Kapitel 25

Zwei Tage später brach Graham gegen Mittag zusammen. Jillian schrie vor Schreck auf, sprang aus dem Sattel und rannte zu ihm. Er lag vollkommen benommen im Sand, hob aber stöhnend den Kopf, als sie bei ihm war.

»Mein Kopf tut weh.«

Sie besah die heilende Wunde an seinem Kopf. Der Säbelhieb musste ihn schwerer verletzt haben, als auf den ersten Blick erkennbar war.

»Graham!«, rief sie. »Graham!«

Ein tiefes Stöhnen entwand sich seiner Kehle. »Müssen … Hilfe finden. Haben … uns … verirrt, glaube ich.«

Sie hatten zwei der Beduinenkamele und einen sehr geschwächten Salomon auffinden können. Allerdings hatte Salomon einen bösen Hieb an der einen Hinterflanke abbekommen und lahmte stark. Die anderen Kamele waren davongerannt. Graham hatte keine kostbare Kraft darauf verschwendet, ihnen nachzulaufen. Jetzt wünschte Jillian sich, er hätte es getan. Gestern erst war eines ihrer zwei Kamele zusammengebrochen und gestorben, und das verbleibende schwächte zunehmend. Außerdem waren die Wassertanks verloren.

Graham behauptete, sie könnten es schaffen. Aber je länger sie unterwegs waren, umso mehr Zweifel kamen Jillian. Die Spur, der sie folgten, verzweigte sich dauernd, und die Sonnenstellung schien irgendwie nicht zu passen. Aber was wusste sie, die Engländerin, schon über die Wüste und das Lesen von Kamelspuren im Sand? Graham war der erfahrene Wüstenreisende, und deshalb sagte sie nichts. Nun jedoch bereute sie, nicht vorher etwas gesagt zu haben.

Jillian blickte nach oben. Nichts als ein weiter Horizont über weißem Sand. Graham war eindeutig durch seine Verwundung so orientierungslos, dass er ihren Weg falsch berechnet hatte. Und folglich saßen sie mitten in der Wüste mit einem halben Ziegenbeutel voll Wasser fest.

Katherines Rat fiel ihr wieder ein. »Wenn man dir auf den Kopf schlägt und später Kopfschmerzen und Desorientierung einsetzen, musst du anhalten und dich ausruhen. Es kann drei bis fünf Tage dauern, bis du dich wieder erholst.«

Wie sollten sie drei Tage Rast einlegen, wenn sie nur noch für knapp zwei Tage Wasser hatten? Jillian musste schnell handeln. Sie breitete eine Decke auf dem heißen Sand aus und rollte Graham darauf. Als Nächstes errichtete sie das kleine Zelt, damit er im Schatten lag. Sie fühlte seine Wange, die furchtbar heiß war.

Aber ihre Rettung war ja unterwegs. Die Khamsin würden sie gewiss finden. Schließlich konnten Beduinen Kamelspuren durch einen Sandsturm folgen. Nur ging ihnen das Wasser aus. Bis ihre Retter eintreffen würden, konnten sie und Graham tot sein. Sie wusste, was sie zu tun hatte.

Sie musste ihn verlassen, allein entlang der Hauptroute des Darb Asylt losreiten und Zeichen hinterlassen, denen ihre Retter folgen konnte. Jillian überlegte angestrengt. Die Räuber hatten ihren Kompass gestohlen, als sie sie gefangen nahmen. Sie hielt den Atem an. Jabari und Ramses hatten sie gelehrt, ihren Weg durch die Wüste zu finden. Und sie verfügte über einen hervorragenden Orientierungssinn. Ihr blieb also gar keine andere Wahl, als sich auf sich selbst zu verlassen. Sie konnte hierbleiben und verdursten, oder sie versuchte, eine Karawanenroute zu finden und ein Zeichen für die Khamsin zu hinterlassen.

Um sie herum war nichts als blanke Wüste. Sie waren nach Süden geritten, doch sie war sich nicht sicher, welche Richtung sie einschlagen sollte. Im Norden konnte sie sicher den Karawanenweg finden, aber wo war Norden?

Ihr fiel wieder ein, was Ramses ihr erzählt hatte. Mit einem Zwinkern hatte er gesagt: »Jillian, mein Freund neigt dazu, sich zu verirren. Er hat den Orientierungssinn eines blinden Kamels. Deshalb vertraue ich dir, dass du ihm den Weg zeigst, wenn es nötig ist.«

Anschließend hatte der Khamsin-Krieger ihr gezeigt, wie sie sich am Sonnenstand orientierte.

Seine Anleitung im Kopf, holte Jillian sich die Kamelgerte und einen kleinen Spaten. Sie grub ein Loch in den Sand, steckte die Gerte hinein und markierte die Stelle, auf die der Schatten fiel, mit einem Streichholz. Das war Westen.

Als Nächstes nahm sie ein Haarband aus ihrem Rucksack, band es unten um die Gerte und zeichnete mit Grahams Dolch einen Kreis, der exakt dem Radius des Gertenschattens entsprach. Mit einem weiteren Streichholz markierte sie die Spitze des Schattens auf der Kreislinie. Nun sah sie auf ihre kleine Uhr und wartete fünfzehn Minuten ab.

Danach markierte sie die neue Schattenposition und zeichnete eine gerade Linie zwischen die beiden Punkte. Nun hatte sie Osten und Westen ermittelt. Westen war zu ihrer Linken, mithin musste Norden geradeaus sein. Sie suchte den Horizont nach Orientierungspunkten ab und erkannte eine kleine Felsgruppe im Nordosten. Natürlich – das war ihr Weg!

Zögernd blickte sie zu dem Kamel. Salomon war durch den Blutverlust so geschwächt, dass er sterben könnte, wenn sie ihn mitnahm. Falls sie ihn hierließ, als letzte Rettung für Graham, als Überlebenshilfe … Der Gedanke war so unerträglich, dass ihr die Tränen kamen.

Sie schluckte, klopfte dem Kamel liebevoll den Hals und ging zu ihrem Rucksack. Dann schrieb sie eine kurze Nachricht auf die Rückseite der Kartenskizze und schob sie unter den schlafenden Graham. Als sie wieder aus dem kleinen Behelfszelt kam, blinzelte sie in die Sonne und wickelte sich den grünen Schal so um den Kopf, dass nur noch ein schmaler Spalt für ihre Augen freiblieb. Sie füllte sich ein Viertel des Wassers ab, den Rest ließ sie für Graham da. Dann küsste sie ihn auf die Wange und bestieg das letzte Beduinenkamel.


Ramses hatte ihr gesagt, dass ein Mensch wochenlang ohne Nahrung auskommen konnte, aber nur drei Tage ohne Wasser. Mit verbissener Entschlossenheit zwang sie sich, möglichst wenig zu trinken. Ihre Füße schmerzten, ihr Hals war ausgetrocknet und brannte, aber sie rationierte ihren Wasservorrat, indem sie nur alle paar Stunden winzige Schlucke nahm. Tagsüber richtete sie sich nach dem Sonnenstand, nachts nach den Sternen, wie Jabari es ihr beigebracht hatte.

Am Abend des zweiten Tages erkannte sie deutliche Kamelspuren im Sand, die in westöstliche Richtung wiesen: die Karawanenroute. Sie stieg von ihrem Kamel, leckte sich die trockenen Lippen und begann, kleine Steine aufzuhäufen, die sie zu einem Pfeil formte, der in die Richtung zeigte, aus der sie gekommen war. Sämtliche Knochen taten ihr weh, und ihre Kehle schrie nach Wasser. Als sie fertig war, überkam sie eine tiefe Verzweiflung. Woher sollten die Männer wissen, dass sie es waren? Sie brauchte eine deutlichere Kennzeichnung. Ihr Schal!

Jillian riss sich das smaragdgrüne Tuch herunter. Es flatterte wie eine Fahne in ihrer Hand.

Den Schal hatte Graham ihr in Kairo gekauft. »Grün wie das ruhige Gras einer Oase, wie die erfrischenden Ruhepole des müden Wüstenwanderers.« Dazu hatte er gegrinst, wie immer, wenn seine poetische Ader durchkam. Er sagte ihr, sie sollte stets Edelsteinfarben tragen, weil sie zu ihrem Wesen passten. »Du bist nicht grau, Jilly. Du bist eine Flamme, du hast die Energie eines lodernden Feuers, bist wie das grüne Gras, wie der tiefblaue Ozean. Aber du bist nicht mehr das Grau der Stille.«

Bei der Erinnerung an seine Worte wurde ihr zum Heulen. Sie befestigte den Schal an den Steinen und betete, dass die Khamsin ihn fanden, ehe der Wüstenwind ihn mit sich forttrug und nur noch ihre Knochen übrig wären, ausgeblichen von der unbarmherzigen Sonne. Der Wind schlug den dünnen Stoff wie eine Beduinenfrau, die einen Teppich ausklopfte. Ob in einem Monat noch letzte Fäden übrig waren, falls niemand kam und Graham und sie hier draußen starben?

Der Gedanke war zu entsetzlich. Jillian wischte sich energisch die Tränen von den Wangen, für die sie den Wind und die Sonne verantwortlich machte. Dann ging sie zu Graham zurück. Als das Beduinenkamel zusammenbrach, ging sie zu Fuß weiter, müde und erschöpft, während die gleißende Sonne auf sie niederbrannte.


Krank vor Sorge suchte Graham den Horizont ab. Die Nachricht, die Jillian ihm dagelassen hatte, steigerte seine Angst nur noch. Während er schlief, hatte sie sich aufgemacht, die Karawanenroute zu suchen, um dort eine Markierung anzubringen.

Er sattelte Salomon und folgte ihren Spuren. Am liebsten wäre er so schnell wie möglich geritten, doch das war unvernünftig. Salomon war viel zu schwach und lahmte. Außerdem war es streckenweise schwierig, die Spuren seiner Frau im Sand auszumachen, und wenn er nicht genau aufpasste, könnte er im Kreis wandern und sie womöglich nie finden.

Stunden später entdeckte er eine einsame Gestalt ein ganzes Stück vor sich im grellen Licht. Graham trieb Salomon in einen Galopp. Hinter ihm wirbelte eine Staubwolke auf, als er das sich sträubende Tier über den Sand hetzte. Sobald er bei ihr war, sprang er mit dem Wasserbeutel in der Hand ab. Jillian lag regungslos da. Er rannte zu ihr. Beim Atmen entwichen ihren ausgedörrten Lippen rasselnde Laute. Die Austrocknung hatte eingesetzt, und sie besaßen zu wenig Wasser.

Verzweifelt betrachtete er seine Frau. Der Wind hob eine Ecke ihres weißen Schals, strich ihr übers Gesicht und zog eine Locke ihres flammendroten Haars hervor. Rotes Haar, das im heulenden Wüstenwind wehte, genau wie in Grahams Alptraum.

Jillians Lider flatterten auf. Diese grünen Augen, leuchtend wie glänzende Smaragde, starrten ihn mit einem Ausdruck schmerzlicher Resignation an, bevor sie wieder zufielen. Seine Frau lag im Sterben.

»Nein, Jilly, nein! Verlass mich nicht!«, stöhnte er. Die gnadenlose Sonne brannte ihm auf den Leib und verhöhnte seinen Schmerz.

Graham warf den Kopf in den Nacken. Seine Schreie verhallten in der kargen Wüste und wurden vom Staub verschluckt.

Sturm der Leidenschaft: Er suchte einen verborgenen Schatz - und fand die Liebe seines Lebens
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