische Krone gebundenen indischen Fürsten vorsah. Da die meisten Fürsten den Beitritt zur Föderation ablehnten, konnte 1937 nur der nichtföderative Teil der Verfassung in Kraft treten: Die Dyarchie auf der Provinzialebene hörte auf; die Provinzen wurden nunmehr von Ministern regiert, die gewählten Parlamenten verantwortlich waren. Gleichzeitig wurde Birma aus dem indischen Imperium herausgelöst und mit einem Status teilweiser Autonomie ausgestattet: ein Erfolg der nationalistischen Studentenbewegung um Aung San. Die Kongreßpartei beteiligte sich mit Billigung Gandhis, der sich inzwischen aus der aktiven Politik zurückgezogen hatte und sozialen Fragen widmete, an den Wahlen zu den Provinzialparlamenten. Vom großen Ziel der staatlichen Souveränität aber schien Indien noch weit entfernt zu sein – weiter als Ceylon, die Insel im Süden des Subkontinents, die 1931 eine Verfassung auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts auch für Frauen und mit einem Zweikammersystem erhielt, womit wesentliche Voraussetzungen für die Entlassung in die Unabhängigkeit gegeben waren.
Die sechs überwiegend englischsprachigen und europäisch geprägten Dominions des Empire hatten diesen Status damals schon längst erreicht: Kanada, Australien, Neuseeland, Neufundland und die Südafrikanische Union zwischen 1867 und 1910, Irland 1921. Bereits in der Tschanakkrise vom September 1922 hatte Premierminister Lloyd George zur Kenntnis nehmen müssen, daß Kanada und die Südafrikanische Union nicht daran dachten, Großbritannien Gefolgschaft zu leisten, wenn dieses sich entschloß, in einen Krieg mit der Türkei einzutreten. Auf der Empirekonferenz von 1933 kam es noch nicht zu einer endgültigen Klärung der Souveränitätsansprüche der Dominions. Auf der Folgekonferenz in London im Oktober und November 1926 einigte man sich auf die von dem früheren Premierminister Balfour vorgeschlagene Formel, wonach die Dominions «autonome Gemeinschaften innerhalb des Britischen Empire» waren, «gleichberechtigt in ihrem Status und bezüglich ihrer inneren und äußeren Angelegenheit in keiner Weise voneinander abhängig (equal in status, in no way subordinate to one another in any aspect of their domestic or external affairs), hingegen vereint durch die gemeinsame Treuepflicht (common allegiance) der Krone gegenüber und freiwillig zusammengeschlossen als Mitglieder des British Commonwealth of Nations». Den letzteren Begriff hatte freilich nicht Balfour geprägt, sondern der südafrikanische General und Luftfahrtminister im Kriegskabinett Lloyd George, Jan Smuts, auf einem Festbankett der Mitglieder des Ober- und Unterhauses im Mai 1917.
Damit war der Grund gelegt für das fünf Jahre später, im Dezember 1931, von einer weiteren Reichskonferenz beschlossene Statut von Westminster, das als Gesamtverfassung der Dominions diente und den Parlamenten dieser Mitglieder des Commonwealth die ausschließliche Gesetzgebungsbefugnis einräumte. Der Colonial Laws Validity Act von 1865, der es den Kolonien untersagte, Gesetze zu verabschieden, die vom britischen Recht abwichen, wurde aufgehoben. Die Dominions waren, auch wenn an ihrer Spitze keine gewählten Staatsoberhäupter, sondern Generalgouverneure als Vertreter der britischen Krone standen, spätestens seit 1931 souveräne Staaten. Was sie mit Großbritannien oder untereinander vereinbarten, taten sie freiwillig – so, wenn sie sich auf der Imperial Conference von 1932 in Ottawa auf wechselseitige handelspolitische Vergünstigungen und auf das Pfund Sterling als Leitwährung der «Sterling-Zone» verständigten. Darüber hinaus blieb eine ideelle Verbundenheit der ehemaligen Kolonien mit dem Mutterland im Zeichen gemeinsamer Werte erhalten, auf die Großbritannien zurückgreifen konnte, als es 1939 durch Deutschland so massiv wie noch nie seit den napoleonischen Kriegen herausgefordert wurde.
Mit der Umformung des Empire zum Commonwealth gelang dem Vereinigten Königreich etwas Einzigartiges: eine Verstetigung seiner informellen Weltgeltung durch rechtzeitigen Verzicht auf die überholte formelle Abhängigkeit der am höchsten entwickelten Teile seines Weltreichs. Seit der «augusteischen Schwelle» (Augustan threshold) des Römischen Reiches, wie der amerikanische Politikwissenschaftler Michael W. Doyle die durchgreifende Reichsreform des Kaisers Augustus in den Jahrzehnten vor und nach Christi Geburt nennt, hat kein Imperium mehr ein solches Maß an Lernfähigkeit bewiesen wie das britische – eine bemerkenswerte Leistung angesichts des tatsächlichen Rückgangs des wirtschaftlichen Potentials des Mutterlandes (sein Anteil am Welthandel sank von 25 Prozent im Jahr 1860 auf 14 Prozent im Jahr 1938) und der fortschreitenden Verlagerung der finanziellen, militärischen und politischen Schwerpunkte der angelsächsischen Welt von London nach Washington.
Die Empirekonferenz von 1926 fiel in die Zeit des Zweiten Kabinetts des konservativen Premierministers Stanley Baldwin, der von November 1924 bis Juni 1929 an der Spitze der britischen Regierung stand. Der 1867 geborene Eisenindustrielle aus den Midlands galt als die Verkörperung des Wunsches nach einer Rückkehr zur vermeintlichen Normalität der Vorkriegszeit. Die herausragende Figur des Kabinetts war Schatzkanzler Winston Churchill, der erst 1924 von den Liberalen zu der Partei übergetreten war, die er 20 Jahre zuvor verlassen hatte: den Tories. Sein wichtigster Beitrag zur Normalisierung war die Rückkehr zu dem 1914 aufgegebenen Goldstandard, die Churchill am 28. April 1925 in seiner Haushaltsrede im Unterhaus ankündigte. Die Festigung der Währung hatte Wirkungen, die alles andere als stabilitätsfördernd waren: Das Pfund Sterling wurde überbewertet, die britische Exportindustrie geriet in große und anhaltende Absatzschwierigkeiten, die soziale Unzufriedenheit wuchs.
Am radikalsten war die Stimmung bei den Bergarbeitern. Im Juni 1925 kündigten die Arbeitgeber des Kohlenbergbaus massive Lohnsenkungen an. Die Regierung Baldwin versuchte dadurch Zeit zu gewinnen, daß sie eine Royal Commission zur Untersuchung der wirtschaftlichen Lage im Bergbau einsetzte und den Grubenbesitzern befristete Subventionen gewährte. Im März 1926 legte die Kommission ihren Bericht vor: Darin lehnte sie die von den Bergarbeitern geforderte Nationalisierung des Kohlenbergbaus ab und bejahte die Notwendigkeit von Lohnsenkungen (wenn auch nicht die einer Verlängerung der Arbeitszeit). Die Bergarbeiter antworteten am 1. Mai 1926 mit Streik. Zwei Tage später proklamierte die Führung des Trade Unions Congress (TUC) den Generalstreik, der in der Nacht vom 3. zum 4. Mai um Mitternacht begann.
Der TUC war in den Jahren zuvor deutlich nach links gerückt. Mehr als die Gewerkschaftsbünde anderer Länder hatte er sich um eine Verständigung zwischen der «Amsterdamer», das heißt reformistischen Gewerkschaftsinternationale, dem Internationalen Gewerkschaftsbund (IGB), auf der einen und der kommunistischen Roten Gewerkschaftsinternationale (RGI) auf der anderen Seite bemüht und im April 1925 ein Ständiges englisch-russisches Gewerkschaftskomitee gegründet, was in Moskau als großer Erfolg auf dem Weg zur Weltrevolution gefeiert wurde. Der britische Generalstreik fand die Unterstützung nicht nur der beiden konkurrierenden internationalen Gewerkschaftsbünde, sondern auch der Sozialistischen Arbeiter-Internationale, die im Mai 1923 in Hamburg aus dem Zusammenschluß der Zweiten Internationale und der weiter links stehenden «Wiener Internationale», der «Internationale 2½», entstanden war, und der Kommunistischen Internationale. In Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien und den skandinavischen Ländern weigerten sich die Hafenarbeiter, Kohlen auf britische Schiffe zu verladen, und Eisenbahner und Seeleute, Kohle nach Großbritannien zu transportieren. Die europäische Kohlenblockade Englands war, wie Julius Braunthal in seiner «Geschichte der Internationale» schreibt, «nahezu lückenlos».
In Großbritannien selbst wurde der Generalstreikaufruf von den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern mit großer Entschlossenheit befolgt. Die Schriftstellerin Virginia Woolf notierte am 4. Mai 1926 in ihr Tagebuch: «Alle Leute fahren Fahrrad, in den Autos drängen sich zusätzliche Passagiere. Es fahren keine Busse. Es gibt keine Plakate, keine Zeitungen … Gas und Elektrizität sind noch erlaubt, aber um 11 Uhr wurde das Licht abgeschaltet.» Schatzkanzler Churchill erklärte am 3. Mai im Unterhaus, entweder würden die parlamentarischen Einrichtungen und mit ihnen die Nation aus dieser Auseinandersetzung als Sieger hervorgehen oder die bestehende Verfassung werde «auf verhängnisvolle Weise beschädigt» (fatally injured) und eine Art von Gewerkschaftssowjet (some Soviet of trade unions) errichtet werden, dem dann die tatsächliche Kontrolle des wirtschaftlichen und politischen Lebens des Landes zufalle. Die «Times» sprach von der «ernstesten Drohung, die seit dem Sturz der Stuarts über dem Land gehangen» habe, die «Daily Mail» von einer «revolutionären Bewegung», die die Regierung zu Lasten der Gesamtheit gewaltsamem Zwang unterwerfen wolle.
Die Regierung Baldwin war fest entschlossen, mit Hilfe von Notstandsmaßnahmen, zu denen sie sich am 1. Mai hatte ermächtigen lassen, den Generalstreik zügig zu beenden. Der Hyde Park verwandelte sich in ein Verteilungszentrum für Milch und Lebensmittel; in East End wurden Soldaten eingesetzt, um die Hafenbecken wieder in Betrieb zu nehmen; Polizisten patrouillierten, unterstützt von Freiwilligen der im September 1925 gegründeten halb privaten Organization for the Maintenance of Supplies und «Special Constables» in Khakiuniformen, in gepanzerten Wagen auf den Straßen und bewachten die Bahnhöfe; der Buckingham-Palast und andere königliche Gebäude wurden durch zusätzliches Wachpersonal geschützt. Nach neun Tagen endete der Generalstreik am 12. Mai mit der bedingungslosen Kapitulation des TUC. Die Regierung und die öffentliche Meinung hatten sich als stärker erwiesen als die organisierte Arbeiterschaft.
Der Erfolg auf der ganzen Linie versetzte das konservative Kabinett in die Lage, den Achtstundentag abzuschaffen und am 23. Juni 1927 den Trades Disputes and Trade Union Act verabschieden zu lassen, der General- und Sympathiestreiks für illegal erklärte und ihre Ausrufung mit zwei Jahren Gefängnis bedrohte. Außerdem wurde den Beamten und den Angestellten örtlicher Regierungsstellen die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft des TUC verboten und die Einschüchterung (intimidation) von Arbeitern durch Streikende für gesetzeswidrig erklärt. Gewerkschaftsbeiträge an die Labour Party durften fortan nur noch mit Zustimmung der Mitglieder abgeführt werden. Die Zahl der durch Streik ausgefallenen Arbeitstage ging in der Folgezeit drastisch zurück, die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder sank beträchtlich (von 5,2 Millionen im Jahr 1926 auf 4,8 Millionen im Jahr 1928). Die schwerste Niederlage mußten die Bergarbeiter hinnehmen. Sie beendeten ihren Streik erst im Dezember 1926, erreichten aber keines ihrer Ziele. Fortan mußten sie zu niedrigeren Löhnen länger arbeiten als zuvor.
Für die britische Arbeiterbewegung bedeutete der Mai 1926 eine einschneidende Zäsur. Mit dem Generalstreik endeten die Massenstreiks der Nachkriegszeit; einen weiteren Generalstreik hat Großbritannien nicht mehr erlebt. Der TUC zog aus seiner Unterwerfung unter das Diktat der Regierung den Schluß, daß die Gewerkschaften mit ihren Aktionen künftig keinerlei Zweifel mehr an ihrer Treue zur parlamentarischen Demokratie aufkommen lassen durften. Die Kommunistische Partei Großbritanniens, die den Generalstreik emphatisch unterstützt, auf seinen Ablauf aber keinen Einfluß gehabt hatte, konnte ihre Mitgliederzahl 1926 zeitweilig steigern (von rund 6ooo im Mai auf über 10.000 im Oktober), sank dann aber bis Ende 1928 auf 3500 ab. 1927 löste die Labour Party 23 örtliche Parteigliederungen auf (davon 15 in London und Umgebung), die von den Kommunisten unterwandert worden waren. Bei den Unterhauswahlen vom Mai 1929 kamen die Kommunisten auf 50.000 Stimmen (5000 weniger als fünf Jahre zuvor) und verloren das einzige Mandat, das sie 1924 errungen hatten. Von der Komintern und der Roten Gewerkschafts-Internationale wurden die britischen Gewerkschaften nach dem Scheitern des Generalstreiks als «Verräter» gebrandmarkt, was der TUC zum Anlaß nahm, eine Geldspende der sowjetischen Gewerkschaften für die streikenden Bergarbeiter zurückzuweisen und 1927 das Ständige englischrussische Gewerkschaftskomitee aufzulösen. Um dieselbe Zeit begannen jene Gespräche zwischen Vertretern von Gewerkschaften und Unternehmern, die in die Industriekonferenz vom Juli 1928 mündeten und eine wechselseitige Verständigung über die notwendige Rationalisierung der britischen Industrie und die Bewahrung des Arbeitsfriedens zum Ziel hatten.
War der Anteil der Kommunisten am Generalstreik gering, so war der Anteil der extremen Rechten an seiner Niederschlagung noch geringer. Im Mai 1923, ein halbes Jahr nach Mussolinis «Marsch auf Rom», hatte sich eine militant antikommunistische und antisemitische Vereinigung namens «British Fascisti» gebildet, die sich seit 1924 «British Fascists» nannte. Ihre Anhänger strömten im Mai 1926 in die schon erwähnte Organization for the Maintenance of Supplies und zur Hilfspolizei der Special Constables, wurden aber im allgemeinen von den Behörden auf Distanz gehalten. Einen sehr viel stärkeren Einfluß auf die öffentliche Meinung hatten ultrakonservative Pressemagnaten wie Lord Beaverbrook und Lord Rothermere, die Eigentümer des «Daily Express» beziehungsweise der «Daily Mail», und der Duke of Northumberland, der die «Morning Post» und «The Patriot» finanzierte, ebenso wie die intellektuell anspruchsvolle «English Review», die sich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre immer mehr zu einem Sprachrohr des äußersten rechten Flügels der Tories entwickelte. Die Art und Weise, wie die Regierung Baldwin dem Generalstreik entgegentrat, nötigte aber auch den radikalsten Konservativen Respekt ab. Nach Meinung der «English Review» bewies der Streik, daß England nach wie vor über Männer verfügte, die zu regieren verstanden, und selbst der Duke of Northumberland sah sich veranlaßt, die «Kraft und Findigkeit» (vigour and resourcefulness) der Regierung zu loben.
Während das Anti-Gewerkschafts-Gesetz vom Juni 1927 ganz nach dem Herzen der Konservativen «diehards» war, löste ein anderes Gesetz der Regierung Baldwin bei ihnen verbreitetes Unbehagen aus: das Gesetz über die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau vom Juli 1928, mit dem auch jene diskriminierende Bestimmung des Wahlgesetzes von 1918 fiel, die den Frauen das Wahlrecht erst vom vollendeten 30. Lebensjahr ab einräumte, während Männer bereits nach Vollendung des 21. Lebensjahres über dieses Recht verfügten. Die Frau galt der äußersten Rechten, wie es William Sanderson, der spätere Gründer der esoterischen, aber einflußreichen Vereinigung «English Mistery», 1927 ausdrückte, als rein instinktgesteuert und ihr Instinkt als sexuell bedingt. «Sie besitzt keinerlei Eignung für Politik, weil sie der politischen Tugend entbehrt (She has a total ineptitude for politics, for she lacks political virtue). Da sie keine sozialen Instinkte besitzt, kann sie auch keine intellektuellen Fähigkeiten für schöpferische Kunst oder Organisation entwickeln.» Wie Sanderson sahen auch andere führende Rechtsintellektuelle, unter ihnen Douglas Jerrold, ab 1931 Herausgeber der «English Review», und Anthony Ludovici, ein prominenter Autor dieser Zeitschrift und Bewunderer Friedrich Nietzsches, im Feminismus und der angeblichen Feminisierung der Gesellschaft eine Gefahr für alles, was England groß gemacht hatte, und vor allem für die Frau selbst, die nach Meinung Ludovicis doch nur eine Aufgabe hatte: «Hüterin und Förderin des Lebens» zu sein, also ihre Fortpflanzungsfunktion zu erfüllen.
Die ersten Wahlen, bei denen nach dem neuen Wahlrecht gewählt wurde, waren die vom Mai 1929. Was die Stimmenzahlen angingen, lagen die Konservativen knapp vor der Labour Party: 8,66 Millionen gegenüber 8,36 Millionen. Auf die Liberalen entfielen 5,3 Millionen. Bei der Verteilung der Sitze kam die Arbeiterpartei aber auf 287 Mandate gegenüber 261 für die Konservativen und 59 für die Liberalen. Der Erfolg von Labour erklärte sich zu einem guten Teil aus der Tatsache, daß die Regierung Baldwin trotz einiger sozial fortschrittlicher Gesetze wie dem zur Witwen-, Waisen- und Altersversicherung von 1925 (mit gleich hohen Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern) und der Reform der Armengesetzgebung durch den Local Government Act von 1929 seit ihren Maßnahmen gegen die Gewerkschaften als arbeiterfeindlich galt. Auf der anderen Seite half es der Labour Party, daß sie sich unter der Führung Ramsay MacDonalds während des Generalstreiks von 1926 zurückgehalten hatte. In ihrem neuen Programm «Labour and the Nation», das der Historiker R. H. Tawney entworfen und die Jahreskonferenz von Birmingham im Oktober 1928 nach ausgedehnter Debatte angenommen hatte, bekannte sich die Partei zum evolutionären Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft. Kontinuierlich, aber ohne Überstürzung sollten zunächst das städtische und landwirtschaftliche Grundeigentum in Nationaleigentum überführt, der Bergbau, die Elektrizitätswerke, die Eisenbahnen und das Transportwesen verstaatlicht und die Bank of England staatlicher Kontrolle unterworfen werden.
Einen Auftrag, dieses Programm in die Tat umzusetzen, konnte die Labour Party aus dem Wahlergebnis nicht ableiten. Um regieren zu können, war die Arbeiterpartei wie bei der Bildung ihrer ersten Regierung im Januar 1924 auf die Tolerierung durch die Liberalen angewiesen. Wie damals wurde auch jetzt wieder Ramsay MacDonald von König Georg V. mit der Kabinettsbildung beauftragt. Außenminister wurde Arthur Henderson, der schon dem ersten Kabinett MacDonald als Innenminister angehört hatte. Schatzkanzler wurde Philip Snowden, ein überzeugter Verteidiger des Goldstandards, des Freihandels und eines ausgeglichenen Budgets, Kolonialminister der Fabier Sidney Webb, Erziehungsminister Sir Charles Philip Trevelyan, ein entschiedener Linker. Erstmals gehörte dem Kabinett auch eine Frau an: Arbeitsministerin Margaret Grace Bondfield. Der Lösung der drängendsten Aufgaben, des Abbaus der Arbeitslosigkeit, sollte sich Lordsiegelbewahrer James Henry Thomas widmen. Ihm zur Seite gestellt wurde der als Chancellor of the Duchy of Lancaster, eine Art Minister ohne Geschäftsbereich, der damals zweiunddreißigjährige, zum linken Parteiflügel gehörende Sir Oswald Mosley, der die stagnierende Wirtschaft durch eine Erhöhung der Massenkaufkraft und die Vergabe öffentlicher Arbeiten, aber auch durch Zollschutz für das Empire beleben wollte. (Mit einem ganz ähnlichen, vom früheren Premierminister Lloyd George verfaßten Programm waren die Liberalen in den Wahlkampf gezogen.)
Die Arbeitslosigkeit hatte im Frühjahr 1929 bereits die Millionengrenze überstiegen; die Zahl der Arbeitslosen zu senken war das zentrale Versprechen der Labour Party im Wahlkampf gewesen. Das neue Kabinett begann seine Arbeit mit einer Reihe von sozialen Reformgesetzen, darunter einem Programm öffentlicher Arbeiten im Umfang von einer Viertelmilliarde Pfund. Mehr zu tun, wie es neben Mosley und Lloyd George auch der Ökonom John Maynard Keynes und der Fabier und Historiker G. D. H. Cole, zwei Mitglieder des Wirtschaftsrates der Regierung, forderten, weigerten sich MacDonald, Snowden und Thomas auch dann noch, als die Arbeitslosigkeit nach dem New Yorker Börsenkrach vom Oktober 1929 weiter anstieg. Wenige Monate, nachdem das zweite Kabinett MacDonald seine Arbeit aufgenommen hatte, zeigten sich erste Risse in der Minderheitsregierung. Es waren die Vorboten einer schweren Krise, in die die Labour Party in den Jahren 1930/31 geraten sollte.[24]
Von Dawes zu Young:
Deutschland in der Ära Stresemann
Anders als Großbritannien erlebte Deutschland in den Jahren 1924 bis 1929 tatsächlich so etwas wie «goldene Jahre». Es gab wieder eine stabile Währung; Produktion, Konsum und Volkseinkommen wuchsen beständig; der Reichshaushalt wies 1924 einen beträchtlichen Überschuß, in den Jahren 1925 bis 1928 nur ein geringes Defizit auf. Bei genauerer Betrachtung aber blieb die ökonomische Lage Deutschlands, wie der Wirtschaftshistoriker Wolfram Fischer urteilt, weiterhin gefährdet. «Die Investitionen, von denen Wachstum und Schrumpfung einer Volkswirtschaft vorwiegend abhängen, zeigen auch in den Jahren 1924 bis 1929 keinen gleichmäßigen Aufwärtstrend. Zwar steigen die Anlageinvestitionen bis 1928 ohne Unterbrechung an, aber die Lagerhaltung schwankt so stark, daß die gesamten internen Bruttoinvestitionen (Anlage und Lagerhaltung) in den Jahren 1926, 1928 und 1929 gegenüber dem Vorjahr abnehmen. Ein einziges Jahr, 1927, bringt einen ‹Investitionsboom›. Auch die Handelsbilanz, die schon vor dem Krieg fast durchweg passiv gewesen war, konnte nur 1926 einen Überschuß erzielen. Die Dienstleistungsbilanz erbrachte zwar stets Überschüsse, wozu besonders die Handelsflotte beitrug; aber sie waren zu gering, um die Leistungsbilanz auszugleichen oder gar einen Überschuß für Reparationsüberweisungen zu erzielen.»
Der Grund, weshalb Deutschland seinen Reparationspflichten nach dem Dawes-Plan nachkommen konnte, lag im Überschuß bei den Kapitalbewegungen in Gestalt ausländischer, namentlich amerikanischer Kredite. Deutschland war nach 1924 ein kapitalhungriges Land; seine hohen Zinssätze und die Kreditrestriktionen der Reichsbank machten es für ausländische Investoren anziehend, und insofern war der Aufschwung in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre nicht nur eine «Dollarscheinblüte». Höchst problematisch aber war die Verwendung der Auslandskredite: Sie wurden zu einem erheblichen Teil, 1927/28 etwa zur Hälfte, kurzfristig vergeben, von den deutschen Banken aber als Investitionskredite weitergereicht und von Ländern und Kommunen für langfristige, nicht unmittelbar «produktive» Zwecke verwandt. So finanzierten die Gemeinden, die sich nicht zu Unrecht als Opfer der «Erzbergerschen» Reichsfinanzreform von 1919 fühlten, mit solchen Krediten den Bau von Schulen, Rathäusern, Krankenhäusern, Sportanlagen oder, wie im Köln des Oberbürgermeisters Konrad Adenauer, den berühmten «Grüngürtel». Solange die Wirtschaft «boomte», wurden die kurzfristigen Kredite meist problemlos prolongiert. Aber bereits in den «guten» Jahren der Weimarer Republik warnten Experten wie Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht und der Reparationsagent Parker Gilbert, ein amerikanischer Finanzfachmann, vor dem unsoliden Finanzgebaren der öffentlichen Hände: «Kippte» die Konjunktur, mußte mit einer schweren Finanzkrise gerechnet werden.
Nicht nur Länder und Gemeinden zogen sich immer wieder scharfe Kritik des Reparationsagenten und des Reichsbankpräsidenten zu, sondern auch das Reich. Eine Besoldungsreform vom Dezember 1927 brachte eine Erhöhung der Beamtengehälter um durchschnittlich 16 bis 17 Prozent: eine Art Wiedergutmachung der inflationsbedingten Verluste der Angehörigen des öffentlichen Dienstes und eine Anerkennung der Tatsache, daß die Gehälter der Beamten seit 1927 sehr viel geringer gestiegen waren als die Löhne der Arbeiter. 1927 war das Jahr, in dem die deutsche Industrie so hohe Gewinne machte wie nie zuvor und nie danach in der Weimarer Republik. Auf die Gefahr, daß der Staat die höheren Gehälter bei stark rückläufigen Steuereinnahmen nicht mehr würde bezahlen können, wies 1927 nicht nur der Reparationsagent hin, sondern auch der Haushaltsexperte der Zentrumsfraktion im Reichstag, Heinrich Brüning. Bei der Schlußabstimmung am 15. Dezember 1927 enthielt er sich der Stimme.
Doch nicht wegen der Beamtenbesoldung ging das Jahr 1927 in die Annalen der deutschen Geschichte ein, sondern wegen des größten Zugewinns an sozialer Sicherheit, den die Arbeiter und die Angestellten während der Weimarer Republik verbuchen konnten: der Einführung der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung. Das einschlägige Gesetz, das am 7. Juli von einer überwältigenden Mehrheit des Reichstags beschlossen wurde, wandelte die bisherige staatliche Erwerbslosenfürsorge in eine Versicherung um, wobei Arbeitgeber und Arbeitnehmer ihre Beiträge in gleicher Höhe – damals 3 Prozent des Bruttolohnes – aufzubringen hatten. Aber es waren nicht nur die Faktoren Kapital und Arbeit, die die Kosten der Versicherung zu tragen hatten, sondern, ganz im Sinn der Bismarckschen Tradition, auch der Staat: Das Reich war verpflichtet, der neu errichteten Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung ein Darlehen zu gewähren, wenn ihr Finanzbedarf aus dem eigenen «Notstock» nicht zu befriedigen war. Daß eine Situation eintreten konnte, in der das Reich dadurch in große finanzielle Bedrängnis geraten würde, schien 1927 kaum jemandem vorstellbar.
Der Staat war in der Weimarer Republik ein höchst aktiver Teilnehmer des Wirtschaftslebens. Eine Verordnung auf Grund des Ermächtigungsgesetzes vom 13. Oktober 1923 hatte die staatliche Zwangsschlichtung von Tarifkonflikten eingeführt und den Staat damit zum Oberschiedsrichter in Arbeitskämpfen gemacht. Die Schlichtungsverordnung bewirkte, was der sozialdemokratische Theoretiker Rudolf Hilferding 1927 im Begriff des «politischen Lohnes» zusammenfaßte und als Ausdruck eines höher entwickelten, «organisierten Kapitalismus», ja als Schritt in Richtung auf den Sozialismus hin würdigte: eine weitgehende Außerkraftsetzung der Tarifautonomie und der Marktkräfte.
Die These des Wirtschaftshistorikers Knut Borchardt, daß die staatliche Zwangsschlichtung zu überhöhten Löhnen und damit wesentlich zur «Krankheit» der Weimarer Wirtschaft beigetragen habe, hat eine lebhafte, bis heute nicht abgeschlossene Forschungsdebatte ausgelöst. Die Rolle des Staates als Oberschlichter, so viel ist unstrittig, war ein Beitrag zur Schwächung der Marktwirtschaft. Andere staatlichen Beiträge waren die Subventionen für die ostelbische Großlandwirtschaft in Gestalt von Schutzzöllen für Getreide und andere Agrarprodukte, die der Reichstag auf Betreiben der Deutschnationalen im August 1925 wieder einführte, und die direkten Zahlungen in Form der «Osthilfe», die ein großes Thema der späten Weimarer Republik werden sollten.
An der Aushebelung der Marktgesetze wirkten aber auch die industriellen Unternehmer durch eine umfassende Kartellbildung mit, die mit der Notwendigkeit der Rationalisierung und damit der Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands begründet wurde, tatsächlich aber vor allem den Wettbewerb im Innern zurückdrängte. Im Ergebnis führte die forcierte Rationalisierung zu beträchtlichen Überkapazitäten und schon vor Beginn der Großen Krise im Herbst 1929 zu hoher Arbeitslosigkeit: Die Zahl der verfügbaren Arbeitsuchenden bei den Arbeitsämtern lag im dritten Quartal 1929 bei 1,53 Millionen. Hilferdings Formel vom «organisierten Kapitalismus» erwies sich als Euphemismus: Es gibt gute Gründe, im Hinblick auf das Deutschland der Weimarer Republik von einem fehlorganisierten Kapitalismus zu sprechen.
Politisch begann die Zeit der «relativen Stabilisierung» der Weimarer Republik mit einem Ereignis, das eher auf Instabilität hindeutete: den Reichstagswahlen vom 4. Mai 1924. Sie brachten den Radikalen von rechts und links starke Gewinne und den meisten gemäßigten Parteien große Verluste. Die monarchistischen Deutschnationalen, die im Wahlkampf vor allem die inflationsgeschädigten Teile der Mittelschichten angesprochen hatten, steigerten ihren Stimmenanteil gegenüber der vorangegangenen Wahl vom Juni 1920 von 15,1 auf 19,5 Prozent. Sie wurden damit zur stärksten bürgerlichen Partei und zur zweitstärksten Partei überhaupt. Die mit den führerlosen Nationalsozialisten verbündete Deutschvölkische Freiheitspartei erzielte auf Anhieb 6,5 Prozent. Über ein Viertel der deutschen Wähler hatte sich damit für die antirepublikanische Rechte entschieden.
Links der Mitte war zweierlei bemerkenswert: Es gab eine starke Gewichtsverlagerung von den Sozialdemokraten zu den Kommunisten und einen erheblichen Rückgang der «marxistischen» Stimmen überhaupt. 1920 hatten die Arbeiterparteien zusammen 41,7 Prozent der Stimmen erhalten, jetzt waren es noch 34 Prozent. Die SPD fiel von 21,7 auf 20,5 Prozent, was nur auf den ersten Blick als geringfügiger Verlust erscheint, in Wirklichkeit aber einer Katastrophe gleichkam: Die wiedervereinigte Sozialdemokratie erhielt 1924 weniger Stimmen als die Mehrheitssozialdemokraten vier Jahre zuvor. Von den 17,9 Prozent, die damals die USPD gewählt hatten, waren die meisten wohl zur KPD abgewandert, die sich nun erstmals auf Reichsebene als proletarische Massenpartei durchsetzte. Die liberalen Parteien DVP und DDP mußten starke, die katholischen Parteien Zentrum und Bayerische Volkspartei geringe Verluste hinnehmen. Auffallend groß war der Anteil bürgerlicher Splittergruppen, die zusammen auf 8,5 Prozent kamen.
Eine Regierungsbeteiligung der Sozialdemokraten in Form einer Großen Koalition kam für die immer noch größte Partei nach ihrer verheerenden Niederlage nicht ernsthaft in Frage: Hätte die Parteiführung sich darauf eingelassen, wäre die SPD am Widerstand ihres linken Flügels, der ehemaligen Unabhängigen, zerbrochen. Auf der anderen Seite dachten die gemäßigten bürgerlichen Parteien nicht daran, mit der radikal nationalistischen DNVP zu koalieren und dieser das Amt des Reichskanzlers zu überlassen, für das die Deutschnationalen den ehemaligen Großadmiral Tirpitz, den Schöpfer der deutschen Flotte, vorschlugen. Die Folge war die abermalige Bildung einer bürgerlichen Minderheitsregierung unter dem Zentrumspolitiker Wilhelm Marx, der Gustav Stresemann, der Vorsitzende der Deutschen Volkspartei, wieder als Außenminister angehörte. Auf die Tolerierung durch die SPD durfte die Regierung zumindest bei wichtigen außenpolitischen Fragen wie der Ratifizierung der Dawes-Gesetze rechnen.
Die Stimmen der Sozialdemokraten reichten aber nicht aus, um sämtliche Gesetze zu verabschieden, die die Regelung der Reparationsfrage erforderlich machte. Eines der Gesetze betraf die Umwandlung der Reichsbahn in eine Gesellschaft, die mit bestimmten Obligationen belastet war und die einen Aufsichtsrat erhielt, dem auch Vertreter der Gläubigerstaaten angehörten. Das Reichsbahngesetz, das tief in die deutsche Souveränität eingriff, hatte verfassungsändernde Wirkungen und bedurfte darum einer Zweidrittelmehrheit.
Diese zu erreichen erforderte die Zustimmung zumindest eines Teiles der Deutschnationalen. Um die Opposition der DNVP zu überwinden, gab die Reichsregierung am 29. August 1924, dem Tag vor der Unterzeichnung des Londoner Abkommens, eine betont «national» gehaltene Erklärung zur Kriegsschuldfrage ab. Hinzu kamen der Druck von zwei mächtigen Interessenverbänden, des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, der 1919 gegründeten Spitzenvertretung der Unternehmerschaft, und des Reichslandbundes, des schlagkräftigen Nachfolgers des Bundes der Landwirte, sowie eine Mischung von Drohung und Angeboten aus dem bürgerlichen Lager: Für den Fall der Ablehnung kündigte die Reichsregierung die Auflösung des Reichstags an, im Fall der Annahme stellte die DVP die Regierungsbeteiligung der Deutschnationalen in Aussicht. Am 29. August stimmten 52 Abgeordnete der DNVP mit Nein und 48 mit Ja. Das reichte, um dem Reichsbahngesetz zu einer Zweidrittelmehrheit und dem Londoner Abkommen insgesamt zur Annahme zu verhelfen.
Eine verläßliche Mehrheit für die laufende Regierungsarbeit aber war damit noch längst nicht gesichert. Die Regierung Marx entschied sich deshalb am 20. Oktober, den Reichspräsidenten um die Auflösung des Reichstags zu bitten. Friedrich Ebert kam dieser Bitte umgehend nach und setzte als Termin der Neuwahl den 7. Dezember 1924 fest. Der zweite Reichstagswahlkampf des Jahres stand im Zeichen der wirtschaftlichen Erholung. Am 30. August war die provisorische Rentenmark zugunsten der neuen, zu 40 Prozent durch Gold und Devisen gedeckten Reichsmark aufgegeben worden. Seit dem Abschluß des Londoner Abkommens strömten ausländische Kredite nach Deutschland, die Arbeitslosenzahlen gingen ähnlich stark zurück wie die durchschnittlichen Arbeitszeiten; die tariflichen Stundenlöhne stiegen erheblich an.
Die Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse schlug sich am 7. Dezember 1924 in einer politischen Entradikalisierung nieder. Die extremen Flügelparteien – auf der einen Seite die Deutschvölkischen, die jetzt als Nationalsozialistische Freiheitspartei antraten, auf der anderen die Kommunisten – gingen geschwächt aus dem Kampf hervor. Gewinne verbuchten die Sozialdemokraten. Die SPD stieg von 20,5 auf 26,5 Prozent, die DNVP von 19,5 auf 20,5 Prozent. Die Kommunisten fielen dagegen von 12,6 auf 9 Prozent, die vereinten Nationalsozialisten und Deutschvölkischen von 6,5 auf 3 Prozent. Vergleichsweise gering waren die Verschiebungen in der Mitte und bei der gemäßigten Rechten.
Das Wahlergebnis ließ nur zwei Arten der Regierungsbildung zu: entweder eine Große Koalition oder ein bürgerliches Mitte-Rechts-Kabinett. Die DVP sprach sich gegen eine Regierung mit den Sozialdemokraten, die DDP gegen eine Regierung mit den Deutschnationalen aus, was aber einen Bürgerblock nicht unmöglich machte, da dieser auch ohne die linksliberale Partei über eine Mehrheit verfügt. Am 15. Januar 1925 kam nach langwierigen Verhandlungen die erste Reichsregierung mit deutschnationaler Beteiligung unter dem parteilosen Hans Luther, dem bisherigen Finanzminister, zustande. Stresemann blieb Außenminister, Otto Geßler, obwohl seine Partei, die DDP, nicht in die Regierung eintrat, als «Fachminister» Leiter des Wehrressorts. Die DNVP stellte den Innen-, den Finanz- und den Wirtschaftsminister; der Landwirtschaftsminister, Graf Kanitz, stand den Deutschnationalen zumindest nahe.
Schon kurz nach der Konstituierung des Kabinetts sah sich der deutschnationale Wirtschaftsminister Karl Neuhaus genötigt, großen Teilen der deutschnationalen Wählerschaft eine herbe Enttäuschung zu bereiten: Gestützt auf das einhellige Votum der Spitzenverbände von Landwirtschaft, Industrie, Handel und Banken, erklärte er Ende Januar in einer Denkschrift, eine Aufwertung der Sparguthaben und Kriegsanleihen, die über den im Februar 1924 festgelegten (von der DNVP heftig attackierten) Satz von 15 Prozent der einstigen Goldmarkbeträge hinausgehe, sei den Sachwertbesitzern nicht zuzumuten und daher schlechthin ausgeschlossen.
Sechs Wochen nach der Bildung des ersten Bürgerblockkabinetts, am 28. Februar 1925, starb im Alter von 56 Jahren Reichspräsident Friedrich Ebert. Unmittelbare Todesursache war eine Blinddarm- und Bauchfellentzündung. In den letzten Monaten seines Lebens hatte sich der erste und einzige Sozialdemokrat im höchsten Amt der Republik gerichtlich mit dem Vorwurf des Landesverrats auseinandersetzen müssen, den ein völkischer Journalist namens Erwin Rothardt wegen Eberts Rolle beim Berliner Munitionsarbeiterstreik vom Januar 1919 gegen ihn erhoben hatte. (Der damalige Vorsitzende der SPD war nur deshalb in die Streikleitung eingetreten, um den Ausstand unverzüglich zu beenden.) Das Urteil des erweiterten Schöffengerichts des Amtsgerichts Magdeburg vom 23. Dezember 1924 war ein klarer Fall von antirepublikanischer Kampfjustiz: Der angeklagte Redakteur wurde zwar wegen Beleidigung zu drei Monaten Gefängnis verurteilt, in der Urteilsbegründung aber stellte das Gericht fest, die Behauptung Rothardts, durch seine Beteiligung an dem Streik habe Ebert Landesverrat begangen, sei im strafrechtlichen Sinn zutreffend, eine Verurteilung wegen übler Nachrede daher nicht möglich.
Das noch amtierende Kabinett Marx gab sogleich eine Ehrenerklärung zugunsten des Reichspräsidenten ab, und unmittelbar darauf erhoben sich auch in der deutschen Gesellschaft gewichtige Stimmen, darunter die des Theologen Adolf von Harnack, der Historiker Friedrich Meinecke und Hans Delbrück, der Juristen Gerhard Anschütz und Wilhelm Kahl, gegen den Rufmord der Magdeburger Richter. Das Urteil tat dennoch seine vergiftende Wirkung, und diese trug viel dazu bei, die seelische und körperliche Widerstandskraft des ersten Reichspräsidenten zu schwächen. Erst nach seinem Tod bescheinigten ihm auch politische Gegner, darunter die deutschnationalen Mitglieder der neuen Reichsregierung, daß er in schwieriger Zeit sein hohes Amt gewissenhaft und in vorbildlicher Überparteilichkeit ausgeübt habe. Von der extremen Rechten war dergleichen nicht zu hören, und auf der Seite der Kommunisten scheute sich deren Redner, der Abgeordnete Hermann Remmele, nicht, dem toten Ebert am 1. März 1925 im Reichstag nachzurufen, er sei «mit dem Fluch des deutschen Proletariats ins Grab gegangen».
Am 29. März 1925 fand die erste Direktwahl eines Reichspräsidenten durch das deutsche Volk statt. Für die gouvernementale Rechte trat der frühere Reichsinnenminister und damalige Oberbürgermeister von Duisburg, Karl Jarres, an, der von DVP und DNVP sowie der kleinen, 1920 gegründeten Reichspartei des deutschen Mittelstandes, kurz Wirtschaftspartei genannt, unterstützt wurde. Kandidat der SPD war Otto Braun, der im Zuge einer Regierungskrise gerade von seinem Amt als preußischer Ministerpräsident zurückgetreten war. Für das Zentrum ging der frühere Reichskanzler Wilhelm Marx, für die DDP der badische Staatspräsident Willy Hellpach, für die BVP Heinrich Held, seit 1924 Ministerpräsident des Freistaats Bayern, ins Rennen. Die Kommunisten hatten ihren Parteivorsitzenden Ernst Thälmann, einen früheren Hamburger Hafenarbeiter, aufgestellt. Nationalsozialistischer Bewerber war Erich Ludendorff. Beim ersten Wahlgang erreichte keiner der Kandidaten die erforderliche absolute Mehrheit. Am besten schnitt Jarres mit 38,8 Prozent ab. Braun kam mit 29 Prozent auf den zweiten, Marx mit 14,5 Prozent auf den dritten Platz.
Für den zweiten Wahlgang verständigten sich die «Weimarer» Parteien SPD, Zentrum und DDP auf Marx als gemeinsamen Bewerber (wofür sich das Zentrum verpflichtete, Braun wieder zum preußischen Ministerpräsidenten zu wählen). Gegen Marx hatte Jarres keine Chance, weshalb die Rechte nach einem populäreren Bewerber Ausschau hielt. Nach dem Gesetz über die Wahl des Reichspräsidenten vom 4. Mai 1920 konnte das auch eine Persönlichkeit sein, die am ersten Wahlgang nicht teilgenommen hatte. Die Wahl fiel auf den ehemaligen Generalfeldmarschall Paul von Beneckendorff und von Hindenburg, am 2. Oktober 1847 in Posen geboren, damals also 77 Jahre alt, der seit seinem Ausscheiden aus der Obersten Heeresleitung im Sommer 1919 im Ruhestand in Hannover lebte.
Für Hindenburg, den mythenumwobenen «Sieger von Tannenberg» und «Ersatzkaiser» des Ersten Weltkrieges, machten sich vor allem die Deutschnationalen und der Reichslandbund stark. Die Großindustrie und die Deutsche Volkspartei, an ihrer Spitze Gustav Stresemann, hatten zunächst starke Bedenken, wobei der Außenminister besonders negative Reaktionen im Ausland befürchtete. Nachdem Jarres seine Bewerbung zurückgezogen hatte, fand sich aber auch die DVP mit der Kandidatur Hindenburgs ab. Die Chancen, daß dieser als Sieger aus dem zweiten Wahlgang hervorgehen würde, standen gut. Er konnte auf die Stimmen der überzeugten Monarchisten und der meisten kirchentreuen evangelischen Christen rechnen. Für den protestantischen Preußen Hindenburg sprach sich auch die Bayerische Volkspartei aus, und das nicht zuletzt deshalb, weil sie sich an der Unterstützung der Sozialdemokraten für den Katholiken Marx stieß. Hindenburg mußte es auch von Nutzen sein, daß die KPD an der aussichtslosen Kandidatur von Thälmann festhielt, auf den im ersten Wahlgang 7 Prozent der Stimmen entfallen waren.
Tatsächlich erzielte Paul von Hindenburg als Kandidat des «Reichsblocks» beim zweiten Wahlgang am 26. April 1925 einen Vorsprung von rund 900.000 Stimmen vor Wilhelm Marx, dem Kandidaten des «Volksblocks». Auf Hindenburg entfielen 48,3, auf Marx 45,3, auf Thälmann 6,4 Prozent der Stimmen. Der Generalfeldmarschall hatte die absolute Mehrheit zwar knapp verfehlt, aber die war beim zweiten Wahlgang auch nicht erforderlich.
Die Wahl Hindenburgs kam einer konservativen Umgründung der Weimarer Republik gleich. Sein Sieg war kein Plebiszit für die Wiederherstellung der Monarchie, aber doch ein Volksentscheid gegen die Form von parlamentarischer Demokratie, die man seit 1919 erlebt hatte. Enttäuschung mit dem grauen republikanischen Alltag ging einher mit einer nostalgischen Verklärung der Vergangenheit. Die liberale «Frankfurter Zeitung» beklagte die «romantische Sehnsucht nach vergangenem Glanz und vergangener Größe». Das gleichfalls liberale «Berliner Tageblatt» sprach von einem «Überrumpelungssieg der Reaktion, gewonnen durch kommunistischen Verrat an der Republik». Wie die beiden bürgerlichen Blätter verglich auch der sozialdemokratische «Vorwärts» die Wahl Hindenburgs mit dem Sieg eines klerikalen Monarchisten, des Marschalls Mac-Mahon, zum Präsidenten der französischen Republik im Jahr 1873 und knüpfte daran die Erwartung, die deutsche Republik werde diese Gefahrenzone ebenso glücklich passieren wie ein halbes Jahrhundert zuvor die französische.
Ganz unbegründet waren solche Hoffnungen nicht. Daß Hindenburg versprach, die republikanische Verfassung zu respektieren, machte es manchem bisherigen Verächter der Republik schwer, in unversöhnlicher Feindschaft zum neuen Staat zu verharren. Bezeichnend war die «realpolitische» Wende der evangelischen Kirche, die sich erst jetzt auf den Boden der weiterhin ungeliebten Tatsache «Republik» stellte. Anlaß zur Genugtuung hatte aber vor allem das Milieu, dem Hindenburg entstammte und dem er sich nach wie vor eng verbunden fühlte: die Welt des Militärs und des preußischen Adels. Für Reichswehr und Großgrundbesitz war es von großer Bedeutung, daß sie fortan wieder über einen unmittelbaren Zugang zum Staatsoberhaupt verfügten, dem in Krisenzeiten die Rolle des eigentlichen Machthabers zufiel. Die gesellschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse änderten sich nach dem 26. April 1925 nicht schlagartig. Aber seit jenem Tag hatte die altpreußische Führungsschicht des vorrepublikanischen Deutschland wieder einen Hebel in der Hand, dessen sie sich bedienen konnte, wenn der Reichstag nicht einsehen wollte, was das Gebot der Stunde war. Von «rechts» aus gesehen, bedeutete das einen großen Schritt nach vorn.
Für die Weimarer Republik war die Wahl Hindenburgs eines von zwei markanten Ereignissen des Jahres 1925. Das andere war der Abschluß der Locarno-Verträge, die Deutschlands Rückkehr in den Kreis der europäischen Großmächte besiegelten, am 26. Oktober 1925. Das Vertragswerk sollte den Status quo der Nachkriegsordnung festigen, tat dies aber, den deutschen Wünschen entsprechend, auf asymmetrische Weise. Völkerrechtlich abgesichert wurden nur die deutschen Westgrenzen: Deutschland, Frankreich und Belgien verzichteten auf eine gewaltsame Änderung der bestehenden Grenzen; Großbritannien und Italien garantierten sie. Mit seinen östlichen Nachbarn, Polen und der Tschechoslowakei, schloß das Reich lediglich Schiedsverträge ab. Frankreich dagegen verpflichtete sich, Polen und der Tschechoslowakei im Fall eines deutschen Angriffs militärisch beizustehen.
Eine friedliche Revision der deutschen Ostgrenze wurde durch Locarno also keineswegs ausgeschlossen. Außenminister Stresemann ließ keinen Zweifel daran, daß er, in voller Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung Deutschlands, auf ebendieses Ziel hinarbeitete. Eine friedliche Lösung der polnischen Grenzfrage werde, so teilte er am 19. April 1925 der deutschen Botschaft in London mit, nicht zu erreichen sein, «ohne daß die wirtschaftliche und finanzielle Notlage Polens den äußersten Grad erreicht und den gesamten polnischen Staatskörper in einen Zustand der Ohnmacht gebracht hat.» Es gelte also, «eine endgültige und dauerhafte Sanierung Polens so lange hinauszuschieben, bis das Land für eine unseren Wünschen entsprechende Regelung der Grenzfrage reif und bis unsere Machtstellung genügend gekräftigt ist … Nur ein uneingeschränkter Wiedergewinn der Souveränität über die in Rede stehenden Gebiete kann uns befriedigen.»
Im Reichstag fanden die Verträge von Locarno am 27. November 1925 nur deswegen eine Mehrheit, weil die Sozialdemokraten zustimmten. Die deutschnationalen Minister waren am 26. Oktober aus dem Kabinett Luther ausgeschieden, weil der DNVP die westlichen Zugeständnisse nicht weit genug gingen. Folgerichtig stimmten die deutschnationalen Abgeordneten gegen das Vertragswerk. Hätte die SPD ihr Ja an die Bedingung geknüpft, an der Regierung beteiligt zu werden, wären Luther und Stresemann kaum in der Lage gewesen, diese Forderung abzulehnen. Aber die innerlich zerstrittenen Sozialdemokraten verzichteten nicht nur im Spätjahr 1925, sondern auch bei zwei weiteren Gelegenheiten im Jahr 1926 darauf, einen Anteil an der Macht im Reich für sich zu verlangen.
Am 12. Mai 1926 hatte das bürgerliche Minderheitskabinett Luther wegen eines von ihm ausgelösten Flaggenstreites zurücktreten müssen. (Anlaß war ein Kabinettsbeschluß vom 1. Mai, wonach die gesandtschaftlichen und konsularischen Behörden das Recht erhielten, neben der schwarz-rot-goldenen Reichs- auch die schwarz-weiß-rote Handelsflagge zu führen.) Das nachfolgende bürgerliche Minderheitskabinett Marx war an einer Regierungsbeteiligung der SPD durchaus interessiert. Aber nun rächte sich, daß die Sozialdemokraten in den Monaten zuvor sich aktiv an dem von der KPD herbeigeführten ersten Plebiszit auf Reichsebene, dem Volksbegehren und Volksentscheid für die entschädigungslose Enteignung der ehemaligen deutschen Fürsten, beteiligt hatten. Der Volksentscheid vom 20. Juni 1926 verfehlte zwar sein Ziel, da nur 36,4 Prozent und nicht die erforderliche Mehrheit der Stimmberechtigten dem entsprechenden Gesetzentwurf zustimmten. Aber nach der Episode der außerparlamentarischen Aktionseinheit mit den Kommunisten fand die SPD nicht die Kraft, gewissermaßen «auf Anhieb» zur Politik des Klassenkompromisses mit der bürgerlichen Mitte zurückzukehren. Die Große Koalition, für die zuvor auch Stresemann eingetreten war, kam also nicht zustande.
Eine weitere Möglichkeit, von der bürgerlichen Minderheitsregierung zur parlamentarischen Mehrheitsregierung in Form eines Mitte-Links-Bündnisses überzugehen, hätte Mitte Dezember 1926 bestanden. Die Regierung Marx bot auf Drängen Stresemanns der SPD eine Große Koalition an, um eine von den Sozialdemokraten beantragte Wehrdebatte zu verhindern. Doch darauf ließ sich die SPD nicht ein. Am 16. Dezember 1926 hielt Philipp Scheidemann eine spektakuläre Reichstagsrede. Der ehemalige Reichsministerpräsident sprach zur Empörung aller bürgerlichen Parteien von der geheimen Rüstung und davon, wie deren Finanzierung verschleiert worden war; er schilderte das Zusammenspiel zwischen der Reichswehr und rechtsradikalen Organisationen; er erwähnte die sogenannte «Schwarze Reichswehr» in Gestalt von Kleinkaliberschützenvereinen, mit deren Hilfe die Reichswehr ihre Beschränkung auf ein Hunderttausend-Mann-Heer umging. Die Kommunisten versetzte Scheidemann mit dem Hinweis in höchste Erregung, daß ihre Stettiner Hafenzelle über die Entladung jener sowjetischen Schiffe voll informiert gewesen sei, die im September und Oktober Waffen und Munition nach Deutschland gebracht hätten.
Am Tag nach Scheidemanns Rede, am 17. Dezember 1926, stürzte der Reichstag die Regierung Marx mit 249 gegen 171 Stimmen. Für den Mißtrauensantrag der SPD stimmten auch die Völkischen, die Deutschnationalen und die Kommunisten. Die Frage einer Großen Koalition hatte sich durch die Rede des ehemaligen Regierungschefs erledigt. Es gab in den bürgerlichen Parteien niemanden mehr, der sich für eine solche Krisenlösung eingesetzt oder sie auch nur ernsthaft erwogen hätte. Das Resultat der Regierungskrise vom Winter 1926/27 war eine Mitte-Rechts-Regierung unter Wilhelm Marx, die am 29. Januar 1927 ihre Arbeit aufnahm. Die Deutschnationalen stellten die Minister für Inneres, Justiz, Landwirtschaft und Verkehr. Das Innenressort leitete nun ein Mann, der im März 1920 als Landrat von Königsberg in der Neumark mit der Putschregierung Kapp-Lüttwitz zusammengearbeitet hatte: Walter von Keudell. Wider Willen hatte die SPD durch ihre Taktik das bisher am weitesten rechts stehende Kabinett der Weimarer Republik an die Macht gebracht.
Außenminister blieb auch im zweiten Bürgerblockkabinett Gustav Stresemann. Mit seinem Namen waren zwei Ereignisse des Jahres 1926 verbunden, die in engem Zusammenhang mit dem Vertrag von Locarno standen: der Berliner Vertrag mit der Sowjetunion und die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Der deutsch-sowjetische Vertrag, den der Reichstag am 10. Juni 1926 nahezu einstimmig annahm, war zum einen dazu bestimmt, das Moskauer Mißtrauen gegen die deutsche Locarnopolitik auszuräumen. Zum anderen sollte das Abkommen den Druck auf Warschau erhöhen. Die Vertragspartner sicherten sich wechselseitige Neutralität für den Fall zu, daß einer von ihnen trotz friedlichen Verhaltens von dritten Mächten angegriffen wurde. Sie verpflichteten sich darüber hinaus, keiner Koalition beizutreten, die über die andere Macht einen wirtschaftlichen und finanziellen Boykott verhängen wollte. Deutschland versprach der Sowjetunion, was es sich im Jahr zuvor von den Westmächten ausbedungen hatte: die faktische Nichtbeteiligung an etwaigen Völkerbundssanktionen gegen Moskau. Ansonsten sollte der Vertrag von Rapallo aus dem Jahr 1922 die Grundlage der deutsch-sowjetischen Beziehungen bleiben.
Das zweite große außenpolitische Ereignis von 1926 fand am 10. September in Genf statt: Deutschlands Eintritt in den Völkerbund. Das Reich wurde, wie es die deutschen Regierungen beharrlich gefordert hatten, sogleich Mitglied des wichtigsten Organs, des Völkerbundrates, während Polen, der Hauptkonkurrent im Ringen um einen solchen Status, sich mit einem nichtständigen Sitz und der Zusage seiner Wiederwahl in dieses Gremium begnügen mußte. Die Sozialdemokraten, die früher und konsequenter als irgendeine andere deutsche Partei sich für den Beitritt zum Völkerbund eingesetzt hatten, feierten die Erreichung dieses Ziels als Sternstunde: Der «Vorwärts» sprach sogar von einem «weltgeschichtlichen Sprung».
Eine Woche nach der feierlichen Zeremonie im Genfer Völkerbundspalast, am 17. September, trafen sich die Außenminister Frankreichs und Deutschlands, Aristide Briand und Gustav Stresemann, in einem Restaurant im nahegelegenen Dorf Thoiry zu einer Generalaussprache. Das üppige Essen und der reichlich genossene Wein ließen bei beiden eine euphorische Stimmung aufkommen. Die Minister verständigten sich darauf, daß Deutschland gegen materielle Hilfe bei der Stabilisierung des Franc – konkret ging es um die vorzeitige Abtragung eines Teils der deutschen Reparationen – politische Zugeständnisse gemacht werden sollten. Mit am wichtigsten waren die vorzeitige Rückgabe des Saargebietes, eine vorgezogene Räumung des Rheinlandes bis Ende September 1927 und die Zustimmung Frankreichs zu deutschbelgischen Vereinbarungen über eine Rückgabe Eupen-Malmedys an das Reich.
Der Hochstimmung folgte der Katzenjammer auf dem Fuß. Ministerpräsident Poincaré, der Briands Verständigungspolitik ansonsten loyal unterstützte, tat es in diesem Fall nicht. Tatsächlich hatte der französische Außenminister in Thoiry, juristisch gesprochen, Geschäftsführung ohne Auftrag betrieben. Auch in Deutschland wurden schwere Bedenken laut wegen der Höhe des Preises, den Stresemann den Westmächten für etwaige politische Konzessionen zahlen wollte. Am Ende kam aus dem Treffen vom 17. September 1926 nicht viel mehr heraus als die Übereinkunft, daß die Internationale Militärkommission, die die Einhaltung der militärischen Bestimmungen des Vertrags von Versailles zu überwachen hatte, Deutschland am 31. Januar 1927 verlassen sollte. Thoiry hatte Erwartungen geweckt, die bei nüchterner Betrachtung von Anfang an nicht realistisch gewesen waren.
Deutschlands Beitritt zum Völkerbund war der Höhepunkt der «Ära Stresemann». Der Mann, der im Ersten Weltkrieg ein glühender Annexionist gewesen war, der sich noch während des Kapp-Lüttwitz-Putsches als opportunistischer Taktierer hervorgetan hatte, war in der Folgezeit zum «Vernunftrepublikaner» und zum Staatsmann gereift. Als Reichskanzler im Krisenherbst 1923 trug er mehr als jeder andere dazu bei, daß die Einheit des Reiches und die Staatsform der demokratischen Republik bewahrt wurden. Als Außenminister war er der Vorkämpfer einer Politik der friedlichen Verständigung mit dem Westen. Dem östlichen Nachbarn Polen gegenüber freilich trat Stresemann nicht weniger «national» auf als die meisten deutschen Politiker von rechts bis links. Der Außenminister der Jahre 1923 bis 1929 war ein aufgeklärter Vertreter deutscher Großmachtpolitik und der Anwalt eines engeren Zusammenschlusses der europäischen Staaten. Er konnte beides sein, weil sich aus seiner Sicht diese Ziele gar nicht widersprachen. Die internationale Öffentlichkeit zollte ihm wie keinem anderen deutschen Politiker der Nachkriegszeit Respekt: Am 10. Dezember 1926 wurden er und sein französischer Kollege Aristide Briand in Oslo mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Die Mitte-Rechts-Regierung Marx war das achte Kabinett, in dem Stresemann das Amt des Außenministers innehatte. Die zweite Bürgerblockregierung war, alles in allem, weniger «reaktionär», als die Linke befürchtet hatte. Im Mai 1927 wurde unter der Ägide des deutschnationalen Innenministers von Keudell und mit den Stimmen der DNVP das Republikschutzgesetz von 1922 in abgemilderter Form auf zwei Jahre lang verlängert. Unter der Verantwortung des Zentrumspolitikers Heinrich Brauns, der seit dem August 1923 ununterbrochen an der Spitze des Reichsarbeitsministeriums stand, wurde im Dezember 1927 jenes Gesetz über die Arbeitslosenversicherung verabschiedet, von dem bereits die Rede war.
Um diese Zeit war der Zerfall der Mitte-Rechts-Regierung bereits in Sicht. Seit Juli 1927 stritten sich die Koalitionspartner um ein von Innenminister von Keudell vorgelegtes Schulgesetz, das die rechtliche Gleichbehandlung von christlichen Gemeinschaftsschulen und konfessionellen Schulen vorsah. Zentrum, BVP und DNVP unterstützten die Vorlage; die DVP, Erbin der «kulturkämpferischen» Nationalliberalen, lehnte sie unter Hinweis auf die Reichsverfassung ab, die den Vorrang der Simultanschule festgelegt hatte. Am 15. Februar 1928 sah sich Graf Westarp, der Vorsitzende der deutschnationalen Reichstagsfraktion und der Leiter der Sitzungen des Koalitionsausschusses, zu der Feststellung gezwungen, daß in den umstrittenen Fragen eine Einigung nicht möglich erscheine, das Regierungsbündnis infolgedessen aufgelöst sei.
In der Weimarer Republik trug offenbar jede Form von parlamentarischer Mehrheitsregierung den Keim des Zerfalls in sich. Bei einer Großen Koalition bildeten sozialpolitische Fragen, in einer Mitte-Rechts-Koalition Außen- und Kulturpolitik die vorgegebenen Konfliktzonen. Aus der Zeit der konstitutionellen Monarchie an den Zwang zu Kompromissen nicht gewöhnt, neigten die Parteien dazu, einzelne Ziele als nicht verhandelbar zu betrachten. Auch «staatstragende» Parteien verhielten sich immer wieder so, als verlaufe die maßgebliche Trennungslinie wie einst, in der Zeit vor dem Oktober 1918, zwischen Regierung und Reichstag und nicht, wie es der Logik des parlamentarischen Systems entsprach, zwischen Regierungsmehrheit und Opposition: Die Regierung wurde oft auch dann als «gegnerisch» empfunden, wenn die eigene Partei maßgeblich an ihr beteiligt war. Aus diesem Erbe der Kaiserzeit erklärt sich zu einem guten Teil die Labilität, die auch in den wenigen relativ ruhigen Jahren der ersten deutschen Republik ein Merkmal des deutschen Parlamentarismus war. Gefördert wurde das «falsche Bewußtsein» der Parlamentarier aber auch durch die Weimarer Reichsverfassung: Scheiterte eine Koalitionsregierung an der fehlenden Kompromißbereitschaft der sie tragenden Parteien, gab es als ultima ratio immer noch die präsidiale «Reserveverfassung» in Gestalt des Notverordnungsrechts nach Artikel 48.
Am 31. März 1928 löste Reichspräsident von Hindenburg den Reichstag auf und setzte als Termin der Neuwahl den 20. Mai fest. Ebenfalls am 31. März traf der Reichsrat eine Entscheidung über ein Projekt, das die nächste Regierung in eine schwere Krise stürzen sollte: den Panzerkreuzer «A». Die Reichsmarine wollte mit diesem Schiff eine Reihe von Ersatzbauten einleiten und den Gesetzgeber auf ein längerfristiges, mehrere Legislaturperioden überdauerndes Programm festlegen. Der Reichsrat hatte sich im Dezember 1927 unter Führung Preußens gegen den entsprechenden Etatposten ausgesprochen; im Reichstag aber fand sich Ende März eine Mehrheit des Bürgerblocks, die eine erste Baurate bewilligte. Diesen Beschluß beantwortete der Reichsrat am 31. März mit dem Ersuchen an das geschäftsführende Kabinett Marx, die Arbeiten an dem Panzerschiff erst nach erneuter Prüfung der Finanzlage und auf keinen Fall vor dem 1. September 1928 aufzunehmen. Dieser Auflage stimmte Reichwehrminister Wilhelm Groener zu, der am 19. Januar 1928 die Nachfolge des amtsmüden Otto Geßler angetreten hatte.
Den Parteien der Linken gab der Panzerkreuzer «A» ein zündendes Stichwort. Die KPD, die unter Führung Ernst Thälmanns in den Jahren zuvor immer mehr zu einem gefügigen Instrument Stalins geworden war, setzte dem Bau des Panzerschiffs die populäre Forderung nach kostenloser Kinderspeisung an den Volksschulen entgegen. (Die bürgerliche Reichstagsmehrheit hatte die hierfür vorgesehenen 5 Millionen Reichsmark abgelehnt.) Der Parole «Kinderspeisung statt Panzerkreuzer» bedienten sich auch die Sozialdemokraten, die sich damit radikaler gaben, als sie waren. Auf ihrem Kieler Parteitag im Mai 1927 hatte die SPD keinen Zweifel daran gelassen, daß sie entschlossen war, ein neues Rechtskabinett zu verhindern und zu diesem Zweck bei einem guten Wahlausgang Regierungsverantwortung zu übernehmen.
Auf dem äußersten rechten Rand des politischen Spektrums zog im Frühjahr 1928 eine konsolidierte NSDAP in den Wahlkampf. Adolf Hitler stand als «Führer» unangefochten an der Spitze der Nationalsozialisten. Der linke, in Norddeutschland starke Flügel um die Brüder Otto und Gregor Strasser bildete seit der Bamberger «Führertagung» vom Februar 1926 kein Gegengewicht mehr zum «Braunen Haus», der Parteizentrale, in München. Die NSDAP gab sich zwar weiterhin arbeiterfreundlich und «sozialistisch», aber schon vor der Reichstagswahl war zu erkennen, daß sie die stärkste Resonanz nicht in den großen Städten, sondern in ländlichen Gebieten fand, die besonders vom Sturz der Schweinepreise im Jahr 1927, dem Auftakt einer weltweiten Agrarkrise, betroffen war. Auf die Landbevölkerung zielte auch die neue verbindliche Deutung, die Hitler am 13. April 1928 dem Punkt 17 des Parteiprogramms von 1920 gab: Die dort geforderte unentgeltliche Enteignung von Boden für gemeinnützige Zwecke beziehe sich lediglich auf unrechtmäßig erworbenen Besitz, in erster Linie den Besitz von «jüdischen Grundspekulationsgesellschaften».
In der Gesellschaft insgesamt war jedoch am Vorabend der Wahl von Krisenstimmung wenig zu spüren. Die Konjunkturdaten wiesen nach oben, die Arbeitslosenzahlen lagen unter denen des Vorjahres. Vor keiner anderen Reichstagswahl der Weimarer Republik hatten die demokratischen Kräfte soviel Anlaß zum Optimismus gehabt wie vor der vom 20. Mai 1928.
Die strahlenden Sieger der vierten Reichstagswahl waren die Sozialdemokraten: Sie legten gegenüber der vorangegangenen Wahl vom 7. Dezember 1924 3,8 Prozentpunkte zu und kamen auf 29,8 Prozent. Die großen Verlierer waren die Deutschnationalen, die von 20,5 auf 14,3 Prozent absanken. Von den gemäßigten bürgerlichen Parteien verlor das Zentrum mit 1,5 Prozent am meisten. Die beiden liberalen Parteien büßten jeweils 1,4 Prozentpunkte ein. Hätte es in der Weimarer Republik eine Fünfprozentklausel gegeben, wäre die DDP daran gescheitert: Sie kam nur noch auf 4,9 Prozent – 0,3 Prozentpunkte mehr als die Reichspartei des deutschen Mittelstandes. Die KPD konnte ihren Anteil von 9 auf 10,6 Prozent steigern. Die NSDAP mußte sich im Reichsdurchschnitt mit 2,6 Prozent begnügen. In einigen agrarischen Krisenregionen an der schleswig-holsteinischen Westküste aber war der Zulauf zu den Nationalsozialisten geradezu sensationell zu nennen: In Norderdithmarschen erzielten sie 28,9, in Süderdithmarschen sogar 36,8 Prozent.
Das Wahlergebnis ließ praktisch nur eine Form der Mehrheitsregierung zu: eine Große Koalition. Sie kam nach langwierigen Verhandlungen am 28. Juni 1928 zustande – aber vorerst noch nicht als formelle Koalitionsregierung, sondern zunächst nur als sogenanntes «Kabinett der Persönlichkeiten». Die politische Unabhängigkeit der Minister, die dieser Begriff suggerierte, war eine Täuschung. Tatsächlich waren die Vorbehalte gegen das Regierungsbündnis unter dem Vorsitzenden der SPD, Hermann Müller, in der DVP so stark, daß Stresemann ultimativen Druck anwenden mußte, um seine Partei zur vorläufigen Hinnahme von zwei volksparteilichen Kabinettsmitgliedern (nämlich ihm selbst als Außenminister und Julius Curtius als Wirtschaftsminister) zu bewegen.
Die Regierung Müller war erst wenige Wochen im Amt, als sie in eine schwere Krise stürzte. Am 10. August 1928 billigte das Kabinett den Bau des Panzerkreuzers «A», gegen den die Sozialdemokraten im Wahlkampf heftig agitiert hatten. Da der sozialdemokratische Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding für sein Ressort keine Bedenken geltend machen konnte (die Kosten wurden durch anderweitige Einsparungen im Wehretat ausgeglichen), war die Bestätigung der vom vorangegangenen Reichstag getroffenen Entscheidung korrekt. Ein Nein der sozialdemokratischen Minister hätte im übrigen das sofortige Ende der Regierung Müller bedeutet. Viele Mitglieder und Anhänger der größten deutschen Partei sahen das anders – an ihrer Spitze Otto Wels, der, solange sein Mitvorsitzender Hermann Müller Reichskanzler war, die SPD faktisch allein führte. Nach dem Ende der parlamentarischen Sommerpause stellte Wels namens der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion am 31. Oktober den Antrag, den Bau des Panzerschiffs einzustellen und die dadurch freiwerdenden Mittel für die Kinderspeisung zu verwenden.
Doch es kam noch schlimmer für die sozialdemokratischen Mitglieder der Reichsregierung: Wels zwang sie, bei der Abstimmung im Reichstag am 16. November 1928 mit der Fraktion, also gegen den Kabinettsbeschluß vom 10. August, zu stimmen. Reichskanzler Müller, Innenminister Carl Severing, Finanzminister Rudolf Hilferding und Arbeitsminister Rudolf Wissell mußten sich also gewissermaßen selbst das Mißtrauen aussprechen. Die Regierung erlitt zwar keine Abstimmungsniederlage, da alle bürgerlichen Parteien und die Nationalsozialisten gegen den Antrag der SPD stimmten und ihn damit zu Fall brachten. Der öffentliche Eindruck aber war verheerend. Die Berliner «Vossische Zeitung» warf im Einklang mit der gesamten liberalen Presse der SPD fehlende Glaubwürdigkeit vor: «Sie will weiterregieren und nur ihr Gesicht wahren … Wird man sich damit zufrieden geben, daß sie mit der Hand auf den Tisch des Hauses schlägt und froh ist, wenn andere verhindern, daß etwas kaputt geht?»
Im April 1929 gelang den Regierungsparteien doch noch, woran zeitweilig kaum mehr jemand geglaubt hatte: die formelle Bildung einer Großen Koalition. Vorausgegangen war eine Einigung auf den Reichshaushalt 1929, die dadurch erleichtert wurde, daß erst Finanzminister Hilferding und dann nochmals die Sachverständigen der Fraktionen die Vorausschätzungen der Steuereinnahmen nach oben korrigierten. Der ausschlaggebende Grund der überraschenden Verständigung aber war ein außenpolitischer: Anfang Februar hatten in Paris Reparationsverhandlungen begonnen. Das Dawes-Abkommen von 1924 war ja nur eine provisorische Regelung, die die Gesamthöhe der Reparationen noch offen ließ, und 1928/29 erreichten die Jahreszahlungen nach dem Dawes-Plan, die Annuitäten, erstmals ihre volle Höhe, nämlich 2,5 Milliarden Reichsmark.
An einer Minderung dieser Last waren angesichts einer sich verschlechternden Konjunktur alle Regierungsparteien interessiert. Doch auch der Reparationsagent arbeitete auf eine Revision des Dawes-Plans hin. Solange Parker Gilbert darüber zu befinden hatte, ob die deutsche Zahlungsbilanz und die Stabilität der Mark einen Transfer der Reparationen rechtfertigten oder nicht, konnten sich die Deutschen gewissermaßen hinter ihm verstecken. Gilbert hielt das für schädlich und wollte durch ein neues Abkommen Deutschland zu wirtschaftlicher und finanzieller Selbstverantwortung zwingen.
Das Ergebnis der Pariser Verhandlungen war der Young-Plan, benannt nach dem amerikanischen Bankier Owen D. Young, dem Leiter der Expertenkonferenz, die am 7. Juni 1929 zu Ende ging. Der Übereinkunft der Sachverständigen zufolge sollte Deutschland bis 1988, also fast sechs Jahrzehnte lang, Reparationen zahlen. Während der ersten zehn Jahre lagen die Annuitäten unter der Durchschnittshöhe von 2 Milliarden RM, stiegen dann an, um nach 37 Jahren wieder abzusinken. Eine ausländische Kontrolle der deutschen Finanzen war nicht mehr vorgesehen, ebensowenig die Verpfändung von Industrieobligationen und Reichseinnahmen.
Was die Verantwortung für den Transfer anging, trat an die Stelle des Reparationsagenten die Reichsregierung. Ihr wurde die Möglichkeit eingeräumt, zwischen dem «geschützten» und dem «ungeschützten» Teil der Reparationen zu unterscheiden, wobei sie den zweiten unbedingt und fristgerecht zu zahlen hatte, beim ersten aber einen Aufschub bis zu zwei Jahren beantragen konnte. Empfänger der Zahlungen war eine neu zu errichtende Stelle: die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel. Geriet Deutschland in Zahlungsschwierigkeiten, so konnte es bei einem internationalen Sachverständigenausschuß vorstellig werden. Dieser mußte auch, wenn Deutschland sich wirtschaftlich nicht in der Lage sah, seinen Reparationspflichten nachzukommen, Vorschläge zu einer Revision des Young-Plans beraten. Auch für eine weitere Eventualität war gesorgt: Sollten die USA ihren interalliierten Schuldnern einen Schuldennachlaß gewähren, so waren davon zwei Drittel auf die deutsche Reparationslast anzurechnen.
Für Deutschland hatte der Young-Plan gegenüber dem Dawes-Plan einen großen Vorteil: Er stellte seine Souveränität auf wirtschaftspolitischem Gebiet wieder her. Ein Nachteil war hingegen der Wegfall des Transferschutzes: Anders als bisher mußte das Reich auch bei einer wirtschaftlichen Depression Reparationen zahlen. Die Aussicht, 58 Jahre lang zu Zahlungen an die ehemaligen Kriegsgegner verpflichtet zu sein, war bedrückend. Aber es gab einen politischen Ausgleich für diese Härte: Das Ja der Reichsregierung zum Young-Plan veranlaßte Frankreich, Deutschland in der Rheinlandfrage entgegenzukommen. Zum Abschluß einer Konferenz in Den Haag, an der Großbritannien, Frankreich, Italien, Belgien, Japan und Deutschland teilnahmen, wurde am 30. August 1929 ein Abkommen über die vorzeitige Räumung des Rheinlandes unterzeichnet. Aus der zweiten Zone (die erste Zone war bereits im Winter 1925/26 geräumt worden) sollten die alliierten Truppen bis zum 30. November 1929 abziehen. Die dritte und letzte Zone war zum 30. Juni 1930, fünf Jahre vor dem im Vertrag von Versailles vorgesehenen Termin, zu räumen.
Deutschlands extreme Rechte wartete das Ergebnis der Haager Verhandlungen gar nicht erst ab. Am 9. Juli 1929 trat in Berlin ein «Rechtsausschuß für das Deutsche Volksbegehren» zusammen. Beteiligt waren für den Alldeutschen Verband Heinrich Claß, für den «Stahlhelm», den Ende 1918 gegründeten paramilitärischen «Bund der Frontsoldaten», dessen Führer Franz Seldte, für die DNVP der Film-und Pressemagnat Alfred Hugenberg, der seit Oktober 1928 an der Spitze der Partei stand, und für die NSDAP Adolf Hitler. Sie unterzeichneten eine Erklärung, die das deutsche Volk zum Kampf gegen den Young-Plan und die «Kriegsschuldlüge» aufrief und die Vorlage eines entsprechenden Volksbegehrens ankündigte.
Während die Rechte ihre Kräfte sammelte, vertiefte sich die Kluft, die die gemäßigte von der radikalen Linken trennte. Seit dem Sechsten Weltkongreß der Kommunistischen Internationale im Sommer 1928, auf den zurückzukommen sein wird, galt der Kampf gegen die angeblich verbürgerlichte, ja dem Faschismus immer ähnlicher werdende Sozialdemokratie als vorrangige Aufgabe aller kommunistischen Parteien. Möglicherweise wäre diese Devise für die KPD eine abstrakte Formel geblieben, hätte nicht der Berliner Polizeipräsident, der Sozialdemokrat Karl Friedrich Zörgiebel, im Frühjahr 1929 im Kampf gegen die äußerste Linke Methoden angewandt, die der neuen «ultralinken» Generallinie der Komintern den Schein einer Rechtfertigung verschafften. Zörgiebel hielt ein Verbot aller Versammlungen und Demonstrationen unter freiem Himmel, das er in Gefolge einer Welle von gewaltsamen Auseinandersetzungen im Dezember 1928 verhängt hatte, auch für den 1. Mai, den traditionellen «Kampftag» der Arbeiter, aufrecht. Die Kommunisten mißachteten das Verbot, errichteten vereinzelt Barrikaden und lieferten damit der Polizei den Anlaß, mit äußerster Brutalität, unter Einsatz von Panzerwagen und Schußwaffen, gegen die äußerste Linke vorzugehen. Die Bilanz der Aktion waren 32 Tote, allesamt Zivilisten, außerdem fast 200 Verletzte und weit über 1000 Verhaftungen.
Dem Polizeieinsatz folgte, von Preußen ausgehend, eine administrative Maßnahme: das reichsweite Verbot des Roten Frontkämpferbundes, des 1924 gegründeten kommunistischen Wehrverbandes. Die KPD gab ihre Antwort im Juni 1928 in dem Berliner Stadtteil, wo Anfang Mai die heftigsten Kämpfe stattgefunden hatten: im Wedding. Dorthin wurde ein Parteitag einberufen, der ursprünglich in Dresden hatte zusammentreten sollen. Der «Blutmai» und das Verbot des Roten Frontkämpferverbandes dienten der Parteiführung als Beleg, daß die Sozialdemokratie auf dem Weg zum «Sozialfaschismus» sei. Ernst Thälmann, der sich auf dem Parteitag als Führer des revolutionären deutschen Proletariats feiern ließ, ging noch weiter: Er nannte den «Sozialfaschismus» der SPD eine besonders gefährliche Form der faschistischen Entwicklung.
Die politische Radikalisierung auf der Linken hing eng mit der zunehmenden Erwerbslosigkeit zusammen. Der Rückgang der Konjunktur ließ die Zahl der Arbeitslosen im Februar 1929 erstmals auf über 3 Millionen anschwellen, und die übliche Erholung im Frühjahr fiel nur schwach aus: Im März gab es immer noch 2,7 Millionen Arbeitslose. Die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung konnte aus den Beiträgen lediglich 800.000 Empfänger der «Hauptunterstützung» versorgen und war daher gezwungen, einen Kredit beim Reich aufzunehmen. Da die Mittel aus der Reichskasse nicht beizubringen waren, blieb dem Finanzminister nichts anderes übrig, als die Hilfe eines Bankenkonsortiums in Anspruch zu nehmen. Nur auf diesem ungewöhnlichen Weg konnte der Zusammenbruch der Reichsanstalt im März 1929 verhindert werden.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar, daß es ohne Reform der Arbeitslosenversicherung eine Sanierung der Reichsfinanzen nicht geben konnte. Doch nirgendwo lagen die Positionen der beiden Flügelparteien der Großen Koalition so weit auseinander wie im Bereich der sozialen Sicherheit: Die SPD sprach sich, in Übereinstimmung mit den Freien Gewerkschaften, für eine Erhöhung der Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aus. Die DVP lehnte das, mit Rücksicht auf die Unternehmer, strikt ab und verlangte statt dessen eine Senkung der Leistungen.
Bis Ende September 1929 kam es trotz zahlreicher Expertengespräche zu keiner Annäherung der Standpunkte. Am 1. Oktober deutete Reichskanzler Müller erstmals die Möglichkeit seines Rücktritts für den Fall an, daß der Regierung eine Lösung des Problems nicht gelingen sollte. Doch am selben Tag lenkte die DVP ein: Wenn SPD und Zentrum sich bereit erklärten, die von ihnen befürwortete Erhöhung der Beiträge um ein halbes Prozent bis Dezember zu vertagen, wollte die Volkspartei einer Vorlage, die die Unterstützungssätze senkte und Mißstände in der Arbeitslosenversicherung beseitigte, durch Stimmenthaltung zur Annahme verhelfen. Sozialdemokraten und Zentrum ließen sich auf diesen Kompromiß ein, so daß die entsprechende Gesetzesnovelle am 3. Oktober im Reichstag eine Mehrheit fand. Die Große Koalition hatte ihre bislang schwerste Belastungsprobe bestanden.
Der Politiker, der am meisten dazu beigetragen hatte, die Regierung Müller zu retten, lebte, als der Reichstagspräsident das Ergebnis der Abstimmung bekanntgab, nicht mehr: Gustav Stresemann war am frühen Morgen des 3. Oktober 1929 im Alter von 51 Jahren einem Schlaganfall erlegen. Seit langem gesundheitlich geschwächt, hatte der deutsche Außenminister seine letzten Kraftreserven eingesetzt, um einen Regierungswechsel zu verhindern, der seiner Verständigungspolitik den Boden zu entziehen drohte. Um seine Außenpolitik nach «rechts» hin abzusichern, war Stresemann mitunter nationalistischer aufgetreten, als es seinen Auffassungen entsprach. Doch er hielt daran fest, daß die erstrebte Revision von Versailles keinen Krieg rechtfertigte. Die Bedingung der Möglichkeit einer Außenpolitik, die dieser Maxime folgte, war die Zusammenarbeit der gemäßigten Kräfte in Bürgertum und Arbeiterschaft. Weil Stresemann dies wußte, war er der entschiedenste Anwalt einer Großen Koalition in seiner Partei. Nach seinem Tod stand dieses Bündnis auf einer noch schwächeren Grundlage als zuvor. Der einzige Staatsmann, den die Weimarer Republik hervorgebracht hat, sollte sich bald als außen- wie innenpolitisch unersetzbar erweisen.
Viereinhalb Wochen nach Stresemanns Tod, am 2. November 1929, stand fest, daß der Versuch der äußersten Rechten, den Young-Plan auf plebiszitärem Weg zu Fall zu bringen, die erste Hürde, wenn auch nur knapp, genommen hatte: 4,1 Millionen oder 10,02 Prozent der Stimmberechtigen hatten sich in die ausliegenden Listen des Volksbegehrens eingetragen. Das waren 0,02 Prozentpunkte über dem von der Reichsverfassung vorgeschriebenen Quorum von 10 Prozent. Der Gesetzesentwurf des Reichsausschusses für das Deutsche Volksbegehren bedrohte «Reichskanzler, Reichsminister und deren Bevollmächtigte», die den Young-Vertrag unterschrieben, mit der Strafe für Landesverrat, nämlich Zuchthaus nicht unter zwei Jahren. Daß der Reichstag diesen Vorstoß mit überwältigender Mehrheit ablehnen würde, stand von vornherein fest. Mit Spannung wurde lediglich das Abstimmungsverhalten der DNVP erwartet. Nach mehrtägiger Debatte stimmten am 30. November von den anwesenden 72 Abgeordneten der Deutschnationalen nur 53 für den Zuchthausparagraphen. Die scharfen Gegenmaßnahmen Hugenbergs gegen die Abweichler führten zur Spaltung der Fraktion. Zwölf Abgeordnete, unter ihnen der ehemalige Reichsminister Walter von Keudell, der Gutsbesitzer Hans von Schlange-Schöningen, der Vorsitzende des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes, Walter Lambach, und der ehemalige Kapitänleutnant Gottfried Treviranus, erklärten ihren Austritt aus der Partei und gründeten die Deutschnationale Arbeitsgemeinschaft. Der Fraktionsvorsitzende Graf Westarp legte unter Protest gegen die Politik Hugenbergs sein Amt nieder.
Am 27. Dezember fand der nach der Ablehnung des Reichstags unumgängliche Volksentscheid statt. 5,8 Millionen oder 13,8 Prozent stimmten für den Gesetzentwurf. Um angenommen zu werden, wären 21 Millionen Ja-Stimmen erforderlich gewesen. Am Mißerfolg des Reichsausschusses gab es also nichts zu deuteln. Doch in 9 der 35 Wahlkreise lag der Stimmenanteil der Befürworter über einem Fünftel. Noch wichtiger war, daß es Adolf Hitler durch seine Mitwirkung im Reichsausschuß gelungen war, von der «guten Gesellschaft» akzeptiert, also «salonfähig» zu werden. Seine Partei profitierte infolgedessen auch von den Geldmitteln, mit denen schwerindustrielle und agrarische Kreise Volksbegehren und Volksentscheid unterstützt hatten.
Auch andere Anzeichen deuteten im Spätherbst darauf hin, daß sich die Nationalsozialisten im Aufwind befanden. Bei den Landtagsund Kommunalwahlen vom November und Dezember 1929 erzielten sie große Stimmengewinne. In einem Land, in Thüringen, stellten sie seit Januar 1930 sogar in einer Regierung, an der auch DNVP und DVP beteiligt waren, ein Kabinettsmitglied: Wilhelm Frick als Innen- und Volksbildungsminister. Um dieselbe Zeit begann die Partei Hitlers, die deutschen Universitäten zu erobern. Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund war der große Gewinner bei den Wahlen zu den Allgemeinen Studentenausschüssen im Wintersemester 1929/30. In Würzburg kam er auf 30, an der Technischen Hochschule Berlin auf 38, in Greifswald sogar auf 53 Prozent.
Der Rechtsruck bei den Studenten war ein Ausdruck von sozialem Protest. Eine junge Akademikergeneration lehnte sich gegen ihre «Proletarisierung» auf und sagte dem «System» den Kampf an, das sie für ihre materielle Not und ihre unsicheren Berufsaussichten verantwortlich machte. Haß auf den Staat von Weimar und Abneigung gegenüber den Juden gingen Hand in Hand. Die Juden machten zwar nur 1 Prozent der deutschen Bevölkerung aus, stellten aber 4 bis 5 Prozent der Studierenden; in manchen Fachbereichen wie Medizin und Rechtswissenschaften und an einigen Universitäten wie Frankfurt am Main und Berlin lagen die Prozentzahlen noch höher. Aus Sicht vieler ihrer nichtjüdischen Kommilitonen bedeutete das nichts anderes, als daß die Juden ungerechtfertigte Privilegien in Anspruch nahmen. Der Vormarsch der nationalsozialistischen Studentenorganisation beruhte nicht zuletzt auf einer massenhaften Mobilisierung von sozialen Neidgefühlen.
Die wirtschaftlichen Gründe des Zulaufs zur extremen Rechten lagen Ende 1929 offen zutage. Die Agrarkrise hatte sich weiter zugespitzt und zu einer Radikalisierung der bäuerlichen Landvolkbewegung in Norddeutschland geführt: Bombenattentate auf Finanz- und Landratsämter machten seit dem Frühjahr vor allem in Schleswig-Holstein immer wieder Schlagzeilen. Die Zahl der Arbeitsuchenden in ganz Deutschland stieg von 1,5 Millionen im September auf 2,9 Millionen im Dezember und lag damit um 350.000 höher als im gleichen Monat des Vorjahres. Die Aktienkurse hatten, wenn man das Niveau der Jahre 1924 bis 1926 gleich 100 setzt, im Boomjahr 1927 mit 158 ihren Höhepunkt erreicht. Dann fielen sie auf 148 Punkte im Jahr 1928 und 134 Punkte im Jahr 1929. Die schrillsten Alarmzeichen kamen aus Amerika. Am 24. Oktober 1929 gaben an der New Yorker Börse die Aktienkurse auf breiter Front und in einem Ausmaß nach, das einem Erdrutsch gleichkam. Unmittelbar darauf begannen die amerikanischen Banken, das Geld zurückzufordern, das sie in Europa und vor allem in Deutschland meist nur kurzfristig angelegt hatten.
Nicht nur für Kommunen und Länder, auch für das Reich wurde es nun immer schwieriger, Anleihen aufzunehmen. Dem Reichsbankpräsidenten Schacht, der Ende 1918 an der Gründung der DDP beteiligt gewesen war, sich inzwischen aber der politischen Rechten angenähert hatte, kam die Finanznot wie gerufen. Er nutzte ein drohendes Kassendefizit des Reiches, um die Regierung der Großen Koalition ultimativ auf eine langfristige Sanierung der Reichsfinanzen festzulegen. Unterstützt vom Reparationsagenten, zwang er Mitte Dezember Reichsregierung und Reichstag, für den Reichshaushalt 1930 eine Schuldentilgungssumme von 450 Millionen Reichsmark vorzusehen.
Erst nachdem der Reichstag dies am 22. Dezember beschlossen hatte, erhielt die Reichsregierung von einem deutschen Bankenkonsortium unter Führung der Reichsbank den Überbrückungskredit, der das Reich vor der Zahlungsunfähigkeit bewahrte. Das von der Großen Koalition beschlossene, vom Reichstag unter Vorbehalt bewilligte Finanzprogramm, zu dem die Anhebung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 3 auf 3,5 Prozent, die Erhöhung der Tabaksteuer und die Senkung der direkten Steuern zwecks verstärkter Kapitalbildung gehörten, konnte in Kraft treten. Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr im Amt: Er war am 21. Dezember aus Protest gegen den Eingriff Schachts zurückgetreten. Hilferdings Nachfolge übernahm der Wirtschaftswissenschaftler Paul Moldenhauer von der DVP, der erst einige Wochen zuvor, am 11. November, an die Spitze des Reichswirtschaftsministeriums getreten war, nachdem der bisherige Amtsinhaber, Julius Curtius, als Nachfolger Stresemanns zum Außenminister ernannt worden war.
Die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik steckte, daran gab es um die Jahreswende 1929/30 keinen Zweifel mehr, in einer schweren Krise. Nicht nur der Konflikt zwischen dem Reichsbankpräsidenten und der Reichsregierung machte das deutlich. Es gab auch Anzeichen, daß sich große Teile der «Machtelite» von der Reichsregierung, wenn nicht gar von der parlamentarischen Regierungsweise abzuwenden begannen. Die Großlandwirtschaft mit dem Reichslandbund als Interessenvertretung war von Anfang an eine Gegnerin der Großen Koalition gewesen. Der Reichsverband der Deutschen Industrie richtete im Dezember 1929 in einer Denkschrift unter dem Titel «Aufstieg oder Niedergang?» ultimativ klingende Forderungen an das Kabinett Müller, darunter eine Anpassung der Sozialpolitik an die Leistungskraft der Wirtschaft und ein Vetorecht der Reichsregierung gegen Ausgabenerhöhungen durch den Reichstag. Reichswehrminister Groener und sein engster Berater, der Chef des neugeschaffenen Ministeramtes, General Kurt von Schleicher, arbeiteten spätestens seit Ende 1929 im Zusammenspiel mit dem Staatssekretär im Amt des Reichspräsidenten, Otto Meissner, auf eine Regierung ohne Sozialdemokraten hin, die nach Lage der Dinge nur ein Präsidialkabinett sein konnte.
Hindenburg selbst hatte sich schon im Frühjahr 1929 für eine solche Kurskorrektur ausgesprochen: Graf Westarp, damals noch Fraktionsvorsitzender der DNVP, war einer der ersten, die von dieser Absicht des Reichspräsidenten erfuhren. Zu Beginn des Jahres 1930 wurde Hindenburg deutlicher. Am 6. Januar erkundigte er sich bei Hugenberg und am 15. Januar bei Westarp, ob die Deutschnationalen direkt oder indirekt ein vom Reichspräsidenten zu bildendes Kabinett ohne die Sozialdemokraten unterstützen würden, wenn es wegen der Finanzreform zu einer Regierungskrise kommen sollte. Der Parteivorsitzende der DNVP äußerte sich ablehnend, der zurückgetretene Fraktionsvorsitzende zustimmend.
Was das Regierungslager um diese Zeit noch zusammenhielt, war das gemeinsame Interesse aller beteiligten Parteien an der Verabschiedung der Young-Gesetze. Am 20. Januar 1930 wurde der Young-Plan, nachdem die Details monatelang in Unterausschüssen der Expertenkonferenz beraten worden waren, in Den Haag verabschiedet. Für Deutschland war am wichtigsten, daß das Zahlungsschema und die Zahlungssumme so blieben, wie es die Sachverständigen im Juni 1929 vorgeschlagen hatten. Am 28. Januar begann das letzte Kapitel in der Geschichte der Großen Koalition: Auf Vorschlag Heinrich Brünings, der im Dezember zum Vorsitzenden der Reichstagsfraktion gewählt worden war, beschloß das Zentrum, seine Zustimmung zum Young-Plan von einer Einigung auf die Finanzreform abhängig zu machen. Brünings Junktim war weder eine Absage an die Große Koalition noch an das neue Reparationsabkommen. Es war der Versuch, die außenpolitische Klammer des Regierungsbündnisses zum Hebel für die Sanierung der Reichsfinanzen zu machen.
Bei der SPD gab es einige Abgeordnete, die ein Gegenjunktim forderten: eine Finanzreform mit sozialdemokratischer Handschrift als Bedingung für die Zustimmung zu den Young-Gesetzen. Die große Mehrheit aber lehnte eine solche Verknüpfung von Innen- und Außenpolitik ab und schwächte so ungewollt die Verhandlungsposition der größten Regierungspartei. Auf dem rechten Flügel der Koalition weigerte sich die DVP, bei der Arbeitslosenversicherung weitere Zugeständnisse zu machen, die direkten Steuern zu erhöhen und ein (auch vom Reichspräsidenten befürwortetes) Notopfer der Beamten und anderer Festbesoldeter einzuführen. Am 5. März aber kam es, für die Beteiligten überraschend, im Kabinett doch noch zu einer Verständigung über die Deckungsvorschläge für den Reichshaushalt 1930. Finanzminister Moldenhauer von der DVP stimmte der von der SPD geforderten direkten Besitzsteuer in Gestalt einer Erhöhung der «Industriebelastung» (die nach dem Inkrafttreten der Young-Gesetze eigentlich wegfallen sollte) von 300 auf 350 Millionen RM zu. Außerdem sollte die Reichsanstalt autonom die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 3,5 auf 4 Prozent erhöhen können. Die Minister der SPD konzedierten dafür ihrerseits, daß es 1931 keine Rückerstattung der Lohnsteuer geben sollte.
Die Einigung im Kabinett war ein Triumph der Gemäßigten aller Lager, aber sie war auf Sand gebaut. Am 6. März lehnte die Reichstagsfraktion der DVP, unterstützt von der Vereinigung der Arbeitgeberverbände und vom Reichsverband der Deutschen Industrie, den Regierungskompromiß in wesentlichen Punkten ab. Die Bayerische Volkspartei, die im Kabinett Müller den Postminister stellte, erteilte der vorgesehenen Erhöhung der Biersteuer eine Absage. Am 10. und 11. März schaltete sich erneut der Reichspräsident ein: In Gesprächen mit Brüning und Müller erklärte er seine Bereitschaft, der Regierung die Vollmachten des Artikels 48 der Reichsverfassung zu gewähren. Damit schien der Zweck von Brünings Junktim, die Verbindung von Reparationsregelung und Finanzreform, erfüllt. Am 12. März wurden die Young-Gesetze in dritter Lesung mit 256 gegen 192 Stimmen bei 3 Enthaltungen angenommen. Unter den Ja-Stimmen waren die fast aller Abgeordneten des Zentrums.
Doch was immer Hindenburg mit seinen Zusagen an Brüning und Müller im Sinn gehabt haben mochte, sein engster Beraterkreis, die vielzitierte «Kamarilla», war entschlossen, die neue Situation, wie sie mit der Verabschiedung der Young-Gesetze entstanden war, für eine entschiedene Kursänderung nach rechts, also weg vom parlamentarischen und hin zum Präsidialsystem, zu nutzen. Bereits am 18. März erfuhren schwerindustrielle Kreise in der DVP, daß sich der Reichspräsident, wohl auf Drängen von Groener und Schleicher, entschieden habe, dem Kabinett Müller den Rückgriff auf den Notverordnungsartikel 48 nicht zu gestatten. Am 19. März forderte Hindenburg in geradezu befehlendem Ton Hilfsmaßnahmen für die ostdeutsche Landwirtschaft. Sein Staatssekretär Meissner kommentierte diesen Schwenk gegenüber General von Schleicher mit den Worten: «Das ist die erste Etappe zu Ihrer Lösung! Das ist auch die Unterlage zum besten, was wir haben können, zum Führertum ‹Hindenburg›.»
Da sie über die Absichten des Reichspräsidenten informiert war, konnte es sich die Deutsche Volkspartei auf ihrem Parteitag in Mannheim am 21. und 22. März leisten, den Sozialdemokraten gegenüber gemäßigte Töne anzuschlagen. Brüning bemühte sich am 26. und 27. März nochmals um einen Kompromiß, der darauf hinauslief, den Streit um die Reform der Arbeitslosenversicherung in der Hauptsache zu vertagen: Die Reichsanstalt sollte Sparmaßnahmen einleiten, die Reichsregierung aber erst später entscheiden, ob sie auf dem Gesetzesweg entweder die Beiträge erhöhen oder die Leistungen senken oder zwecks Finanzierung von Reichsdarlehen die indirekten Steuern erhöhen wollte.
Der Vorschlag, der den Kabinettsbeschluß vom 5. März zu Lasten der Arbeitslosen abschwächte, fand am 27. März die Zustimmung der Mehrheit der Abgeordneten der DVP. In der Sitzung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion aber sprachen sich vor allem Gewerkschaftsvertreter und Arbeitsminister Wissell gegen den «Brüning-Kompromiß» aus. Reichskanzler Müller und die anderen Kabinettsmitglieder der SPD gehörten zu der kleinen Minderheit, die für den Vorschlag des Zentrums eintrat. Das Kabinett konnte anschließend nur noch sein Scheitern zu Protokoll nehmen und dem Reichspräsidenten seinen Rücktritt mitteilen.
Der 27. März 1930 bildet eine der tiefsten Zäsuren in der Geschichte der Weimarer Republik. Im Rückblick gibt es keinen Zweifel, daß an diesem Tag die Zeit relativer Stabilität definitiv zu Ende ging und die Auflösungsphase der ersten deutschen Republik begann. Aber auch schon Zeitgenossen waren sich der Bedeutung des Einschnitts bewußt. Die «Frankfurter Zeitung» sprach am 28. März von einem «schwarzen Tag …, doppelt unheilvoll, weil der Gegenstand des Streits mit seiner Kleinheit in einem grotesken Mißverhältnis zu den verhängnisvollen Folgen steht, die daraus erwachsen können.» Auch aus den Reihen der Sozialdemokratie, die mit ihrem Beschluß das Ende der Regierung Müller besiegelt hatte, wurde bald Kritik laut. Im Maiheft der von ihm herausgegebenen theoretischen Zeitschrift «Die Gesellschaft» legte Rudolf Hilferding dar, warum er dem Argument der Parteimehrheit nicht folgen konnte, nach der Zustimmung zu Brünings Vorschlägen wäre ein Leistungsabbau im Herbst 1930 nicht mehr zu verhindern gewesen. «Gerade vom Standpunkt der Sicherung der Arbeitslosenversicherung erscheint der Rücktritt aus der Regierung zumindest als kein Gewinn. Die Befürchtung, im Herbst wäre es doch zu einer Verschlechterung gekommen, erscheint für einen so schwerwiegenden Schritt nicht ausreichend; es ist nicht gut, aus Furcht vor dem Tode Selbstmord zu verüben.»
Die Machtverlagerung vom Parlament auf den Präsidenten war schon am 27. März vorhersehbar. Die parlamentarische und die außerparlamentarische Rechte hatte diese Entwicklung gewollt, und das vor allem deshalb, weil ihr anders eine Überwindung des Sozialstaats von Weimar nicht möglich erschien. Um dieses Nahziel ging es den Wegbereitern der präsidialen Wendung, und nicht nur um die Abwehr einer geringfügigen Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Die Rechte trug mithin den größten Teil der Verantwortung für das, was auf den Sturz der Regierung Müller folgte.
Die gemäßigte Linke nahm die Abkehr von der parlamentarischen Demokratie billigend in Kauf und konnte sich daher von einer Mitverantwortung für den Übergang zum Präsidialsystem nicht freisprechen. Die Sozialdemokraten hätten den Zerfall der Großen Koalition Ende März 1930 verhindern können – freilich nur um den Preis einer Parteikrise und wohl auch nur auf kurze Zeit, denn länger als bis zum Herbst 1930 hätte das Regierungsbündnis, nachdem sein wichtigstes Ziel, die Verabschiedung der Young-Gesetze, erreicht war, schwerlich zusammengehalten. Dennoch wäre es richtig gewesen, wenn die SPD die Brücke betreten hätte, die Brüning schlug. Denn es war ein bitterer Vorwurf, den sich die Sozialdemokratie nun selber machen mußte: Sie hatte im entscheidenden Augenblick nicht alles getan, was in ihren Kräften stand, um die parlamentarische Demokratie zu bewahren und einen Rückfall in den Obrigkeitsstaat zu verhindern.[25]
Sozialismus in einem
Lande:
Die Sowjetunion unter Stalin 1924–1933
Während die kapitalistischen Länder des Westens seit 1929 in den Sog einer weltweiten Wirtschaftskrise gerieten, widmete sich die Sowjetunion dem, was Stalin den «Aufbau des Sozialismus in einem Lande» nannte. «Es besteht kein Zweifel, daß unsere Aufgabe von Grund aus erleichtert würde, wenn uns der Sieg des Sozialismus im Westen zu Hilfe käme», erklärte der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Rußlands am 9. Juni 1925 in der Moskauer Swerdlow-Universität. «Aber erstens wird der Sieg des Sozialismus nicht so schnell ‹zustande gebracht›, wie wir das wünschen, und zweitens lassen sich die Schwierigkeiten überwinden, und wir überwinden sie bekanntlich schon.»
Unter irreführender Berufung auf Lenin behauptete er, daß schon dieser 1915, während des imperialistischen Krieges, auf «die Frage des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande» eine grundsätzlich bejahende Antwort gegeben habe. Tatsächlich hatte Lenin in seinem Aufsatz «Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa» den «Sieg des Sozialismus zunächst in wenigen kapitalistischen Ländern oder sogar in einem einzeln genommenen Lande» nur dann für möglich erklärt, wenn es diesem gelingen würde, die unterdrückten Klassen der anderen Länder auf seine Seite zu ziehen und bei ihnen «den Aufstand gegen die Kapitalisten (zu) entfachen und im Notfall sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten» vorzugehen.
Lenin hatte sich 1922 mit Stalin überworfen, ihn als «zu grob» charakterisiert und in einem Zusatz zu seinem Testament vom 4. Januar 1923 der Partei seine Abberufung als Generalsekretär vorgeschlagen. Der Mann, ohne den es die russische Oktoberrevolution von 1917 und die Sowjetunion nicht gegeben hätte, war kein «Liberaler» geworden, als er seine Partei aufforderte, nach seinem, Lenins, Tod, Stalin durch einen Mann zu ersetzen, der «geduldiger, loyaler, höflicher, aufmerksamer gegen die Genossen und weniger launisch» sei als der amtierende Generalsekretär. Der Staat der Bolschewiki war schon zu Lenins Lebzeiten und durch niemanden mehr als durch ihn selbst zu einer Parteidiktatur geworden, in der innerparteiliche Opposition gegen die Mehrheit des Politbüros nur noch in gewissen Grenzen möglich war. Aber das kommunistische Regime war noch nicht das, was Lenin mit seiner Warnung vor Stalin verhindern wollte: die Herrschaft eines Mannes, ausgeübt durch einen ihm blind ergebenen Funktionärskörper im Partei- und Sicherheitsapparat – eines Mannes, der alle Andersdenkenden mit letzter, das heißt im Zweifelsfall tödlicher Konsequenz verfolgte.
Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin («der Stählerne»), 1879 als Sohn eines vormals leibeigenen Flickschusters im georgischen Gori geboren, war 1898 in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands eingetreten und im Jahr darauf wegen seiner politischen Aktivitäten, vor allem als Organisator von Streiks, aus dem Priesterseminar, an dem er ausgebildet wurde, ausgeschlossen worden. Seit 1904 hatte er sich, aus der sibirischen Verbannung entflohen, als Gefolgsmann der Bolschewiki im revolutionären Untergrund des Kaukasus betätigt, was politische Morde, Entführungen, Gefangenenbefreiungen, Schutzgelderpressung, Waffen- und Bankraub sowie Überfälle auf Geldtransporte zum Wohl der Parteifinanzen einschloß. Nach dem Sieg der Bolschewiki wurde er Volkskommissar für die Arbeiter- und Bauerninspektion, im Bürgerkrieg politischer Kommissar bei der Roten Armee. Für seine spätere Machtbasis war wichtig, daß er seit 1919 sowohl dem Polit- als auch dem Organisationsbüro der Kommunistischen Partei Rußlands angehörte und 1922 zum ersten Generalsekretär der Partei bestellt wurde. Was die marxistische Theorie anging, waren ihm die anderen führenden Bolschewiki, Lenin, Trotzki, Sinowjew, Kamenew und Bucharin, weit überlegen. Stalins Stärke lag, von seinem organisatorischen Talent abgesehen, in der instinktiven Fähigkeit, die Schwächen seiner Rivalen zu erkennen und Bündnisse zu schmieden, die seine Machtposition festigten.
Schon bevor Lenin am 21. Januar 1924 starb, hatte sich ein solches Bündnis, die Troika Stalin-Sinowjew-Kamenew, herausgeformt. Sie richtete sich gegen Trotzki, den einzigen unter den maßgeblichen Bolschewiki, der Lenin intellektuell ebenbürtig war. Trotzki, dem Schöpfer der Roten Armee und seit März 1918 Kriegskommissar, unterstellten nicht nur die Mitglieder des Triumvirats «bonapartistische» Neigungen, also das Streben nach einer auf das Militär gestützten persönlichen Diktatur. Außerdem verübelten ihm die Bolschewiki der ersten Stunde, daß er sich erst spät, im Juli 1918, der Partei und der Sache Lenins angeschlossen hatte. Als im Mai 1924, vier Monate nach dem Tod des Parteiführers, in einer Plenarsitzung des Zentralkomitees Lenins Testament mitsamt dem späteren, Stalin betreffenden Zusatz verlesen wurde, war es Sinowjew, der Stalin rettete: In bezug auf die Person des Generalsekretärs, erklärte er, hätten sich Lenins Befürchtungen nicht erfüllt. Auf das Drängen von Sinowjew und Kamenew blieb Stalin in seinem Amt – und Lenins Testament ein geheimes Parteidokument.
Mit der Bestätigung als Generalsekretär hatte Stalin das wesentliche Ziel bereits erreicht, das er mit dem Dreierpakt verfolgte. Als er seit dem Herbst 1924 begann, die Partei auf die Linie des «Aufbaus des Sozialismus in einem Lande» einzuschwören, richtete sich der Stoß nicht nur gegen Trotzki, den Hauptvertreter der «Revolution in Permanenz», sondern indirekt auch gegen Sinowjew, den Generalsekretär der Kommunistischen Internationale und Parteisekretär von Leningrad, bisher Petrograd und vorher Sankt Petersburg, und Kamenew, den ersten Mann der Moskauer Parteiorganisation. Beide hatten 1923, ebenso wie Trotzki, aktiv auf den «deutschen Oktober» hingearbeitet und waren durch den völligen Fehlschlag dieses kommunistischen Umsturzversuchs politisch geschwächt – wenn auch nicht in gleichem Maß wie Karl Radek, der Deutschlandexperte der Komintern, der ein Anhänger Trotzkis war. Im Januar 1925 mußte der letztere die Verurteilung seiner Thesen von der «permanenten Revolution» durch das Zentralkomitee hinnehmen und sein Amt als Kriegskommissar aufgeben. Er blieb aber noch, nachdem Stalin einen Antrag Sinowjews auf Ausschluß Trotzkis aus der Partei abgewehrt hatte, Mitglied des Politbüros.
Sinowjew und Kamenew galten als Vertreter der «Linken», der auf die Weltrevolution drängenden Kräfte. «Rechts» standen Nikolai Bucharin, der Chefredakteur der «Prawda» und Hauptprotagonist der von Lenin 1921 eingeleiteten «Neuen Ökonomischen Politik» (NEP), Alexei I. Rykow, der Vorsitzende des Rates der Volksbeauftragten, und Michail Tomski, der Führer der Gewerkschaften. Die drei «Rechten» im siebenköpfigen Politbüro verlangten in Reaktion auf einen Bauernaufstand in Georgien im Sommer 1924 eine entschieden bauernfreundliche Politik; Bucharin ging kurz vor der 14. Parteikonferenz Ende April 1925 soweit, die Bauern (in Anlehnung an eine dem französischen Liberalen François Guizot zugeschriebene Parole) aufzufordern: «Bereichert euch, entwickelt eure Bauernhöfe, fürchtet nicht, daß man einschränkende Maßnahmen gegen euch ergreifen wird». Stalin mißbilligte zwar diesen Appell, stimmte aber auf der Parteikonferenz für eine Senkung der Landwirtschaftssteuern und andere von den «Rechten» geforderte Maßnahmen zugunsten der Bauern.
Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1925 begannen Sinowjew und Kamenew, sich der Gefahr bewußt zu werden, die ihnen von Stalins strategischer Wende drohte, und gegen die «rechte» Revision der Landwirtschaftspolitik offen Front zu machen. Damit übernahmen sie die Rolle der Opposition gegen das neue, nun entstehende informelle Bündnis zwischen Stalin auf der einen, Bucharin, Rykow und Tomski auf der anderen Seite. Auf dem 14. Parteitag vom Dezember 1925, auf dem sich die Kommunistische Partei Rußlands in Kommunistische Partei der Sowjetunion umbenannte, wurde die Doktrin vom «Aufbau des Sozialismus in einem Lande» ebenso gebilligt wie die neue Landwirtschaftspolitik. Unmittelbar darauf begann die neue Führung, die Leningrader Parteiorganisation von Anhängern Sinowjews zu säubern. Eine maßgebende Rolle spielte dabei der erst neununddreißig-jährige Funktionär Sergej M. Kirow, der wenig später Sinowjews Nachfolge als Parteisekretär von Leningrad antreten sollte. Im Januar 1926 legte Stalin sein Buch «Probleme des Leninismus» vor, in dem er Sinowjew und Kamenew massiv angriff, Trotzki aber unerwähnt ließ.
Die Parole vom «Aufbau des Sozialismus in einem Lande» war innenpolitisch populär. Sie appellierte an ein Gefühl, das man später «Sowjetpatriotismus» nannte: den Stolz darauf, daß die Sowjetunion das einzige Land war, in dem die «rote» Revolution gesiegt und sich gegenüber einer Welt von Feinden behauptet hatte. Außenpolitisch führte die neue, von den «Rechten» bestimmte Linie zu einer Reihe von taktischen Bündnissen mit reformistischen Gewerkschaften und Arbeiterparteien. Der früheste Fall war die Gründung des Ständigen englisch-russischen Gewerkschaftskomitees im April 1925, ein weiterer das Zusammengehen von KPD und SPD beim Volksbegehren und Volksentscheid zur Fürstenenteignung im Jahr darauf. Beide Spielarten von proletarischer «Aktionseinheit» verfehlten ihr Ziel, aber das half den «Linken» in der KPdSU nicht in ihrem Kampf gegen die «Rechte».
Sinowjew und Kamenew begingen im Frühjahr 1926 den schweren Fehler, sich mit Trotzki zu verbünden, was ihren Machtverlust beschleunigte. Im Oktober 1926 wurde Trotzki aus dem Politbüro entfernt und Sinowjew als Generalsekretär der Komintern durch Bucharin abgelöst. Ein Jahr später, im November 1927, erfolgte der Parteiausschluß der beiden, wenig später, auf dem 15. Parteitag der KPdSU im Dezember, auch der von Kamenew. Daraufhin spaltete sich die Opposition: Sinowjew und Kamenew widerriefen ihre Ansichten, was ihnen 1928 die Wiederaufnahme in die KPdSU ermöglichte. Trotzki verweigerte jede Selbstverteidigung und mußte im Dezember 1927 in die Verbannung nach Alma Ata in Kasachstan gehen. Im Januar 1929 wurde er aus der Sowjetunion ausgewiesen. Es begann ein elfjähriges Exil, das mit seiner Ermordung durch einen Agenten der sowjetischen Geheimpolizei am 21. August 1940 in Mexiko endete.
Im Jahr 1927 erlitt Stalins Außenpolitik zwei schwere Rückschläge. Im Mai brach Großbritannien, nachdem eine Durchsuchung der sowjetischen Handelsvertretung belastendes Agitations- und Propagandamaterial zutage gefördert hatte, die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion ab. (Sie wurden erst 1929 unter der neuen Labourregierung wieder aufgenommen.) Einen katastrophalen Verlauf nahm die sowjetische Chinapolitik, für die Stalin seit 1924 die Hauptverantwortung trug. Die Bolschewiki hatten die 1921 gegründete Kommunistische Partei Chinas seit 1923 angehalten, nur in enger Zusammenarbeit mit der nationalistischen Kuomintang unter Sun Yatsen, ja als Teil derselben in dem seit 1916 ausgefochtenen Bürgerkrieg tätig zu werden. Nach dem Tod Sun Yatsens im März 1925 stieg General Tschiang Kaischek zum starken Mann dieser Partei auf. 1926 begann er mit der systematischen Ausschaltung und Verfolgung der Kommunisten.
Der blutige Höhepunkt war das Massaker von Shanghai im April 1927. Shanghai war erst im März nach einem kommunistischen Aufstand gegen den örtlichen Militärbefehlshaber von Truppen der Kuomintang eingenommen worden. Tschiang Kaischek aber ließ unmittelbar nach seinem Einzug in die Stadt die Kommunisten in Shanghai und Nanking, soweit sie nicht hatten fliehen können, hinrichten, einen weiteren Arbeiteraufstand blutig niederwerfen, in Nanking eine Gegenregierung zur «linken» Kuomintang-Regierung in Wuhan, dem früheren Hankau, bilden und die Beziehungen zur Sowjetunion abbrechen.
Die Kommunisten antworteten, von der Komintern und Stalin dazu gedrängt, mit einer Reihe von putschistischen Aktionen. Die letzte dieser Unternehmungen war ein Arbeiteraufstand in Kanton, der im Dezember 1927 ähnlich blutig niedergeworfen wurde wie der in Shanghai. Das Scheitern der Kommunistischen Partei Chinas war auch Stalins persönlicher Mißerfolg. Der junge Mao Tse-tung, ein Bauernsohn und gelernter Bibliothekar, der wie alle frühen chinesischen Kommunisten stark von der antiimperialistischen Bewegung des «4. Mai» 1919 beeinflußt war, zog aus dem Debakel seine Lehren. Er war bereits 1925 zu der Einsicht gelangt, daß die Kommunisten nur durch eine Revolutionierung der Bauern die Macht in China erobern konnten. Noch 1927 drängte er die KP zur Aufstellung eigener Streitkräfte und begann, erst im Jingjang-Gebirge, dann, nach der Vertreibung von dort, an der Grenze zwischen den Provinzen Jiangxi und Fujian in Südwestchina eine kommunistische Ordnung zu errichten. Im November 1931 wurde in dieser Region der erste kommunistische Staat Chinas, die «Sowjetrepublik Jiangxi», mit Mao als Staatschef ausgerufen.
Mit der Ausbootung der «Linken» hatte Stalins Bündnis mit der «Rechten» seinen Zweck erfüllt. Bereits um die Jahreswende 1927/28 zeichnete sich beim Generalsekretär der KPdSU eine Linksschwenkung ab. Zu den auslösenden Momenten der Kursänderung gehörte vor allem die Tatsache, daß die Ernteerträge vom Sommer 1927 beträchtlich hinter den überhöhten Erwartungen zurückblieben: Das Getreideangebot auf dem sowjetischen Binnenmarkt war um ein Viertel niedriger als im Vorjahr. Die meisten Kleinbauern produzierten ohnehin nur für den eigenen Bedarf, die Großbauern, die Kulaken, aber verlangten, ihre Marktmacht voll ausschöpfend, für ihre Erzeugnisse Preise, die für die Masse der Bevölkerung nicht erschwinglich waren. Das Zentralkomitee der KPdSU beschloß infolgedessen im Dezember 1927, «außergewöhnliche», wenn auch nur zeitweilige Maßnahmen gegen die Kulaken, um so die Engpässe in der Versorgung zu überwinden.
Mitte Februar 1928 gab Stalin in einem Brief an die KPdSU bekannt, die Kulaken würden nunmehr unter verschärften Druck gesetzt, damit mehr Getreide in die Städte gelange. Die Hortung von landwirtschaftlichen Produkten durch die Bauern wurde von Stalin nicht nur behauptet, sie fand tatsächlich statt. In der Sache bedeutete Stalins Brief eine radikale Abkehr von jener Bereicherung des Dorfes, die Bucharin ausdrücklich propagiert und die «Linke» scharf kritisiert hatte. Stalin war offensichtlich entschlossen, mit Bucharin, Rykow und Tomski zu brechen. Sein persönliches Motiv, die Steigerung der eigenen Macht, und der sachliche Grund, die Angst vor einer Hungersnot, waren bei der dramatischen Kursschwenkung von Anfang 1928 kaum voneinander zu trennen.
Praktische Maßnahmen, mit deren Hilfe Lebensmittel aus den Höfen der Kulaken herausgepreßt werden sollten, beschloß das Plenum des Zentralkomitees und der Zentralen Kontrollkommission der KPdSU Anfang April 1928. Kurz darauf gab Stalin vor dem ZK zu erkennen, daß es ihm um sehr viel mehr ging als nur um die Behebung einer akuten Versorgungskrise, nämlich um die rasche Kollektivierung der Landwirtschaft. Im Mai folgte eine weitere Ankündigung Stalins: Das Tempo der Industrialisierung sollte forciert, vor allem die Entwicklung der Schwerindustrie beschleunigt werden. Das Geld für die nötigen Investitionen konnte mangels anderer Quellen nur von den Kulaken kommen. Für die «rechten» Bolschewiki war nun kein Zweifel mehr möglich: Die Tage der 1921 von Lenin eingeleiteten Neuen Ökonomischen Politik, der kalkulierten Schonung des privaten Eigentums, waren, wenn Stalin sich durchsetzte, gezählt – und mit der NEP ihre eigenen Tage als Teilhaber der politischen Macht.
Die Wendung gegen die «Rechten» der KPdSU verlangte eine flankierende Absicherung im internationalen Maßstab. Auf dem 9. Plenum des Erweiterten Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) im Februar 1928 wurden die entsprechenden Parolen ausgegeben: Die Sozialdemokraten und die reformistischen Gewerkschaften waren fortan als die Hauptgegner der Kommunisten zu behandeln. Der Sechste Weltkongreß der Komintern, der vom 17. Juli bis 1. September 1928 in Moskau stattfand, diente ganz der internationalen Durchsetzung des neuen linken, von Kritikern bald «ultralinks» genannten Kurses.
Es war eine Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet der «rechte» Bucharin als Generalsekretär der Kommunistischen Internationale die radikale Wendung nach links theoretisch untermauern mußte. Bucharin zufolge hatte weltweit eine neue historische Periode in der Nachkriegsentwicklung begonnen. Auf die Periode der akuten revolutionären Krise vom Frühjahr 1917 bis zum Herbst 1923 war eine Periode der teilweisen Stabilisierung des kapitalistischen Systems gefolgt, die jetzt abgeschlossen war. Die dritte Periode war die der kapitalistischen Rekonstruktion, in der die Produktivkräfte über den Vorkriegsrahmen hinauswuchsen, aber auch die dem Kapitalismus entgegenstehenden Kräfte anwuchsen.
Bucharin nannte in diesem Zusammenhang die großen wirtschaftlichen Fortschritte in der Sowjetunion, die Entwicklung der chinesischen Revolution und die Gärungen in Indien. Die Widersprüche des Kapitalismus entwickelten sich in der schärfsten Form und gleichzeitig würde die Kriegsgefahr immer stärker. Darauf müsse sich die Komintern einstellen. «Und wenn die Stunde nahen wird, da die Kriegsfahnen des Imperialismus sich erheben, wird unsere Kommunistische Internationale, werden alle unsere Parteien und die ungezählten Massen der Werktätigen der ganzen Welt ihr gewichtiges Wort sprechen. Dieses Wort wird die Losung des Bürgerkrieges sein, die Losung des Kampfes gegen den Imperialismus auf Leben und Tod, ein Siegesruf der Kommunistischen Internationale.»
Die Beschlüsse des Sechsten Weltkongresses lagen ganz auf der von Stalin gewünschten Linie. In einer Resolution über die internationale Lage und die Aufgabe der Kommunistischen Internationale hieß es, die Spitzen des Staates und der Unternehmerverbände befänden sich in einem «Prozeß des Verwachsens» mit den Spitzen der sozialdemokratisch geführten Arbeiterorganisationen. «Dieser Prozeß der Verbürgerlichung der Spitzen der Arbeiterbürokratie wird von der Sozialdemokratie bewußt unterstützt und gefördert … Die Sozialdemokratie hat während der ganzen verflossenen Periode als bürgerliche ‹Arbeiterpartei› die Rolle der letzten Reserve der Bourgeoisie gespielt … Die Ideologie der Klassenzusammenarbeit, die die offizielle Ideologie der Sozialdemokratie ist, hat viele Berührungspunkte mit der Ideologie des Faschismus. Keime der faschistischen Methoden, die gegen die revolutionäre Arbeiterbewegung angewendet werden, finden sich in der Praxis vieler sozialdemokratischer Parteien, sowie auch in der Praxis der reformistischen Gewerkschaftsbürokratie.»
Die These von der ideologischen Nähe von Faschismus und Sozialdemokratie war nicht neu. Schon im Januar 1924 hatte Sinowjew die Sozialdemokratie einen «faschistischen Flügel» genannt; Stalin war im September 1924 mit der Behauptung gefolgt, Sozialdemokratie und Faschismus seien «keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder». Im Sommer 1928 gab es für Stalin neben dem Flügelkampf in der KPdSU auch noch einen außenpolitischen Grund für eine Kampfansage an die Reformisten. Mit der Bildung der Großen Koalition unter Hermann Müller in Berlin war die westlichste und am stärksten profranzösische deutsche Partei an die Regierung gelangt: die SPD. Jedes Zusammengehen Deutschlands und Frankreichs sah Stalin als gefährlich an, weil Frankreich aus seiner Sicht noch immer die antibolschewistische Macht schlechthin war. Auf Großbritannien konnte Moskau auch keine Hoffnungen mehr setzen, seit Gewerkschaften und Labour Party nach dem Scheitern des Generalstreiks vom Mai 1926 deutlich nach «rechts» gerückt waren. Wenn der Sechste Weltkongreß der Kommunistischen Internationale die Gefahr eines «imperialistischen Krieges» gegen die Sowjetunion beschwor, war das allerdings kein Ausdruck einer ernsthaften Analyse der internationalen Situation, sondern ergab sich aus einem strategischen Kalkül: Die kommunistischen Parteien in aller Welt mußten auf ein Feindbild eingeschworen werden, das dem Kampf gegen die «Rechte» in der Führungspartei der Komintern entsprach.
Die kommunistische Partei, auf die es dabei vor allem ankam, war die deutsche. Sie war die mitglieder- und wählerstärkste aller Mitgliedsparteien der Komintern außerhalb der Sowjetunion. In den Jahren nach 1924 hatten sich die kommunistischen Parteien «bolschewisieren», das heißt ideologisch, politisch und organisatorisch am Vorbild der KPdSU ausrichten müssen. Dazu gehörte der Ausbau von illegalen Zersetzungs- und Militärapparaten, die im Untergrund zu arbeiten hatten und zentral von Moskau aus gesteuert wurden. Mit den praktischen Ergebnissen der «Bolschewisierung» war das EKKI aber selten zufrieden, auch im Fall der KPD nicht. Erst mußten «rechte», nach dem Bruch zwischen Stalin und der Gruppe Sinowjew-Kamenew dann «linke» und im Zeichen der ultralinken Wende in der Sowjetunion schließlich wieder «rechte» Abweichungen von der Generallinie bekämpft werden. Im Oktober 1928 erzwang Stalin die Wiedereinsetzung von Ernst Thälmann, der wegen der Verwicklung in eine innerparteiliche Unterschlagungsaffäre kurz zuvor vom ZK der KPD abgesetzt worden war, in das (seit 1925 ausgeübte) Amt des Parteivorsitzenden. Unter Thälmanns Führung schritt die Stalinisierung der KPD weiter voran: Seit 1929 führte keine kommunistische Partei den Kampf gegen den «Sozialfaschismus», das heißt die Sozialdemokratie, so verbissen und haßerfüllt wie die deutsche.
Dem Mann an der Spitze der Kommunistischen Internationale half das Einlenken auf die neue ultralinke Generallinie nicht mehr lange: Bucharin beging den doppelten Fehler, sich mit dem «linken» Kamenew gegen Stalin zu verbünden und den Generalsekretär der KPdSU in verdeckter Form öffentlich zu kritisieren, womit er ungewollt die eigene Entmachtung vorantrieb. Im Juli 1929 wurde er als Generalsekretär des EKKI von Dimitri Manuilski, einem Stalin bedingungslos ergebenen Funktionär, abgelöst. Kurz zuvor bereits hatte einer der wichtigsten beiden Kampfgefährten Bucharins sein Amt verloren: Anfang Juni trat N. M. Schwernik die Nachfolge Tomskis als Vorsitzender des sowjetischen Gewerkschaftsbundes an. Als letzter der rechten «Troika» mußte Rykow weichen: Im Januar 1930 übernahm an seiner Stelle Wjatscheslaw Molotow den Vorsitz im Rat der Volkskommissare. Bucharin und Tomski wurden im November 1929 aus dem Politbüro ausgeschlossen, Rykow Ende 1930. Rykow und Tomski gestanden auf dem 16. Parteitag im Sommer 1930 ihre «Irrtümer» ein, Bucharin übte auf der 17. Parteikonferenz im Februar 1932 «Selbstkritik». Eine Gefahr für Stalin ging von ihnen, fürs erste jedenfalls, nicht mehr aus.
Ende 1929 schien Stalins Machtposition völlig unangefochten. Seine Rivalen hatte er einen nach dem anderen entmachtet. Am 21. Dezember 1929 ließ er seinen 50. Geburtstag in einer Weise feiern, die diesen Tag zu einem frühen Höhepunkt des «Personenkults» machte. Überall in der Sowjetunion wurde Stalin als «woshd», als «Führer», als der «Lenin unserer Tage» gewürdigt. Auf den öffentlichen Plätzen sah man seine Statuen, in öffentlichen Sälen seine Büsten; große Plakate zeigten in allen Städten und vielen Dörfern sein Bild – gleichrangig neben dem Lenins, der nach seinem Tod zu der großen Kultfigur des Sowjetstaates aufgestiegen war. Der Bruch mit den «Rechten» hatte Stalins Position im Politbüro weiter gefestigt. Er konnte sich nunmehr verstärkt seinem großen Ziel widmen: der Überwindung der Neuen Ökonomischen Politik durch eine zweite Revolution, die die erste, die Leninsche, an Radikalität noch übertreffen sollte.
Die Vorgaben der großen Transformation waren im Ersten Fünfjahresplan zusammengefaßt. Nach dem Entwurf, den die Staatliche Plankommission auf der Grundlage des entsprechenden Beschlusses des 15. Parteitags vom Dezember 1927 im März 1929 vorlegte, sollte die industrielle Bruttoproduktion innerhalb von fünf Jahren um mindestens 135 Prozent, bei besonders günstigen Voraussetzungen, etwa fünf guten Erntejahren, sogar um 180 Prozent gesteigert werden. Die politische Führung beschloß jedoch, die optimistische Variante zur verbindlichen Zielgröße des Industrialisierungsprogramms zu erheben, und in dieser Form wurde der Erste Fünfjahresplan im Mai 1929 vom Fünften Sowjetkongreß beschlossen. Im Sommer 1929 folgte die Ankündigung, das Gesamtprojekt bereits innerhalb von vier Jahren zu verwirklichen. Gleichzeitig wurden in einzelnen Zweigen der Schwerindustrie die Sollziffern nochmals angehoben, wodurch sich der Schwerpunkt der Industriepolitik weiter von den Konsumgütern zu den Investitionsgütern verschob. Als die unterstellten günstigen Voraussetzungen auf dem Agrarmarkt nicht eintraten, wurde der Plan nicht etwa revidiert, sondern der Druck auf die Produzenten erhöht: Die Steigerung der Repression erschien den Beteiligten als Unterpfand der Planerfüllung.
Auf dem Plenum des Zentralkomitees im Juli 1928 hatte Stalin seine neue Agrar- und Industriepolitik noch nicht gegen die Gruppe Bucharin-Tomski-Rykow durchsetzen können. Seit dem Winter 1928/29 nahm der Kampf gegen die Kulaken und für die Kollektivierung der Landwirtschaft eine neue Qualität an. Dem Widerstand der Großbauern, der sich immer wieder in lokalen Aufständen und Widersetzlichkeiten bis hin zur Ermordung von Regierungsbeauftragten äußerte, setzte der Staats-, Sicherheits- und Parteiapparat äußerste Härte entgegen. Die Behörden beschlagnahmten Getreide, die Bauern antworteten mit der Vernichtung von Getreide und der Verfütterung von Mehl an Schweine; an der mittleren Wolga kam es zu einer massenhaften Bauernerhebung.
Schon bevor im Sommer 1929 die Politik der staatlichen Getreideaufkäufe einsetzte, befanden sich große Teile der Sowjetunion in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand, der an den «Kriegskommunismus» der Jahre vor 1921 erinnerte. Am 27. Dezember 1929 gab Stalin dann das Signal zur «Offensive gegen das Kulakentum». Eine solche Offensive unternehmen heiße «das Kulakentum zerschlagen und als Klasse liquidieren … Eine Offensive gegen das Kulakentum unternehmen heißt sich sachgemäß vorbereiten und gegen das Kulakentum einen Schlag führen, und zwar einen Schlag, daß es sich nicht mehr aufrichten kann. Das nennen wir Bolschewiki eine wirkliche Offensive.»
Die Zahl der Kulaken oder Großbauern wird für die Zeit um 1929 auf 1,5 bis 2 Millionen geschätzt, die der Mittelbauern auf 15 bis 18 Millionen, die der Kleinbauern oder Muschiks, die mit dem Holzpflug arbeiteten, auf 5 bis 8 Millionen, die Gesamtzahl der russischen Bauern auf 25 bis 28 Millionen. Statistisch gesehen war die Kollektivierung ein voller Erfolg. Zwischen Oktober 1929 und Ende Januar 1930 wuchs der Anteil der kollektivierten Betriebe an der Gesamtzahl der Bauernwirtschaften von 4,1 auf 21 Prozent; bis zum 10. März 1930 stieg er auf 58 Prozent. Die Methoden, die bei der Vergesellschaftung der landwirtschaftlichen Betriebe angewandt wurden, waren brutal. «‹Kulakenfamilien› wurden enteignet und ausgesiedelt», schreibt Helmut Altrichter. «Die Bauern schlachteten ihr Vieh ab, bevor sie in die neugegründeten Kollektivwirtschaften (russisch: Kolchozy, davon deutsch: der Kolchos, die Kolchosen) eintraten. Welle um Welle überschwemmten Partei- und Sowjetfunktionäre, Miliz, Brigaden von städtischen Industriearbeitern und Gruppen des kommunistischen Jugendverbandes (Konsomol) die Dörfer, um die Kollektivierung voranzutreiben. Dorfversammlungen hatten entsprechende Beschlüsse zu verfassen, wer sich widersetzte, galt als ‹Kulak› oder ‹Kulakenknecht›. Ein Erfolgstaumel erfaßte die Aktivisten, und die Regierung tat nichts, um sie zu bremsen.»
Anfang März 1930 sah sich Stalin angesichts des unerwartet massiven Widerstands der Bauern dann doch genötigt, gewisse ungesetzliche Übertreibungen seiner Agenten scharf zu kritisieren und die Einstellung der Gewaltmaßnahmen gegenüber den «Muschiks» anzuordnen. Viele der neuen Kolchosen lösten sich daraufhin wieder auf; der Anteil der Kollektivbetriebe sank bis September 1930 von 58 auf 21 Prozent. Es kam zu neuen Massenerhebungen in der westlichen Ukraine, im zentralen Teil des Schwarzerdegebiets, im nördlichen Kaukasus und in Kasachstan. Die Folge war eine abermalige Verschärfung der Kollektivierungspolitik. Der Anteil der Kollektivbetriebe stieg nun wieder an: bis 1931 auf über die Hälfte, bis 1934 auf etwa drei Viertel aller Wirtschaften.
Die Frage, was aus den enteigneten Kulaken werden sollte, die mitsamt ihren Familienangehörigen 8 bis 10 Millionen Menschen ausmachten, hatte Stalin sich offenbar nie gestellt. Die GPU, die Geheimpolizei, teilte die Kulaken um die Jahreswende 1929/30 in drei Kategorien ein: erstens diejenigen, die in konterrevolutionäre Aktivitäten verwickelt waren und sofort verhaftet und in Arbeitslager deportiert, bei Widerstand aber auf der Stelle liquidiert werden sollten; zweitens die oppositionellen, aber nicht offen konterrevolutionären Kulaken, die zu verhaften und mitsamt ihren Familien in entlegene Gegenden Sibiriens zu deportieren waren; drittens die dem Regime gegenüber loyalen Kulaken, die außerhalb der kollektivierten Betriebe anzusiedeln und mit Meliorisationsarbeiten zu beschäftigen waren.
Bis zum Sommer 1930 hatte die GPU ein ausgedehntes Netz von Lagern, vor allem auf den Solowki-Inseln, an der Weißmeerküste von Karelien bis in die Gegend von Archangelsk aufgebaut. Mehr als 80.000 Häftlinge mußten als Sklavenarbeiter den Weißmeer-OstseeKanal («Stalinkanal») sowie Straßen und Eisenbahnlinien bauen, Torf stechen oder Holz fällen, weitere 15.000 Häftlinge des fernöstlichen Lagerverbandes die Eisenbahnlinie bis Bogutschatschinsk bauen. Der Lagerverband von Witschera mit 25.000 Lagerinsassen hatte die Aufgabe, das große Chemiekombinat von Beresniki im Uralgebiet zu errichten. In ersten Umrissen zeichnete sich bereits um 1930 das von Alexander Solschenizyn beschriebene Straflagersystem des «Archipel GULag» ab. Deportierte der zweiten Kategorie von Kulaken mußten sich, meist ohne Proviant und Werkzeug, in unbewohnten Gegenden Sibiriens, die der Bodenverbesserung bedurften, niederlassen. Die für sie vorgesehenen Wohnungen wurden in den seltensten Fällen gebaut. Wenn die zwangsweise umgesiedelten Bauern in die Nähe einer Großbaustelle transportiert wurden, bestand zumindest die Möglichkeit der Unterbringung in primitiven Baracken.
Zu Beginn des Jahres 1934 waren mehr als eine halbe Million Menschen, darunter auch Kinder, in sowjetischen Konzentrationslagern inhaftiert; bis 1935 stieg die Zahl auf fast 790.000. Dazu kamen knapp 280.000 Häftlinge in Arbeitserziehungslagern für Gefangene mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren und über 160.000 Gefängnisinsassen, die meisten von ihnen Bauern. Die Zahl der Menschen, die infolge von Deportationen im Zuge der Entkulakisierung zwischen 1930 und 1932 ihr Leben verloren, schätzt der französische Historiker Nicolas Werth auf 300.000.
Die Gesamtzahl der hingerichteten Kulaken ist unbekannt. Nach Angaben der GPU wurden 1930 allein von den sondergerichtlichen Instanzen der politischen Polizei 20.200 Menschen zum Tode verurteilt. Ein Geheimbericht vom 15. Februar 1930 kam auf 65.000 Liquidationen. Die Opfer waren freilich nicht nur Kulaken, sondern auch andere «sozial fremde Elemente» wie Polizisten des alten Regimes, «weiße Offiziere», Popen, Nonnen, Bauern mit Handwerksbetrieb, ehemalige Händler und Angehörige der «dörflichen Intelligenz». An der mittleren Wolga, in der Ukraine und im Kaukasus wurden rebellierende Bauern von Einheiten der Roten Armee mit Artillerie und Giftgas bekämpft. Mehrere zehntausend Menschen kamen 1930 bei solchen Massakern im Kaukasus ums Leben.
Eine unmittelbare Folge der Kollektivierung der Landwirtschaft war die große Hungersnot von 1932/33. Die Ernteerträge waren seit 1928, vor allem infolge der brutalen Eingriffe des Regimes und des Widerstands dagegen, drastisch zurückgegangen. Verschärft wurde der Mangel an Nahrungsmitteln durch den Getreideexport ins «kapitalistische» Ausland (1933 waren es 18 Millionen Doppelzentner Weizen). An dieser Ausfuhrpolitik hielt die sowjetische Führung konsequent auch während der Zeit des größten Hungers fest – unter anderem, um Devisen zu bekommen, die für die Mechanisierung der Landwirtschaft, obenan den Kauf von Traktoren, benötigt wurden.
Vom Hunger betroffen waren vor allem die vom Staat ausgeraubten Bauern der reicheren Agrargebiete wie der Ukraine und des nördlichen Kaukasus. Aus einigen dieser Regionen meldeten 1933 sowohl die GPU wie ausländische Diplomaten Fälle von Kannibalismus. Mit Lebensmitteln versorgt wurde, so gut es ging, die proletarische Bevölkerung der Städte, die noch immer den Hauptrückhalt der Bolschewiki bildete. Wenn Bauern in die Städte flüchteten, half ihnen das nicht. Im Dezember 1932 führte das Regime die sogenannten «internen Pässe» wieder ein, die es schon einmal, in der Ära Stolypin im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg, gegeben hatte. Die Kolchosbauern erhielten keine Pässe, sondern blieben an ihre Scholle gebunden. Wer in den Städten keinen «internen Paß» besaß, wurde ausgewiesen. Allein in Moskau waren 1933 über 300.000 Menschen von solchen Maßnahmen betroffen.
Die Hungersnot war nicht, wie das gelegentlich in der westlichen, nach 1991 auch in der ukrainischen Geschichtsschreibung behauptet wurde, ein bewußt eingesetztes Mittel, mit dem Stalin den Widerstandswillen der Bauern brechen und den ukrainischen Nationalismus vernichten wollte. Sie war vielmehr eine billigend in Kauf genommene Folge der Kollektivierung der Landwirtschaft und der forcierten Industrialisierung, die sich ohne Zwangsarbeit ehemaliger Bauern nicht durchführen ließ. Die Zahl der Opfer der großen Hungersnot von 1932/33 schätzt Werth auf mehr als 6 Millionen Menschen. Davon entfielen 4 Millionen auf die Ukraine, das Gebiet mit der größten Kulakendichte. Dazu kamen eine Million Tote in Kasachstan, die meisten von ihnen Nomaden, die man durch Beschlagnahmung ihres Viehbestandes zur Seßhaftigkeit gezwungen hatte, und nochmals eine Million Tote im nördlichen Kaukasus und in den Schwarzerdegebieten.
Die Art und Weise, wie die Kollektivierung durchgeführt wurde, hat der sowjetischen Landwirtschaft nachhaltigen Schaden zugefügt. 1933 lag der Umfang der Getreideernte um 5 Millionen Tonnen unter dem Stand von 1928. Es verging ein Vierteljahrhundert, bis die Viehhaltung wieder das Niveau von 1928 erreichte. Erst in den fünfziger Jahren kamen die Zahlen der landwirtschaftlichen Pro-Kopf-Produktion wieder an den Stand vor der Kollektivierung heran. Wenn sich die Lage der Landwirtschaft seit 1933 wieder festigte, lag das an weitreichenden Zugeständnissen an die Bauern. Stalin ließ die meisten Staatsgüter, die Sowchosen, wieder auflösen und ihr Land den Kolchosen übereignen. Es gab, von Stalin durchaus gewollt, arme und reiche Kolchosen und innerhalb der Kolchosen arme und reiche Bauern. Die Kolchose wurde nicht zur kommunistischen Gemeinschaft, sondern zu einer Genossenschaft, in der die Bauern ein kleines Stück Land, etwa 5 Prozent der Nutzfläche, privat bewirtschafteten und etwas Vieh halten konnten. Bis in die fünfziger Jahre lieferte das bäuerliche Hofland über 70 Prozent der Kartoffeln, etwa 70 Prozent der Milch und 90 Prozent der Eier. Wären die Bauern allein auf den Lohn angewiesen gewesen, den sie von der Kolchose erhielten, hätte das zum Leben nicht ausgereicht. Es war das Hofland, das ihre Existenz sicherte.
Auch bei der Industrialisierung mußte das Regime zurückstecken. Die ehrgeizigen Ziele des Ersten Fünfjahresplanes wurden nicht erreicht. Stalin hatte 1930 verlangt, die Kohle- und Stahlproduktion innerhalb eines Jahres ungefähr um die Hälfte zu steigern. Tatsächlich gelang, wie der Generalsekretär der KPdSU 1931 einräumen mußte, nur eine Erhöhung um 6 bis 10 Prozent. Es war der forcierten Industrialisierung alles andere als förderlich, daß das Regime 1928 mit dem Kampf gegen die «bürgerlichen Spezialisten» (spetzys) begonnen hatte. Den Auftakt bildete die Aufdeckung eines Falles von angeblicher «industrieller Sabotage» in einem zum Donugul-Trust gehörendem Betrieb der Schachty-Region, eines Steinkohlereviers im Donezbecken. Von den 53 Angeklagten, meist Ingenieuren und Betriebsdirektoren, wurden in einem Schauprozeß 11 zum Tode verurteilt und 5 hingerichtet.
Es folgten weitere Verhaftungen von Führungskräften, vor allem der Metallindustrie, die ihre Strafen auf Baustellen und in Betrieben des Ersten Fünfjahresplans verbüßen mußten. Im August und September 1930 erreichte die Kampagne gegen die «bürgerlichen Spezialisten» auch prominente Professoren, die in Ministerien, in der Staatsbank und der Staatlichen Planungskommission Gosplan arbeiteten, unter ihnen Nikolaj D. Kondratieff, den international angesehenen Entdecker der langen Wellen in der Konjunktur, der «Kondratieff-Zyklen», der bis 1928 an der Spitze des Konjunkturinstituts des Volkskommissariats für Finanzen gestanden hatte. Daß der Konjunkturtheoretiker Kondratieff dem Kapitalismus die Fähigkeit bescheinigte, sich aus einer zyklischen Krise wie der nach 1929 zu neuen Höhen aufzuschwingen, machte ihn aus der Sicht orthodoxer Bolschewiki zu einem gefährlichen Abweichler. Nach acht Jahren Einzelhaft wurde Kondratieff am 17. September 1938 von einem Militärtribunal zum Tode verurteilt und noch am gleichen Tag hingerichtet.
Obwohl die Ergebnisse des Ersten Fünfjahresplans weit hinter den gesteckten Zielen zurückblieben, wurde 1933 ein Zweiter Fünfjahresplan verabschiedet, dessen etwas bescheidenere Ziele man 1938, als ein Dritter Fünfjahresplan verkündet wurde, für erreicht erklärt. Die sowjetischen Daten über die Erfolge der Industrialisierung sind umstritten. Ihnen zufolge wurde die sowjetische Industrieproduktion zwischen 1928 und 1940 von 100 auf 587 Prozent gesteigert (nach westlichen Schätzungen auf 250 bis 450 Prozent). Rein quantitativ überholte die Sowjetunion bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges, was das Volumen der Industrieproduktion anging, Deutschland, Großbritannien und Frankreich und lag damit auf dem zweiten Platz hinter den USA. Die Steigerungsdaten belegen aber nur ein Mengenwachstum. Was die Produktivität betraf, lag die Sowjetunion nach wie vor weit hinter den westlichen Industrienationen. Mit der Mischung aus terroristischem Zwang und proletarischem Enthusiasmus, die für die Sowjetunion der Stalinzeit typisch ist, war dieser Rückstand nicht zu beheben.
Die Gründe, die ihn veranlaßten, durch eine zweite Revolution aus dem rückständigen Agrarland Rußland binnen weniger Jahre ein entwickeltes Industrieland zu machen, hat Stalin im Februar 1931 in einer Rede vor Wirtschaftsfunktionären bemerkenswert offen dargelegt. «Zuweilen wird die Frage gestellt, ob man nicht das Tempo etwas verlangsamen, die Bewegung zurückhalten könnte. Nein, das kann man nicht, Genossen! Das Tempo darf nicht herabgesetzt werden! Im Gegenteil, es muß nach Kräften und Möglichkeiten gesteigert werden. Das fordern von uns unsere Verpflichtungen gegenüber den Arbeitern und Bauern der UdSSR. Das fordern von uns unsere Verpflichtungen gegenüber der Arbeiterklasse der ganzen Welt. Das Tempo verlangsamen, das bedeutet zurückbleiben. Und Rückständige werden geschlagen. Wir aber wollen nicht die Geschlagenen sein … Die Geschichte des alten Rußland bestand unter anderem darin, daß es wegen seiner Rückständigkeit fortwährend geschlagen wurde … Es wurde von allen geschlagen wegen seiner Rückständigkeit, seiner kulturellen Rückständigkeit, seiner staatlichen Rückständigkeit, seiner industriellen Rückständigkeit, seiner landwirtschaftlichen Rückständigkeit. Es wurde geschlagen, weil das einträglich war und ungestraft blieb … Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder wir bringen das zuwege, oder wir werden zermalmt.»
Der politische Voluntarismus, von dem der Entschluß zur Kollektivierung der Landwirtschaft und zum Ersten Fünfjahresplan geprägt war, hatte seinen Grund in einer zutreffenden Diagnose: Rußland war so rückständig, wie es Stalin darstellte. Die Bedrohung von außen war ein wirksames Argument, um jene ins Unrecht zu setzen, die auf ein langsameres Tempo der Industrialisierung drängten. Tatsächlich gab es seit dem Ende der alliierten Interventionen bei keiner der kapitalistischen Mächte die Absicht, militärisch gegen die Sowjetunion vorzugehen und die Oktoberrevolution rückgängig zu machen. Eine Bedrohung der Sowjetunion stellte hingegen die radikalste der faschistischen Bewegungen, der deutsche Nationalsozialismus, dar, und gerade diese Bewegung wurde von Stalin dadurch gefördert, daß er im Zeichen der ultralinken Wende die kommunistischen Parteien des Auslands und in vorderster Front die deutsche zum verschärften Kampf gegen die Sozialdemokratie antrieb.
Stalin handelte auch auf andere Weise seinen eigenen Zielen entgegen: Durch die Kampagne gegen die «bürgerlichen Experten» entzog er einer rationalen Planung des industriellen Wachstums die wissenschaftliche Grundlage. Was blieb, waren der pure Wille und die nackte Gewalt. Die Folge waren die Vernichtung unzähliger Menschenleben und eine Vergeudung von materiellen Ressourcen im großen Stil. Als Stalin den Kampf gegen die bürgerlichen Experten im Juni 1931 für beendet erklärte, waren alle Schaltstellen der Wirtschaft in der Hand zuverlässiger Bolschewiken.
Anfang 1926, zwei Jahre vor der ultralinken Wende, hatte Stalin in seiner Schrift «Zu den Fragen des Leninismus» die These aufgestellt, die Hauptaufgabe der bürgerlichen Revolution bestehe darin, «die Macht zu ergreifen und sie mit der vorhandenen bürgerlichen Ökonomik in Einklang zu bringen, während die Hauptaufgabe der proletarischen Revolution darin besteht, nach der Machtergreifung eine neue, die sozialistische Ökonomik aufzubauen». Das war nichts Geringeres als eine Umkehrung der Marxschen Lehre vom Verhältnis von Basis und Überbau, aber auch noch etwas anderes: eine weitere Steigerung jener Dialektik von Rückständigkeit und Radikalität, zu der schon der junge Marx seinen Beitrag geleistet hatte, als er 1843 (in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie) dem rückständigen Deutschland die Aufgabe zuschrieb, die radikalste aller Revolutionen, die proletarische, durchzuführen.
Lenin hatte ebendiese Aufgabe dem rückständigen Rußland zugewiesen, die Vollendung der proletarischen Revolution aber von erfolgreichen Anschlußrevolutionen in den entwickelten kapitalistischen Ländern abhängig gemacht. Stalin gab den Gedanken der Weltrevolution nicht auf, als er seine Doktrin vom «Aufbau des Sozialismus in einem Lande» verkündete. Aber er hielt die Arbeiterklasse und die kommunistischen Parteien des Westens nicht für fähig, aus eigener Kraft das Proletariat zum Siege zu führen, und er betrachtete solche Revolutionen auch nicht als notwendige Voraussetzung für den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion. Je stärker die Sowjetunion wurde, desto mehr konnte sie auch die kommunistischen Parteien außerhalb ihrer Grenzen in ihrem Sinn lenken und durch diese Einfluß nehmen auf die Politik der Länder, in denen sie wirkten. Die Weltrevolution konnte warten, weil sie ohnehin nur erstrebenswert war, wenn sie den Stempel der Sowjetunion trug. In Stalins Worten aus dem Jahr 1926: «Die Macht des Proletariats wird ausgenutzt zur Unterdrückung der Ausbeuter, zur Verteidigung des Landes, zur Festigung der Verbindung mit den Proletariern der anderen Länder, zur Entfaltung und zum Sieg der Revolution in allen Ländern.»
Was den politischen Voluntarismus betraf, war Stalin Lenin kongenial. Wie dieser hielt auch sein Nachfolger es für ausgemacht, daß der Sozialismus den ganzen Menschen beanspruchen durfte, ja mußte, um einen neuen, den sozialistischen Menschen hervorzubringen. Dieser totalitäre Anspruch verlangte ein totalitäres System. Lenin hatte dessen Grund gelegt, Stalin baute es weiter aus. Sein Regime war der Bürgerkrieg in Permanenz, eine Mobilisierungsdiktatur, ausgeübt durch eine Klasse von Berufsrevolutionären, denen der Terror zur zweiten Natur geworden war. Unter Lenin war Widerspruch innerhalb der kollektiven Führung der bolschewistischen Partei noch möglich, unter Stalin immer weniger. Im Zweifelsfall verkörperte er den kollektiven Willen der Partei. Was er auf dem Weg zu dieser Identifikation im ersten Jahrzehnt nach Lenins Tod erreicht hatte, war viel, aber noch längst nicht alles, was sich aus seiner Machtposition heraus bewirken ließ.
Der Erzeugung des neuen Sowjetmenschen diente eine Kulturrevolution, die nach dem Urteil des Historikers Jörg Baberowski keine Episode, sondern das «Signum des Stalinismus» war. Die Träger der sozialistischen Kulturrevolution waren vor allem soziale Aufsteiger, die über «Arbeiterfakultäten» in Berufe gelangten, die vorher «bürgerlichen» Akademikern vorbehalten waren. Wer den «sozial fremden Elementen» zugerechnet wurde, hatte keinen Zugang mehr zu den höheren Bildungsanstalten. Der «neue Mensch» mußte sich immer aufs neue durch die Denunziation angeblicher Feinde des Sozialismus, etwa bürgerlicher Professoren, bewähren. Er brauchte den Feind, um zu begreifen, was ihn, den neuen sozialistischen Menschen, ausmachte. Er hatte einer neuen, der sozialistischen Moral zu genügen, um sich zum geistig und körperlich vollkommenen Menschen zu entwickeln, wie es ihn in keiner Klassengesellschaft je gegeben hatte oder gab.
Der Kampf um den neuen Sowjetmenschen verlangte den Kampf gegen den alten Menschen, der nicht nur übermäßigem Wodkagenuß, sondern auch dem Opium der überlieferten Religion frönte. Mit der Kollektivierung der Landwirtschaft gingen zahllose Kirchenschließungen einher, was immer wieder dörfliche Widerstandsaktionen auslöste. Kirchenglocken wurden eingeschmolzen und damit der Industrialisierung nutzbar gemacht. Nirgendwo aber war der Zusammenstoß zwischen der neuen Quasireligion der sozialistischen Utopie und der widerstrebenden Wirklichkeit so kraß wie in den islamischen Gesellschaften an der sowjetischen Peripherie in Zentralasien. 1927 wurde dort die Scharia aufgehoben. Komsomolbrigaden nahmen Frauen gewaltsam den Schleier ab. Gegen Frauen, die von sich aus den Schleier abwarfen und der Kommunistischen Partei beitraten, richtete sich der erbitterte Widerstand gläubiger Muslime. In Usbekistan wurden zwischen Frühjahr 1929 und Frühjahr 1930 annähernd 400 Frauen getötet. Sehr viel größer war die Zahl der Frauen dieser Kategorie, die von Traditionalisten verstümmelt, vergewaltigt, kollektiven Schandstrafen ausgesetzt oder aus der Dorfgemeinschaft ausgestoßen wurden.
Die Bolschewiki beantworteten den gewaltsamen Widerstand mit verschärfter Repression. In den Worten Baberowskis: «Sie entsandten fliegende Strafgerichte in die betroffenen Regionen, ließen Männer, die Frauen getötet oder vergewaltigt hatten, hinrichten und inszenierten Schauprozesse als Lehrstücke, in denen sie der Bevölkerung vorführten, wie das Regime mit Konterrevolutionären und Klassenfeinden umging. Für die Bolschewiki waren diese Frauen nicht ermordet worden, sie waren im Kampf gegen die Konterrevolution gefallen.»
Während der Terror gegen Kulaken und andere Konterrevolutionäre tobte, führte die KPdSU einen flankierenden innerparteilichen Kampf gegen unzuverlässige Elemente. Im April 1929 ordnete das ZK eine Säuberung der Partei mit dem Zweck an, die sozialistische Offensive von «kapitalistischen» und «kleinbürgerlichen» Sabotageakten freizuhalten. Etwa 11 Prozent der Mitglieder und Kandidaten wurden aus der KPdSU ausgeschlossen, die meisten wegen Verstößen gegen die Parteidisziplin, «unsozialistischen» Verhaltens und nachlässiger Ausführung von Direktiven. Seit Ende 1930 sah sich Stalin erneut durch eine «rechte» Gruppierung innerhalb der Parteiführung herausgefordert, an deren Spitze zwei Funktionäre standen, die den Generalsekretär im Kampf gegen die «Rechte» bisher unterstützt hatten: Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der Russischen Föderierten Sowjetrepublik, S. I. Syrzow, wagte es, eine Mustertraktorenfabrik bei Stalingrad als «Potjomkisches Dorf» zu bespötteln und den angeblichen Durchbruch bei der Industrialisierung als «Augenwischerei» zu bezeichnen; der Sekretär der transkaukasischen KP, V. V. Lominadze, warf dem Regime einen «herrenmäßig-feudalen» Umgang mit den Bauern vor.
Noch schärfer fiel die Kritik aus, die 1932 der Moskauer Parteibezirkssekretär M. N. Rjutin übte. Zusammen mit Gleichgesinnten verfaßte er eine «Plattform», in der er Stalin den «bösen Geist der russischen Revolution» nannte, dessen Rachsucht und Machtgier das Regime an den Rand des Abgrunds gebracht habe. Der empörte Stalin verlangte im Herbst 1932 im Politbüro die Hinrichtung Rjutins, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Die Mehrheit, zu der der Leningrader Parteisekretär Sergej Kirow gehörte, war lediglich bereit, den Ausschluß des Beschuldigten aus der Partei und seine Verbannung aus der Hauptstadt zu beschließen. Offenbar war die Kritik an Stalins Politik und Führungsstil innerhalb der KPdSU sehr viel weiter verbreitet, als selbst gut informierte Beobachter wußten. Eine zweite Parteisäuberung, die Anfang Januar 1933 beschlossen wurde und zum Ausschluß von 17 Prozent der Mitglieder und Kandidaten der KPdSU führte, vermochte Stalins Bedürfnis nach absoluter Kontrolle nicht zu befriedigen. Daß er sich im Politbüro im Zweifelsfall nur auf eine Minderheit um Wjatscheslaw Molotow und Lasar Kaganowitsch verlassen konnte, wirkte als Stachel: Die Machtfülle des Generalsekretärs war immer noch nicht unbeschränkt.
Bei den Mitgliederparteien der Komintern wußte man so gut wie nichts über die Meinungsverschiedenheiten in der Führung der KPdSU. Nirgendwo fand die Sowjetunion Stalins so glühende Verteidiger wie bei den kommunistischen Parteien des Westens. Je mehr die soziale Not in den kapitalistischen Ländern seit 1929 wuchs, desto heller leuchtete das Licht des Landes, das den Kapitalismus auf revolutionärem Weg abgeschafft hatte. Was die Sowjetunion tat, erschien nicht nur den Führungen der kommunistischen Parteien, sondern auch den breiten Massen ihrer proletarischen Anhänger als vorbildlich. Das galt für die Bücher, Theaterstücke und Filme, die aus dem Mutterland des Sozialismus kamen, es galt aber auch für die Methoden, mit denen dort der Klassenfeind bekämpft wurde. «Erschießen! Erschießen! Erschießen!» lautete die Schlagzeile der «Roten Fahne» in Berlin vom 25. November 1930. Das war zwar nicht eine Aufforderung an die deutschen Kommunisten, sondern nur «die Stimme des Volkes in den Betrieben» von Berlin zum Moskauer Schauprozeß gegen die «Industriepartei» – eine angebliche Sabotagegruppe, die laut Anklage im Auftrag des französischen Generalstabs und der französischen Regierung einen Interventionskrieg gegen die Sowjetunion organisatorisch vorbereitetet haben sollte. Aber es waren deutsche Stimmen, die das Zentralorgan der KPD zu Wort kommen ließ, und es war aus der Umfrage unschwer herauszulesen, daß im Fall eines kommunistischen Umsturzes im Deutschen Reich auch mit deutschen Konterrevolutionären «russisch geredet» werden würde.
Sympathie für die Sowjetunion gab es auch außerhalb der kommunistischen Parteien. Auf dem Kongreß der Liga für Menschenrechte in Paris im Jahre 1927 forderte deren Präsident, der einstige Verteidiger von Alfred Dreyfus, Victor Basch, die Anwesenden auf, sich nicht vor dem Wort «Revolution» zu fürchten. Unter Beifall fügte er hinzu: «Und machen wir uns bewußt, daß jede Revolution zwangsläufig eine vorübergehende Aussetzung der Legalität ist.» Die russische Oktoberrevolution war Basch zufolge die Revolution von Klassen, die von der bürgerlichen Revolution nicht profitiert hatten. Was in der Sowjetunion zur Zeit geschah, war aus dieser Sicht der terroristischen Phase der Französischen Revolution vergleichbar, also ein Durchgangsstadium zu einer neuen Legalität. Daß das russische «1793» sehr viel länger dauerte als das französische, schien einen großen Teil der französischen Linken nicht zu irritieren.
Selbst Reisen in die Sowjetunion führten nicht notwendigerweise zu einer nüchternen Erkenntnis der Wirklichkeit. Als Édouard Herriot, der Führer der französischen Radicaux, im September 1933 von einer (durch die örtlichen Machthaber sorgfältig vorbereiteten, ja inszenierten) Fahrt durch die Ukraine zurückkehrte, äußerte er sich mit Worten höchster Anerkennung über das, was ihn die Gastgeber hatten sehen lassen: «Ich habe die Ukraine bereist. Und ich kann Ihnen versichern, daß ich sie wie einen Garten erlebt habe, der vor einer ertragreichen Ernte steht. Es wird behauptet, so sagen Sie, daß diese Gegend gerade schwere Zeiten durchmacht? Ich kann nicht von etwas berichten, was ich nicht gesehen habe. Dabei habe ich mich in leidgeprüfte Gegenden fahren lassen. Und ich konnte überall nur Wohlstand feststellen …»
Womöglich noch günstigere Eindrücke gewannen einige britische Fabier, die in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre in die Sowjetunion reisten. Zwei von ihnen, G. B. Shaw 1932 und H. G. Wells zwei Jahre später, hatten sogar die Gelegenheit, ausführlich mit Stalin zu sprechen, und verließen ihn beeindruckt von seiner Offenheit und Klugheit. Shaw behauptete anschließend, er habe in der Sowjetunion nicht eine einzige unterernährte Person gesehen. Sidney und Beatrice Webb, beide über siebzigjährig, bescheinigten, nachdem sie sich 1932 ebenfalls in die Sowjetunion begeben hatten, in ihrem 1935 erschienenen Buch «The Soviet Union – A New Civilization?» der KPdSU, sie sei ein demokratisches Sprachrohr der russischen Bevölkerung, und Stalin, daß er «nicht einmal die enormen Machtbefugnisse» besitze, die der amerikanische Kongreß zeitweilig Präsident Franklin Delano Roosevelt bewilligt habe, sondern «lediglich Generalsekretär» sei. Das Bild der Sowjetunion, das die Webbs vermittelten, war das einer Demokratie genossenschaftlicher Produzenten, die sich des Großgrundbesitzes und des Kapitalismus entledigt hatten und gemeinsam, im Namen der Wissenschaft, eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen hervorbrachten. Als das Buch 1937 in Zweiter Auflage erschien, fehlte das Fragezeichen hinter dem Untertitel «A New Civilization».
Die Konservativen und Liberalen von Winston Churchill bis Emil Ludwig, die sich vom faschistischen Italien und seinem Duce beeindruckt zeigten, waren derselben Täuschung erlegen wie die britischen und französischen Linken, nachdem sie sich für kurze Zeit in der Sowjetunion aufgehalten hatten: Sie fanden bestätigt, woran sie glauben wollten, und sie schotteten sich ab gegen alles, was ihre vorgefaßte Meinung hätte erschüttern können.[26]
Boom, Krise, Depression: Die USA 1928–1933
Nirgendwo in der westlichen Welt war die Begeisterung für den «Aufbau des Sozialismus» in der Sowjetunion so gering wie in dem Land, von dem der deutsche Nationalökonom Werner Sombart 1906 geschrieben hatte, es sei «für den Kapitalismus Kanaan, das Land der Verheißung»: die Vereinigten Staaten von Amerika. Aber selbst in den USA gab es neben den wenigen eingetragenen Mitgliedern der Kommunistischen Partei (1929 waren es unter 10.000) auch eine beträchtliche Zahl von Intellektuellen in der Tradition der «progressives», die mit Respekt, ja Bewunderung auf die Errungenschaften der UdSSR blickten.
Der prominenteste unter ihnen war der Philosoph John Dewey, der 1928 die Sowjetunion bereist und dort vor allem Schulen besucht hatte. In der «New Republic» nannte er die UdSSR im November 1928 ein Land, «das, befreit von der drückenden Last der Vergangenheit, von der Leidenschaft beseelt scheint, eine neue Welt zu schaffen». Der Politikwissenschaftler Frederick L. Schuman meinte im Mai 1930, ebenfalls in der «New Republic», die Sowjetunion würde nicht marxistische, sondern «progressive» Ideale verwirklichen, und das Regime Stalins sei bloß eine «Verwaltungsagentur, mit deren Hilfe wirtschaftliches Chaos und Ausbeutung durch intellektuell geleitete Planung und Zusammenarbeit ersetzt» würden. Sehr viel weiter gingen bekannte Schriftsteller wie John Dos Passos, Theodore Dreiser und Upton Sinclair, die sich im Mai 1931 an der Gründung der Workers’ Cultural Federation, einer getarnten kommunistischen Parteiinitiative, beteiligten und sich in das Ehrenpräsidium der neuen, kurzlebigen Organisation wählen ließen.
Bedeutend mehr Sympathisanten als die Sowjetunion genoß eine andere Diktatur in Amerika: das faschistische Italien. Die Fascist League of North America, in der sich die radikalsten Gefolgsleute Mussolinis aus «Little Italy», den von italienischen Einwanderern bewohnten Vierteln der großen Städte, sammelten, brachte zwar nur eine winzige Minderheit hinter sich: Bei ihrer Gründungskundgebung am amerikanischen Unabhängigkeitstag, dem 4. Juli 1928, auf Staten Island vor den Toren New Yorks standen 350 Faschisten rund 1000 Antifaschisten gegenüber; bereits Ende 1929 löste sich die Organisation nach heftigen inneren Auseinandersetzungen wieder auf. Aber in den höheren Rängen der amerikanischen Gesellschaft und auch unter manchen Intellektuellen stand der «Duce» als der Mann, der Italien vermeintlich vor Chaos und Kommunismus gerettet hatte, in hohem Ansehen. So schrieb 1924 Irving Babbitt, ein maßgeblicher Vertreter der demokratie- und wettbewerbskritischen «New Humanists», unter Umständen würden sich die Amerikaner noch einmal glücklich schätzen, wenn «sie das amerikanische Äquivalent eines Mussolini bekämen: Es könnte notwendig werden, um uns vor dem Äquivalent eines Lenin zu bewahren.»
Über den Terror der italienischen Faschisten sahen die Rechtsintellektuellen und die republikanischen Administrationen Harding und Coolidge gnädig hinweg, und zu keiner Zeit waren die Beziehungen zwischen Italien und den Vereinigten Staaten so herzlich wie unter der Präsidentschaft Herbert Hoovers zwischen 1929 und 1933. Der Außenminister jener Jahre, Henry L. Stimson, erinnerte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, daß er und Hoover in Mussolini einen «vernünftigen und nützlichen Führer» gesehen hätten, der «in seinem Nationalismus nicht aggressiver war als mancher demokratische Staatsmann».
Herbert Hoover, der seit 1921 Handelsminister war, wurde 1928, nachdem Präsident Coolidge auf eine erneute Bewerbung verzichtet hatte, von den Republikanern als ihr Kandidat in das Rennen um die Präsidentschaft geschickt. Demokratischer Bewerber war der Gouverneur von New York, Alfred («Al») E. Smith, ein Katholik und entschiedener Gegner der Prohibition. Hoover siegte bei einer Wahlbeteiligung von knapp 57 Prozent überlegen mit einem Stimmenanteil von 58,2 Prozent gegenüber 40,7 Prozent für Smith. Von den Wahlmännern und Wahlfrauen entfielen 444 auf Hoover und 87 auf Smith. Unter den übrigen Bewerbern war der Sozialist Norman Thomas mit 0,7 Prozent oder etwas weniger als 268.000 Stimmen noch der «erfolgreichste». Der kommunistische Kandidat William Z. Foster mußte sich mit unter 49.000 Stimmen, einem Anteil von 0,1 Prozent, begnügen. Die große Mehrheit der Amerikaner war nicht nur mit der bestehenden Gesellschaftsordnung, sondern auch mit der Art und Weise einverstanden, wie die Republikaner in den letzten acht Jahren das Land geführt hatten: Anders ließ sich der eindeutige Wahlausgang nicht interpretieren. Und noch ein Befund war unbestreitbar: Das protestantisch geprägte Amerika wünschte noch immer keinen Katholiken an seiner Spitze.
Am 4. Dezember 1928 richtete der scheidende Präsident Calvin Coolidge seine letzte «State of the Union»-Botschaft an die beiden Häuser des Kongresses. Kein Kongreß der Vereinigten Staaten habe jemals unter derart erfreulichen Vorzeichen getagt wie der jetzige, sagte er. «Im Bereich der inneren Politik herrschen Ruhe und Zufriedenheit, … der höchste Grad der Prosperität der letzten Jahre. In der Außenpolitik herrschen Frieden und der gute Wille, der dem wechselseitigen Verstehen entspringt.» Die Gesetzgebungsorgane und das Land könnten die Gegenwart mit Genugtuung betrachten und der Zukunft mit Optimismus entgegensehen. «Die Hauptquelle dieser beispiellosen Segnungen sind die Rechtschaffenheit und der Charakter des amerikanischen Volkes.»
Was die internationalen Beziehungen betraf, war der von Außenminister Frank B. Kellogg zusammen mit seinem französischen Kollegen Aristide Briand initiierte Briand-Kellogg-Pakt ein gutes Beispiel für die von Coolidge beschriebene, auf wechselseitige Verständigung ausgerichtete Politik. Eine amerikanische Note vom 23. Juni 1928 faßte den wesentlichen Inhalt zusammen: Der Pakt verurteilte den Krieg als «Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle» und als «Werkzeug nationaler Politik». Das Recht der Selbstverteidigung blieb davon unberührt, eine Definition des Angreifers und eine Sanktionsregelung fehlten. Immerhin enthielt das Abkommen, das bis Ende August 1928 von 15 Staaten, darunter Deutschland, und bis 1939 von weiteren 48 Staaten unterzeichnet wurde, eine indirekte Legitimierung eines Sanktionskrieges gegen den Angreifer und Störer der bestehenden Weltordnung.
Innerhalb der westlichen Hemisphäre, in ihrem mittelamerikanischen «Hinterhof», waren die USA unter Coolidge seit dem Sommer 1926 wieder als Interventionsmacht tätig: Mit Hilfe der Marines unterstützten sie in Nicaragua den konservativen Präsidenten Adolfo Diaz gegen einen Aufstand des Partido Liberal und des mit dieser Partei verbündeten Grupo Armado Liberal unter dem späteren «General de Hombres Libres», Augusto César Sandino. Die Kämpfe in Nicaragua dauerten noch an, als im Januar 1928 in Havanna die Panamerikanische Konferenz zusammentrat. Die Vereinigten Staaten machten auf diesem Treffen den lateinamerikanischen Staaten ein wichtiges Zugeständnis: Sie verzichteten auf die (nach dem Präsidenten Theodore Roosevelt benannte) «Roosevelt Corollary» zur Monroe-Doktrin von 1904, das von den USA beanspruchte Recht, als Polizeimacht in Lateinamerika zu intervenieren, wenn die dortigen Staaten nicht aus eigener Kraft in der Lage waren, innere Ordnung und nationale Souveränität aufrechtzuerhalten. Damit war der Grund gelegt für die von Coolidges Nachfolger Hoover so genannte «good neighbor policy»: die Pflege friedlicher Beziehungen zu Lateinamerika, der sich nach 1933 auch Präsident Franklin D. Roosevelt verpflichtet fühlte.
Der optimistische Ausblick, mit dem Präsident Coolidge den Abschied von seinem Amt vorbereitete, schien auch durch die wirtschaftlichen Daten der Boomjahre gerechtfertigt. Zwischen 1925 und 1929 wuchs die Zahl der industriellen Unternehmungen von knapp 184.000 auf knapp 207.000, der Wert ihrer Produktion von 60,8 auf 68 Milliarden Dollar. Wenn man von dem Produktionsindex des Federal Reserve Board für die Jahre 1923 bis 1925 ausgeht (also den Durchschnitt dieser Jahre gleich 100 setzt), stieg dieser Index bis zum Juli 1928 auf 110 und bis zum Juni 1929 auf 126. Die Automobilerzeugung wuchs von 4,3 Millionen 1926 auf 5,4 Millionen drei Jahre später. Das Volumen des Aktienhandels stieg zwischen dem 12. März und dem 16. Juni 1928 von 3.875.910 auf 5.052.790 Anteile.
Herbert Hoover, 1874 in Iowa geboren und von Beruf Ingenieur, war ein beredter Anwalt dessen, was er in einer New Yorker Wahlkampfrede vom 22. Oktober 1928 «robusten Individualismus» (rugged individualism) nannte. Hoover meinte damit das Wesen des amerikanischen Systems im Gegensatz zu den europäischen Doktrinen des Paternalismus und des Staatssozialismus. Nicht in Europa, sondern in Amerika habe der Liberalismus seinen wahren Geist entfaltet, sagte er in dieser Rede. «Wir sind heute dem Ideal der Abschaffung der Armut und der Verbannung der Furcht aus dem Leben der Menschen näher als je zuvor in der Geschichte. Und ich betone nochmals, daß die Abweichung vom amerikanischen System durch Einfügung schädlicher Prinzipien, wie sie unsere Gegner (die Demokraten, H. A. W.) vorschlagen, die Freiheit unseres Volkes und die Gleichheit der Chancen nicht nur dieser, sondern auch kommender Generationen gefährden würde.»
Als Handelsminister hatte Hoover das Konzept des «associationalism», des freiwilligen nationalen Zusammenschlusses der einzelnen Industriebranchen, vorangetrieben, weil er darin ein Mittel zur Steigerung der Effizienz in Produktion und Vertrieb gefunden zu haben glaubte. Als Präsident versuchte er, gestützt auf diese Erfahrungen, im Juni 1929 mit dem Agricultural Marketing Act das Problem der landwirtschaftlichen Überproduktion, eine Folge der rasanten Mechanisierung des Agrarsektors in den zwanziger Jahren, in den Griff zu bekommen. Hoovers Absicht, über staatlich geförderte, aber freiwillige Zusammenschlüsse der Farmer zu Kooperativen die landwirtschaftliche Ertragslage zu stabilisieren, war sehr viel weniger protektionistisch als der staatliche Aufkauf von landwirtschaftlichen Produkten, den der Kongreß zweimal, 1926 und 1928, in Gestalt der McNary-Haugen Bill beschloß, gegen das Veto von Präsident Coolidge jedoch nicht durchsetzen konnte. Zum Erfolg aber führte auch Hoovers Vorstoß vom Sommer 1929 nicht: Die Farmer blieben die Sorgenkinder der amerikanischen Volkswirtschaft.
Seit Beginn des Jahres 1929 war die Entwicklung der Börsenkurse ein bevorzugtes Thema nicht nur der Zeitungen, sondern auch zahlloser Menschen, die nicht hauptberuflich mit der Wirtschaft zu tun hatten – in den Worten von John Kenneth Galbraith: «Der Aktienmarkt beherrschte die Kultur.» An Warnzeichen vor einer Überhitzung der Konjunktur fehlte es nicht: Am 14. Februar regte die Federal Reserve Bank in New York, um der Spekulation Zügel anzulegen, eine Erhöhung des Diskontsatzes von 5 auf 6 Prozent an, drang damit aber beim Federal Reserve Board in Washington nicht durch. Im Juni stieg der Industrieaktienindex der «New York Times» um 52, im Juli um 25, im August um 33, innerhalb von drei Monaten also um 110 Punkte, von 339 auf 449. Im ganzen Jahr 1928 hatte die Steigerung nur 86,5 Punkte betragen. Selbst dem Federal Reserve Board schien jetzt der Zeitpunkt gekommen, den Schritt zu tun, den er im Februar noch verweigert hatte: Am 9. August wurde der Diskontsatz um ein Prozent angehoben.
Es waren vor allem Investmenttrusts, die die Spekulation mit Aktien förderten – eine in England und Schottland seit den 1880er Jahren eingeführte, in den USA erst spät übernommene Form der Ansammlung von Kapital. Anfang 1927 gab es in Amerika etwa 160 solcher Fonds; 140 kamen noch im gleichen Jahr dazu. Im Verlauf des Jahres 1928 wurden 186, 1929 nochmals 265 Investmentfonds gegründet. Das Volumen der von ihnen verkauften Anteile belief sich 1927 auf 400 Millionen, im Herbst 1929 auf geschätzte 8 Milliarden Dollar. Im Dezember 1928 rief Goldman, Sachs and Company in New York die auf das Investmentgeschäft spezialisierte Goldman Sachs Trading Corporation ins Leben. Am 26. Juli 1929 gründete diese als eigenen Trust die mit einem Kapital von über 102 Millionen Dollar ausgestattete Shenandoah Corporation, am 20. August gefolgt von der noch größeren Blue Ridge Corporation mit 142 Millionen Dollar. Beide Trusts waren durch einen gemeinsamen Board of Directors, unter ihnen der spätere Außenminister John Foster Dulles, verbunden. Binnen weniger Monate hatte sich Goldman Sachs damit an die Spitze des amerikanischen Investmentgeschäfts gestellt.
Um diese Zeit gab es längst ernste konjunkturelle Warnzeichen. Seit Jahren fielen die Ertragszahlen des Gebäudebaus, seit Juni die der Stahlindustrie, seit Oktober die der Güterwagenproduktion. Der industrielle Produktionsindex des Federal Reserve Board sank von 126 im Juli auf 117 im Oktober 1929. Ein Zusammenbruch der Börse war, bei nüchterner Betrachtung, nur noch eine Frage kurzer Fristen. Seit dem 21. Oktober fielen die Aktienkurse. Am 24. Oktober, dem «Schwarzen Donnerstag», stürzten sie so stark ab, daß in New York stundenweise bereits Panik herrschte; einige Spekulanten begingen Selbstmord. Eine gemeinsame Erklärung der größten Banken bewirkte dann nochmals eine vorübergehende Beruhigung.
Am 29. Oktober aber, dem «Schwarzen Dienstag», gab es kein Halten mehr. 16 Millionen Anteile wurden an der New Yorker Börse verkauft; der Index der Industrieaktien fiel um 43 Punkte oder um beinahe 10 Prozent, womit die gesamten Gewinne des vorangegangenen Jahres ausgelöscht waren. Am schlimmsten erging es den Investmenttrusts. Der Goldman-Sachs-Wert stürzte von 60 auf 35 Punkte ab; Blue Ridge hatte Anfang September bei 24 Punkten gelegen, fiel am 24. Oktober auf 12 und am 29. Oktober von 10 zunächst auf 3 Punkte, um sich dann auf einem etwas höheren Niveau zu «erholen». Andere Fonds sanken ins Bodenlose. Die Welt trat im Oktober 1929 in das Stadium einer langanhaltenden, schweren Depression: ein Sachverhalt, der trotz der globalen Schockwellen, die der New Yorker Börsenkrach auslöste, den Zeitgenossen erst sehr viel später bewußt wurde.
Viele Gründe sind genannt worden, die erklären sollen, warum die «Große Krise» im Herbst 1929 in der weltweit größten Volkswirtschaft, der amerikanischen, ausbrach. Der Historiker Alan Brinkley führt insgesamt fünf an, die ihm besonders wichtig erscheinen. Er nennt erstens eine schwache Diversifikation der amerikanischen Wirtschaft der zwanziger Jahre – mit der Folge, daß die Prosperität vom Wohlergehen einiger weniger Branchen, obenan der Bau- und der Automobilindustrie, abhing. Der zweite Faktor war nach Brinkley das Zurückbleiben des Massenkonsums hinter den produzierten Gütern als Folge einer höchst ungleichmäßigen Einkommensverteilung. Drittens hebt der Autor die Kreditstruktur hervor, worunter er sowohl das betrügerische Verhalten vieler Schuldner kleiner Banken als auch die verantwortungslose Kreditvergabe von Großbanken subsumiert. An vierter Stelle wird die Verschlechterung der Position der USA im Welthandel genannt, die Brinkley vor allem auf die Rationalisierung von Industrie und Landwirtschaft in Europa und den dadurch hervorgerufenen Rückgang von Importen aus Amerika zurückführt. Der fünfte Grund ist die internationale Schuldenstruktur, das heißt das Doppelproblem der britischen, französischen und italienischen Kriegsschulden an die USA und der deutschen Reparationen, die ihrerseits nur mit Hilfe amerikanischer Kredite bezahlt werden konnten. Ergänzend verweist Brinkley noch auf die hohen amerikanischen Schutzzölle, die es den Europäern schwer machten, ihre Erzeugnisse auf dem Markt der USA abzusetzen.
Die Auflistung ist instruktiv, läßt sich aber durch den Hinweis auf weitere Faktoren erweitern: die Förderung einer im Wortsinn bodenlosen Spekulation durch die Investmenttrusts; das Versagen des Federal Reserve Board, der einerseits viel zu spät und zu wenig vom Mittel der Diskonterhöhung Gebrauch machte, der sich andererseits nicht genügend Aktiva zugelegt hatte, die er gebraucht hätte, um eine wirksame «Offenmarktpolitik» betreiben und so den Kreditspielraum der Kreditbanken beeinflussen zu können; eine «blinde», von den Marktbedingungen absehende und darum Überkapazitäten schaffende Rationalisierung und Mechanisierung in Industrie und Landwirtschaft; die fehlende Distanz der republikanischen Regierungen der zwanziger Jahre gegenüber den Wünschen von «big business».