Kapitel 12

Graham starrte Kenneth entsetzt an.

Wie konnte das geschehen? Er brauchte Geld, denn am Yorkshire-Anwesen waren zahlreiche Reparaturen notwendig. Und die dortigen Pächter hatten letztes Jahr eine erbärmliche Ernte eingefahren. Um die Verluste abzufangen, plante er, Araberpferde zu züchten, mit Prometheus als Zuchthengst und den neuen Stuten, die er von den Khamsin gekauft hatte.

Vor allem aber brauchte er Geld, um Stranton zu ruinieren. Einen Moment lang wollte er zurück in die ägyptische Wüste fliehen, wieder Rashid sein, der Beduinenkrieger, der Feinde rücksichtslos mit dem Schwert niederstreckte. Aber das hier war England, und die einzigen Waffen, die ihm zur Verfügung standen, waren Geld und Macht. Ohne Geld aber hatte er keine Macht.

»Wir können natürlich jederzeit nach einem Schatz graben«, scherzte Kenneth, auch wenn er sichtlich besorgt war.

Graham hingegen entdeckte einen Hoffnungsschimmer. »Da gibt es tatsächlich einen, von dem ich bisher niemandem etwas erzählt habe. Ich erfuhr als Junge in Ägypten von ihm. Und falls ich ihn finde, werden unsere Verluste geradezu lächerlich wirken.«

Kenneth sah ihn interessiert und voller Hoffnung an. »Was für ein Schatz?«

»Ein Vermögen, das deine kühnsten Träume übertrifft. Der Schatz liegt tief unten in einem ägyptischen Grab.«

Sein Bruder lehnte sich vor. »Erzähl weiter!«

»Erinnerst du dich an Vaters Geschichte von Khufus magischer Wunschkiste?« Als Kenneth nickte, fuhr er fort: »Die al-Hajid zwangen mich, nach der Almha zu graben, der heiligen Goldscheibe ihrer Feinde, der Khamsin. Dabei fand ich eine alte Papyruskarte, die in zwei Hälften gerissen war. Ich erinnerte mich an die Hieroglyphen, die Vater mir beigebracht hatte, und erkannte, dass sie zu Pharao Khufus verlorenem Schatz führten.«

Kenneth riss die blauen Augen weit auf, so dass Graham grinsen musste. Seit ihr Vater ihnen die Legende damals erzählte, träumten sie beide von dem großen Schatz in der westlichen Wüste Ägyptens.

»Die erste Hälfte der Karte verrät, wo der Schlüssel ist, mit dem das Grab sich öffnen lässt. Er ist in der Großen Pyramide von Gizeh versteckt. Mir … fehlte die zweite Hälfte des Papyrus, die angibt, wo in der Wüste sich das Grab befindet.«

»Und jetzt ist die zweite Hälfte wieder da?«, fragte Kenneth.

»Al-Hamra hat sie. Ich bat Jillian, mir eine Kopie zu machen.«

Kenneths Hoffnung bekam einen deutlichen Dämpfer. »Das heißt, der Earl könnte den Schatz auch finden, wenn er wollte.«

»Er hat den Schlüssel nicht und keine Chance, ihn zu finden.«

Sein Bruder lehnte sich zurück und trommelte wieder mit den Fingern auf den Tisch. »Es wäre ein ziemlicher Aufwand, aber vielleicht lohnt er sich. Du kannst mit deiner jungen Braut nach Ägypten reisen, quasi als Flitterwochen.«

Graham starrte ihn entsetzt an.

»Was ist?«, fragte Kenneth.

»Wir müssen eine andere Lösung finden«, antwortete Graham gereizt. »Ich reise nicht nach Ägypten, und ich werde ganz gewiss nicht meine Frau dorthin bringen.«

»Graham …«

»Meine wunderschöne Braut in die Wüste zu bringen – meine rothaarige Braut …«

»Der Alptraum«, murmelte Kenneth zerknirscht. »Tut mir leid, Graham, den hatte ich ganz vergessen. Du hast recht, wir finden eine andere Lösung. Khufus Schatz ist ohnehin ein Mythos.«

»Was ist Khufus Schatz?«

Beide Männer drehten sich zur Tür, wo Jillian stand.

»Guten Morgen, Liebes«, begrüßte Graham sie munter, aber mit einem warnenden Seitenblick zu Kenneth. »Komm und setz dich! Das Frühstück wird gleich gebracht werden.«


Sie war in einem leeren Bett aufgewacht und hatte die Wärme ihres Mannes vermisst. Deshalb hatte sie sich eilig angezogen und war hinuntergegangen. Sie hatte das ungute Gefühl, dass im Haushalt nicht alles zum Besten bestellt war. Graham verheimlichte ihr etwas, das spürte sie schon länger.

Sie setzte sich neben ihn und sah ihn fragend an. »Wer war Khufu?«

Die beiden Brüder tauschten Blicke, bevor Graham nachdenklich mit dem Finger über den Tisch strich. »Er war der Pharao, um den es auf der Karte geht, die zu kopieren ich dich bat.«

»Ach, Graham, das wollte ich dir schon längst sagen«, erwiderte Jillian unglücklich. »Ich konnte sie nicht kopieren, weil Vater mich die ganze Zeit bewachen ließ.« Als sie sah, wie enttäuscht er war, fügte sie eilig hinzu: »Ich kann es noch einmal versuchen. Jetzt, da ich verheiratet bin, habe ich mehr Freiheiten.«

»Ja, tu das, Jilly, bitte! Wir brauchen die Karte«, bat er sie leise und eine Nuance zu verzweifelt, als ginge es ihm nicht um die Karte, sondern um etwas weit Wichtigeres, um einen Herzenswunsch.

»Erzähl mir von der Geschichte, über die ihr spracht!«, sagte sie.

Der Herzog nickte. »Ja, gut. Also, Khufu war der Pharao, für den die Große Pyramide von Gizeh gebaut wurde. Seine Söhne unterhielten ihren Vater gern mit wilden Geschichten, und in einer von ihnen ging es um einen mächtigen Magier, der sich am Liebhaber seiner Frau rächen wollte. Er schuf ein kleines Wachskrokodil und ließ es von seinem Diener in den See werfen, in dem der Liebhaber badete. Im Wasser wurde das Krokodil lebendig und verschlang den jungen Mann.«

Beim Erzählen verlieh Graham der Geschichte mit seiner tiefen Stimme eine besondere Dramatik. Jillian lauschte ihm gebannt.

»Beim Abendessen mit Pharao Nebka rief der Magier das Krokodil herbei, das den Liebhaber seiner Frau wieder ausspie, gänzlich unversehrt. Der Magier befahl dem Tier, den Mann mitzunehmen, und daraufhin verschwanden beide, Mann und Reptil, auf Nimmerwiedersehen.«

»Der Legende nach war Pharao Khufu so fasziniert von der Geschichte, dass er seinen Sohn mit einer magischen Wunschkiste belohnte, die alle Träume wahr werden ließ. In diese Kiste legte er ein kleines Krokodil aus Gold mit einem Smaragd von der Größe eines Hühnereis im geöffneten Maul, als Tribut an Sobek, den Krokodilgott«, ergänzte Kenneth.

»Der schlaue Pharao jedenfalls«, erzählte Graham weiter, »sagte seinem Sohn, er würde den Schatz erst nach seinem Tod bekommen, und auch dann nur, wenn es ihm gelang, ihn zu finden. Khufu vergrub die Kiste in der westlichen Wüste und zeichnete eine Karte mit Hinweisen auf das Versteck. Zunächst allerdings musste man einen Schlüssel suchen, um das Versteck zu öffnen, und dieser Schlüssel wiederum ist in Khufus Grab versteckt.«

Jillian sah Graham mit großen Augen an. »Und die Karte, die zu dieser wertvollen Wunschkiste führt … sie ist der Papyrus, den du brauchst?«

Er blickte sie seltsam an. »Ja, aber diese Wunschkiste ist nicht bloß ein sehr wertvoller Schatz, sondern viel mehr. Vater sagte, sie hätte die Macht, Träume zu erfüllen – selbst solche Träume, die unerreichbar scheinen.« Dann zuckte er mit den Schultern. »Es ist ein Mythos. Der Schatz könnte dort sein oder auch nicht.«

»Ich werde tun, was ich kann, um die Karte zu kopieren«, versprach sie.

»Mach das, Jilly, so bald wie möglich. Wir brauchen die Karte. Ich brauche die Kiste.«

Für einen kurzen Moment zeigte sich echte Verzweiflung auf seinem Gesicht, doch gleich darauf war sein Ausdruck wieder verschlossen wie immer. Jillian beobachtete, wie Graham sich Eier von den dampfenden Servierplatten nahm, welche die Diener nach und nach auftrugen. Warum war ihr Mann so entschlossen, diesen Schatz zu suchen? Glaubte er tatsächlich an dessen magische Kräfte?

Und würde der gehetzte Blick aus seinen dunklen Augen verschwinden, wenn er ihn fand?

Sturm der Leidenschaft: Er suchte einen verborgenen Schatz - und fand die Liebe seines Lebens
titlepage.xhtml
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_000.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_001.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_002.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_003.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_004.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_005.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_006.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_007.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_008.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_009.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_010.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_011.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_012.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_013.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_014.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_015.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_016.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_017.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_018.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_019.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_020.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_021.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_022.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_023.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_024.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_025.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_026.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_027.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_028.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_029.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_030.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_031.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_032.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_033.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_034.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_035.html