Kapitel 3
Ein grauer Geist starrte Jillian aus dem Spiegel entgegen. Wie immer war sie in dumpfes Grau gewandet, diesmal in glanzloser Seide. Winzige Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Ihr Versuch, tief durchzuatmen, wurde von dem Walknochenkorsett vereitelt.
Während ihre Zofe an dem Kleid herumzupfte, musste Jillian sich zusammennehmen, um keine Grimasse zu ziehen. Ihr ganz und gar nicht modisches Ballkleid hatte ein hochgeschlossenes Oberteil und war insgesamt sehr streng geschnitten. Wie gern würde sie nur ein einziges Mal Smaragdgrün tragen und ihre mit winzigen Sommersprossen gesprenkelten Schultern zeigen. Dieselben zarten Sommersprossen, die im gedämpften Licht des Bordells nicht zu sehen gewesen waren.
Ob Graham Sommersprossen mochte? Würde er in einem anderen Leben jede einzelne von ihnen küssen, ihr mit heißen Lippen seine Reverenz erweisen?
Graham, der gutaussehende Adlige, der ihr die Unschuld nahm. Er hatte einen ganz leichten Akzent gehabt, den sie nicht erkannte, aber seine Haltung wie seine Statur ließen keine Zweifel daran, dass er wohlhabend sein und eine hohe Position bekleiden musste. Wie entsetzlich peinlich wäre es, sollte sie ihm heute Abend begegnen!
Und wie überaus schön, ihn wiederzusehen.
Jillian strich sich übers Kleid. Elfenbeinfarbene Spitze ragte unten aus den langen Ärmeln hervor. Jillians Haar war zu einem festen Knoten aufgesteckt, der ihren Kopf schmerzen ließ. Lord Stranton bestand darauf, dass seine Tochter stets sehr streng frisiert war, empfand er ihr rotes Haar doch als Handicap. In einem Anflug von Rebellion zupfte Jillian einige Strähnen frei.
In Radcliffe würde sie kein Korsett tragen, beschloss sie, und erst recht keine so strenge Frisur.
In der Kutsche saß sie ihrem Vater gegenüber neben ihrer Anstandsdame, Tante Mary. Ihre Mutter war den Tag über in ihren Gemächern geblieben. Sie gab vor, Migräne zu haben. Jillian wandte sich an ihre Tante, den einzigen Menschen, der ihr jemals zuhörte.
»Ich habe von dem Wirtschaftsindex gelesen, den Mr. Dow veröffentlichte. Er hat außerdem noch einen Eisenbahnindex geschaffen«, bemerkte sie.
Ihre Tante sah sie fragend an. »Glaubst du, Eisenbahnaktien sind immer noch eine lohnende Investition?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie alle Konkurs gehen wie Baltimore & Ohio. Mich interessiert vor allem, wie der Präsidentschaftswahlkampf wird. Da dürfte manches klarer werden.«
Nach einem kurzen Blick zu Jillians Vater, der schweigend aus dem Kutschenfenster sah, senkte ihre Tante die Stimme. »Inwiefern?«
»Nun, Mr. Bryan plädiert für den Silberstandard, während Mr. McKinley den Goldstandard verteidigt.«
»Und was glaubst du, wer gewinnen wird?«
Jillian überlegte. »Mr. McKinley. Er vertritt die amerikanischen Wirtschaftsinteressen, und Handel und Industrie bleiben die wahren Mächte in Amerika. Außerdem kann nach dem Sherman Silver Purchase Act niemand mehr ernstlich erwägen, die Währung durch Silber zu stützen.«
»Demnach sollte Mr. Pepperton also über Gold nachdenken?«
»Mr. Pepperton tat gut daran, seine Anteile an den Silberminen zu dem Zeitpunkt zu verkaufen, als er es tat.«
»Mr. Pepperton wurde auch gut beraten«, murmelte Mary.
Jillian unterdrückte ein Lächeln. Der mysteriöse Mr. H. M. Pepperton war eine Figur, die Mary sich nach dem Tod ihres amerikanischen Ehemanns ausgedacht hatte. Horace hatte ihr nur ein kleines Erbe hinterlassen, von dem Marys Anwälte ihr ein äußerst bescheidenes Einkommen zukommen ließen. Jillian dachte daran, dass Mr. Pepperton Marys Geld bereits verdoppelte, indem er es in mehrere Unternehmen investierte oder zum richtigen Zeitpunkt Aktien verkaufte.
»Mr. Pepperton erhält guten Rat, weil er seinem Berater zuhört – obwohl dieser Berater eine Frau ist«, flüsterte Jillian.
Als hätte er erst jetzt ihre Unterhaltung mitbekommen, wandte ihr Vater sich stirnrunzelnd zu Jillian. Er fixierte sie mit seinem strengen Blick – kritisch, urteilend, als wäre sie ein Kunstgegenstand bei einer Versteigerung.
»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nicht schwätzen sollst, Jillian? Nichts schreckt einen Mann mehr ab als eine Frau, die vorgibt, so klug wie ein Mann zu sein. Ich erwarte von dir, dass du dich heute Abend untadelig und respektabel verhältst. Deine Verlobung mit Mr. Augustine ist mir wichtig. Ich brauche seine Hilfe, um meinen Reformantrag im Unterhaus durchzubekommen. Wird er angenommen, dürfte meine politische Karriere ein gutes Stück vorankommen. Und als Gegenleistung für deine Hand versprach Mr. Augustine einen hochanständigen Ehevertrag.«
Mehr noch als letzte Nacht kam Jillian sich in diesem Moment wie eine Hure vor. Sie wurde verkauft, um das Säckel ihres Vaters aufzufüllen. Mitfühlend drückte Mary ihr kurz die Hand.
Gleich darauf hielt die Kutsche abrupt an. Jillian stieg aus. In ihren weichen Ziegenlederschuhen bewegte sie sich lautlos über den roten Teppich, der zum Eingang der Huntlys führte. Sie rang sich ein Lächeln ab, als sie durch die große Bogentür des eleganten Herrenhauses in Mayfair schritt, flankiert von ihrem rothaarigen Vater in Frack und weißer Krawatte sowie ihrer dunkelhaarigen Tante im schwarzen Seidenkleid. In einem kleinen Damensalon legten sie ihre Capes ab, wobei Jillian sich wie ein Vogel fühlte, dem die Federn ausgerupft wurden. Dennoch blieb sie bei ihrem künstlichen Lächeln, als sie die geschwungene Mahagonitreppe in den Ballsaal hinuntergingen und der Majordomus sie mit lauter Stimme ankündigte.
Kristallkronleuchter blinkten über ihnen und warfen ein weiches Licht auf die Dutzende Paare auf der Tanzfläche. Die Röcke der Damen schwangen sich zu runden Bögen aus Seide, Satin, Spitze und Taft. Wie bunte Blumen, die ihre Knospen öffnen, dachte Jillian.
Sie folgte ihrer Tante zu einem Kanapee, in dessen Nähe eine ganze Gruppe schmallippiger Matronen saß. Die Anstandsdamen ließen ihre jungen Schutzbefohlenen keine Sekunde aus den Augen, auf dass sich keine Hand zu weit vorwagte oder gar Gentlemen etwas anderes als die behandschuhten Finger küssten.
Jillian umklammerte den Elfenbeingriff ihres geschlossenen Spitzenfächers. Zwischen den schwarzgewandeten Matronen fühlte sie sich wie ein Pferd in einem kleinen Korral, bereits gekauft und bezahlt. Bernard stand in der Nähe und unterhielt sich mit ein paar anderen Gästen.
Ein letzter Ball, ein letzter Tanz, dann war sie frei. Das Dampfschiff nach Amerika legte in fünf Tagen ab. Fünf Tage noch, dann war sie an Bord!
Doch als Bernard kam und ihr Vater ihm herzlich die Hand schüttelte, hatte Jillian das ungute Gefühl, dass es in fünf Tagen zu spät sein könnte. Die Geschäftsmänner schlossen offensichtlich gerade eine profitable Transaktion ab.
Ängstlich starrte sie in Bernards gerötetes Gesicht mit dem gewachsten Schnurrbart. Sie stellte sich vor, wie er sich in der Hochzeitsnacht über sie beugte, sich heftig atmend auf sie legte, so dass sein wabbeliger Bauch sich an ihrem rieb. Trotzdem zwang sie sich, sein Lächeln zu erwidern, als er zu ihnen kam.
»Mrs. Huntington«, begrüßte er Jillians Tante mit einer förmlichen Verbeugung.
»Bernard.« Mary bedachte ihn mit einem unterkühlten Blick, den er jedoch ignorierte und sich gleich Jillian zuwandte.
»Jillian, meine Teure.« Er beugte sich vor und küsste ihre Hand. Jillian schluckte ihren Ekel hinunter. »Ich bat Ihren Herrn Vater in aller Form um Ihre Hand. Er gab mir seinen Segen und sagte mir, Ihr würdet meine Frau werden. Wir heiraten im Juli und verbringen die Flitterwochen in Bath. Vortrefflich, nicht wahr?« Er strahlte.
Ach, Vater! Meine Meinung zählt wohl gar nichts.
»Ja, fürwahr vortrefflich«, sagte Mary tonlos.
Jillian versuchte, sich ihre Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. »So bald schon?«
»Je eher, desto besser, oder, meine Teure? Ich würde ungern länger als nötig warten.« Er senkte die Stimme und fuhr fort: »Ich weiß, wie scheu und jungfräulich Sie sind, aber Sie haben in der Hochzeitsnacht nichts von mir zu befürchten.«
Er grinste affektiert. Bernard mit dem lüsternen Blick, den schmalen Lippen und dem gewachsten Bart … Jillian dachte an die Leidenschaft, die sie in Grahams Armen empfunden hatte, und daran, wie hemmungslos und wagemutig sie gewesen war. Sie erinnerte sich an seine Lippen auf ihren, an das Verlangen, das sie erfüllt hatte …
»Selbstverständlich hat sie nichts zu befürchten«, bemerkte Mary mit dem Anflug eines Lächelns. Sie warf Jillian einen Blick zu, der ihrer Nichte Mut machen sollte. Prompt streckte Jillian die Schultern durch und wollte Bernard sagen, dass sie ihn auf keinen Fall heiraten konnte. Doch die Worte kamen ihr nicht über die Lippen, denn in diesem Augenblick näherte ihr Vater sich.
Sie ballte ihre Hand so fest, dass sie beinahe den Griff ihres Fächers durchbrach. Erst als ihr Vater schließlich mit Bernard aus dem Ballsaal ging, atmete sie wieder. Sie wollten mit ein paar Politikerfreunden Whist spielen. Ihr Vater würde verlieren, dafür aber mit ein paar mächtigen Beamten zusammensein. Und nun, mit Bernards Geld, konnte er es sich leisten, zu verlieren.
Wie schwach Jillian war! Eine einzige Nacht in Grahams Armen, während der sie wahre Leidenschaft erfahren hatte und ihr Körper zu einem Leben voller Wonne erwacht war! Nie wieder.
Er kam spät, wie man es von einem Mann in seiner Position erwartete. Drinnen suchte Graham den Saal nach seinem rothaarigen Feind ab.
Wie ein Panther schlich er außen um die Tanzfläche herum. Er achtete weder auf das Getuschel der Damen, an denen er vorbeiging, noch auf die bewundernden Blicke oder die eiligen Verneigungen, die ihm galten. Wie immer hielt er seine weißen Tanzhandschuhe locker in der Hand. Er tanzte nur selten, und wenn, dann ausschließlich mit ein paar ausgewählten Damen. Graham wollte keine Spekulationen über eine bevorstehende Vermählung.
Letztes Jahr hatte Kenneth sich in denselben Kreisen bewegt. Er war mit seinem ägyptischen Akzent und seiner ägyptischen Vergangenheit vor diese Leute getreten. Geld und Rang sorgten dafür, dass sie ihn akzeptierten, obgleich er ihnen so fremd war wie eine Pyramide mitten in London. Sie hielten ihn für einen Wilden.
Graham hingegen fiel nicht auf. Er fügte sich nahtlos ein. Sein Akzent war so gut wie verschwunden, sein Benehmen durch und durch englisch. Sie glaubten, er wäre einer von ihnen, aufgezogen von britischen Eltern. Die Wahrheit würde sie sämtlichst aus ihren feinen Schuhen heben: dass er von einem ägyptischen Kriegerstamm entführt worden war, gelernt hatte, zu töten, und weit wilder war als sein Bruder …
Die Gesichter vor ihm verschwammen zu einer trüben Masse. Unkonzentriert lächelte er hier, machte dort eine höfliche Bemerkung und ging weiter. Heute Abend war er viel zu rastlos, um sich in harmloses Geplauder verwickeln zu lassen.
Er schaute sich um, ob er irgendwo rotes Haar entdeckte. Nein, nirgends war etwas zu sehen. Bis … er sich umdrehte und sein Blick auf einen hochaufgesteckten Knoten rotgoldener Locken fiel. Sein Herz raste. Das war sie.
Er entdeckte sie am anderen Ende des überfüllten Saals. Sie stach heraus wie eine Flamme vor einem rauchverhangenen Horizont. Graham bekam keine Luft mehr. Er konnte weder denken noch handeln, sondern stand einfach nur da, die Lippen ganz leicht geöffnet. Das rote Haar zog ihn in einen Bann. Er hatte diese Masse leuchtender Locken bisher noch nicht in ihrer ganzen Pracht gesehen. Noch weniger hatte er damit gerechnet, dass sie sich wie der klebrige Seidenfaden einer Spinne um sein Herz schlingen würden.
Unweigerlich sah er sie im Geiste nackt vor sich, glaubte, immer noch ihre Haut an seiner zu fühlen, als ihre erhitzten Leiber sich vereint hatten – Fremde, die eine kurze, fleischliche Verbindung eingegangen waren.
Geteilte Leidenschaft. Verborgene Geheimnisse.
Seine Selbstbeherrschung und Disziplin zerbrachen wie dünnes Glas, und er ging direkt auf sie zu. Die erstaunten Blicke bemerkte er gar nicht.
Kaum zwei Meter vor ihr blieb er stehen und wartete, bis sie ihn sah. Sie drehte sich um, und für einen Moment schauten sie einander stumm in die Augen. Ebenso gut hätten sie die einzigen Menschen in diesem Saal sein können.
Ein unbeschreibliches Verlangen erfüllte ihn, packte ihn mit stählernen Krallen wie die Sucht den Opiumabhängigen. Graham starrte sie an, in Gedanken ganz bei der Süße und Leidenschaft, die er in ihren Armen genossen hatte. Er wollte sie wieder in den Armen halten, und sei es auch nur für einen Tanz. Sie war sein schlimmster Alptraum, doch konnte er nichts dagegen tun, dass er sie begehrte.
Obwohl sein Instinkt ihn warnte, ihn geradezu anschrie, nicht mehr an die Nacht zu denken, auf der Stelle zu gehen und alles hinter sich zu lassen, hörte er nicht auf ihn. Graham, der distanzierte Herzog, der selten tanzte, streifte sich seine weißen Handschuhe über und brachte seine Absicht so überdeutlich zum Ausdruck.
»Sieh dir den Duke of Caldwell an – wie umwerfend Graham aussieht!«, flüsterte Mary.
Jillian stockte der Atem. Der Duke of Caldwell? Zitternd griff sie sich mit einer Hand ins Haar. Graham. Ihr Liebhaber.
In seinem eleganten schwarzen Abendanzug machte er eine prächtige Figur. Alle Frauen reckten die Hälse, um ihn anzustarren. Elfenbein- und Spitzenfächer wedelten wie ein Schwarm wild gewordener Schmetterlinge. Überall wurde getuschelt, und mehrere bewundernde Augenpaare richteten sich wie gebannt auf ihn, als er sich einen Weg zu ihr bahnte. Junge Mädchen seufzten sehnsüchtig, ältere Damen schmolzen sichtlich dahin. Jillian indessen stand wie erstarrt da, während ihr das Herz in der Brust hämmerte.
Sie erinnerte sich nur zu gut daran, wie atemberaubend er nackt ausgesehen hatte, an die kräftigen Schultermuskeln und den breiten ebenmäßigen Rücken.
Heute Abend war sein phantastischer Körper in strenge schwarze Seide, eine weiße Weste und eine weiße Krawatte gehüllt. Sein dichtes blauschwarzes Haar fiel ihm leicht in die Stirn. Die durchdringenden dunklen Augen gaben nichts von dem preis, was in ihm vorgehen mochte.
Der fließend geschmeidige Gang, mit dem er auf sie zukam, hatte etwas von einer Raubkatze. Jillian musste unwillkürlich an einen Leoparden denken, einen schwarzen Leoparden, der sich erbarmungslos anschlich. Und sie war seine Beute.
Sie wappnete sich und lächelte tapfer.
Eine erstaunliche Verwandlung ging unter den Matronen vor sich, als er näherkam. Sie kicherten leise, verneigten sich und schienen geradezu von innen heraus zu leuchten. Als er stumm vor Jillian stehen blieb, blickte sie zu ihrer Tante. Tante Marys strenger Blick wurde sichtlich weicher, bevor sie sich elegant vor dem Herzog verneigte.
»Euer Gnaden. Wie schön, Euch wiederzusehen! Es hat mich sehr gefreut, Euch bei der Gesellschaft der Knightsbridges kennenzulernen.«
Graham nickte, ohne die Augen von Jillian abzuwenden. »Mrs. Huntington, wären Sie so freundlich, mich der jungen Dame in Ihrer Obhut vorzustellen?«
Seine Stimme klang sanft und voll zugleich, wie guter Whiskey, der eine ausgetrocknete Kehle hinunterrinnt. Oder wie das Brennen eines Backenbarts auf zarter Haut, so heiß wie seine Küsse …
Bei dem Gedanken daran griff Jillian sich unwillkürlich mit einer Hand an den errötenden Hals. Ihre Tante sah sie an. »Euer Gnaden, Lady Jillian Stranton, Tochter des Earl of Stranton, meine Nichte. Lady Jillian, Seine Gnaden, der Duke of Caldwell.«
Jillian verneigte sich tief. Ihre Knie drohten jederzeit nachzugeben, und sie staunte, dass sie nicht direkt vor ihm zu Boden sank. Graham nickte zu ihrer Tanzkarte mit dem kleinen Stift daran.
»Dürfte ich um das Vergnügen des nächsten Walzers bitten?«, fragte er.
Ihre Lippen bewegten sich. Bernard hatte bereits um den Tanz angehalten. »Ich … ich fürchte, der nächste Tanz ist schon vergeben, Euer Gnaden.«
»Dann werde ich mit dem Tanz vorliebnehmen müssen, den Sie noch frei haben.«
Graham nahm ihre Tanzkarte und trug seinen Namen ein. Gleich darauf begegneten ihre Blicke sich aufs Neue. Er ließ die Tanzkarte los und streifte ihr Handgelenk ganz sachte. Sogleich schien sie eine Hitzewelle zu überfluten. Der kleine Stift baumelte an ihrer zitternden Hand.
»Bis dann«, murmelte er.
Jillian sah auf ihre Karte. Bis dann.
Den Walzer mit Bernard brachte Jillian in einer Mischung aus Vorfreude und fürchterlicher Angst hinter sich. Der Duke of Caldwell war ihr Liebhaber gewesen. Der Duke of Caldwell. Der mysteriöse Herzog mit den dunklen Augen, der im ganzen Ballsaal ein eifriges Flüstern und Tuscheln ausgelöst hatte. Der begehrenswerte, wohlhabende und rätselhafte Herzog.
Ihr Blick fiel auf die breite Stirn ihres Tanzpartners, die kräftigen Wangenmuskeln und den dicken gewachsten Schnauzbart über den dünnen geschürzten Lippen. Beim Tanzen neigte er sich ein wenig zu sehr nach rechts, was wie ein Humpeln anmutete. Und er dünstete eine Wolke von kräftigem Eau de Cologne aus, die jedoch kaum den Gestank seines säuerlichen Schweißes zu übertönen vermochte. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen, obwohl der Walzer eben erst begonnen hatte, und wieder vollführte Bernard eine ungeschickte Drehung, bei der Jillian beinahe stolperte. Sie fing sich ab, versuchte, sich zu konzentrieren – und trat ihm auf den Fuß.
»Jillian, meine Teure, achten Sie auf Ihre Füße!«, ermahnte er sie.
Sie murmelte eine Entschuldigung und achtete besonders sorgfältig auf ihre Schritte. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie den Herzog, der sich mit einigen der Matronen unterhielt. Er blickte auf und sah ihr geradewegs in die Augen, worauf ihr entsetzlich heiß wurde. Hastig wandte sie den Blick wieder ab.
»Bernard, was wissen Sie über den Duke of Caldwell? Ich habe ihn nie zuvor bei einer Gesellschaft oder einem Ball gesehen.«
»Jillian, es ist unhöflich, über andere zu klatschen.«
»Er bat mich um den nächsten Tanz. Wenn ich mich mit ihm unterhalten soll, möchte ich keine unverzeihlichen Fehler machen.«
Bernard nickte wohlwollend. »Nun dann, der Herzog verwaiste mit sechs Jahren, als seine Familie Ägypten bereiste und eine Horde wilder Araber ihre Karawane überfiel. Die Heiden metzelten alle nieder. Er versteckte sich hinter einem Felsen und sah alles mit an.«
»Guter Gott, der arme Junge!«, sagte sie, entsetzt bei der Vorstellung eines jungen Grahams, der gezwungen war, die brutale Ermordung seiner Eltern zu bezeugen.
»Alle glaubten ihn und seinen jüngeren Bruder Kenneth, den Viscount Arndale, tot. Ein englisches Paar, das zufällig vorbeikam, rettete den Herzog und nahm ihn auf. Sie waren schon älter, recht exzentrisch und reisten gern in Arabien. Kenneth wurde von einem heidnischen ägyptischen Stamm aufgezogen. Sein Großvater fand ihn in Ägypten und brachte ihn nach England zurück, um ihn zu seinem Erben zu erziehen. Letztes Jahr bekam Kenneth den Titel, nachdem sein Großvater gestorben war. Und als er nach Ägypten reiste, um bei einer Ausgrabung dabei zu sein, fand er heraus, dass sein älterer Bruder in Kairo lebte!«
»Er fand ihn wieder, nach Jahren, in denen er ihn verloren geglaubt hatte?«
»Wie es scheint, erlitt der Herzog einen Gedächtnisverlust, als er mitansah, wie seine Eltern ermordet wurden. Seine Erinnerung kehrte erst zurück, als er seinem Bruder begegnete. Kenneth trat den Titel an ihn ab, was auch gut so ist, denn der Viscount heiratete eine heidnische Araberin, eine schmutzige Eingeborene ohne gesellschaftlichen Rang, deren uneheliche Tochter er adoptierte. Wie dem auch sei, die Tristans sind wohlhabend, und der alte Herzog genoss hohes Ansehen.«
»Sie wissen offenbar einiges über sie.«
»Ich lege Wert darauf, über jede reiche und mächtige Familie Bescheid zu wissen. Es ist politisch hilfreich.«
Jillian erinnerte sich an den gehetzten Blick in Grahams dunklen Augen. »Mir scheint er eine tragische Gestalt zu sein.«
»Zweifellos. Obwohl er von diesem englischen Paar erzogen wurde, fügten sie ihm doch einigen Schaden zu, indem sie ihn zwangen, in Arabien zu leben, unter diesen widerwärtigen schmutzigen Heiden.«
Jillian vermutete, dass jener Ausdruck, den sie in Grahams Augen bemerkt hatte, nicht seinem Leben unter heidnischen Arabern geschuldet war. Vielmehr spürte sie, dass er ein schreckliches Geheimnis hütete. Oh ja, sie wusste sehr wohl, was es hieß, Geheimnisse zu haben.
Der Walzer endete, und Bernard eskortierte sie von der Tanzfläche zu ihrer Tante zurück. Dabei schaute er sich im Ballsaal nach dem Herzog um.
»Seine Gnaden könnte mir im Parlament recht nützlich sein. Seien Sie also bitte witzig und charmant, und versuchen Sie auf keinen Fall, sich mit ihm über Intellektuelles zu unterhalten.« Er legte einen Finger unter ihr Kinn. »Kein albernes Geschwätz über den jammervollen Zustand der englischen Wirtschaft!«
Sie wurde wütend. »Nein? Ist er denn nicht bejammernswert?«
Bernard lachte. »Jillian, überlassen Sie intellektuelle Gespräche den Männern! Ihr Verstand reicht dafür nicht aus.«
Woher wollte er das wissen? In Sachen Verstand dürfte Bernard wohl kaum fachkundig sein, denn würde man seinen Schädel öffnen, fände sich darunter bestenfalls noch mehr von dem Macassar-Öl, das er sich so großzügig ins Haar schmierte.
»Ja, natürlich, Bernard«, sagte sie.
Er entschuldigte sich, um wieder zu ihrem Vater und dem Whist-Spiel zurückzukehren. Jillians Herz pochte vor Aufregung und Sorge, als der Herzog sich näherte.
Schweigend hielt er ihr seine Hand hin, die sie ebenso schweigend nahm. Er führte sie auf die Tanzfläche zurück und legte die andere Hand an ihre Taille. Selbst durch die Stoffschichten ihrer Kleidung spürte sie noch deutlich seine Hitze. Jillian schluckte, und sie begannen, sich im Walzer zu wiegen.
Ein zweites Mal lag sie in seinen Armen, diesmal vor der versammelten feinen Gesellschaft Londons. Sie umfasste seine seidenverhüllte Schulter fester, während sie sich daran erinnerte, wie sie sich an seinem breiten Rücken festgehalten hatte, als er in sie eindrang …
Wenngleich sie furchtbar nervös war, fiel ihr das Tanzen mit ihm doch um ein Vielfaches leichter als mit Bernard. Er führte sie so sicher, dass sie gleichsam übers Parkett schwebte. Verwundert blickte sie zu ihm auf.
»Ihr habt ausdrücklich gesagt, wir dürften uns nie wiedersehen. Warum der Tanz?«, fragte sie ohne Umschweife.
»Vielleicht, damit wir sprechen können, ohne dass uns sämtliche Klatschmäuler belauschen.«
»Nun gut. Reden wir also.«
Er lachte leise. »Sie sind ziemlich direkt.«
Nur bei dir, dachte sie. Bei jedem anderen war sie ein stilles rothaariges Mäuschen, ein bloßer Schatten ihrer selbst.
Er führte sie in eine sanfte Drehung, der sie mühelos folgen konnte. Ja, im Tanz passten sie ebenso gut zusammen wie letzte Nacht. Bei dem Gedanken errötete sie prompt und hoffte inständig, dass er es nicht bemerkte.
»Es steht Ihnen, wenn Sie erröten«, sagte er lächelnd.
Jillian bedachte ihn mit einem strengen Blick, der seinen Nettigkeiten ein Ende bereiten sollte. »Ihr wolltet mit mir sprechen, Euer Gnaden? Sagt mir, was Ihr mir mitzuteilen habt.«
Er sah ihr in die Augen. »Möglicherweise wollte ich Ihnen lediglich ein Kompliment zu Ihrer wahren Haarfarbe machen. Sie ist wie goldenes Feuer oder wie das Glühen eines ägyptischen Sonnenuntergangs.«
»Das ist alles? Ihr wolltet mein Haar preisen? Keine poetische Hommage an meine Augenbrauen und wie sehr sie den Flügeln von Tauben im Flug ähneln? Oder wie zart meine Ellbogen gerundet sind, wie reife Pfirsiche?«
Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. »Ich fürchte, eine solche Eloquenz ist mir nicht beschieden. Fürwahr, ich muss sogar gestehen, im Hinblick auf weibliche Ellbogenrundungen beschämend ungebildet zu sein – abgesehen von jenen, die eher spitz sind und junge Herren bisweilen gern in die Rippen stechen.«
Jillian lachte, worauf alle sich zu ihnen umdrehten und sie anstarrten. Ihre Belustigung war blitzartig verschwunden. Sie durfte nicht riskieren, Aufmerksamkeit zu erregen. Eilig wandte sie das Gesicht vom Herzog ab – von jenem Mann, dem sie ihre Jungfräulichkeit verkauft hatte.
»Ich sagte Euch letzte Nacht, dass es das Beste sei, wenn wir Fremde blieben«, sagte sie und blickte angestrengt über seine Schulter.
»Es war das Beste«, pflichtete er ihr bei, »doch galt es, bevor wir uns in diesem Ballsaal wiederbegegneten. In jenem Augenblick erschien es mir klüger, Sie um einen Tanz zu bitten und mich Ihnen vorzustellen, falls jemand bemerkt, dass wir … einander bereits kennen. Etwas vorzuspielen zählt nicht zu meinen Stärken.«
Sie lächelte verbittert. »Zu meinen durchaus.«
»Aber nur, sofern es nötig ist, würde ich meinen. Sie verstellen sich, aber ich habe dennoch das Gefühl, dass Sie sich danach sehnen, der Welt Ihr wahres Gesicht zu zeigen«, murmelte er.
Erschrocken sah sie ihn wieder an. »Verstellen wir uns denn nicht alle auf die eine oder andere Art? Verbergen wir nicht alle unser wahres Ich vor der Welt? Selbst Ihr, Graham Tristan?«
Um ein Haar wäre er ins Stolpern gekommen, er konnte sich allerdings gerade noch abfangen. »Wer sind Sie?«, fragte er.
»Eine Fremde, die eine Nacht mit Euch verbrachte. Die Tochter eines Adligen, die großen Wert auf Diskretion legt«, antwortete sie unerschrocken. »Und Ihr, Euer Gnaden? Wer seid Ihr?«
Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte seine Lippen. »Ein Herzog, der mit der Tochter eines Adligen tanzt. Ein Fremder, der eine zweite Nacht mit der Fremden verbringt.«
»Hätte ich gewusst, wer Ihr seid …«, begann sie.
»Wären Sie dann gegangen?«
Jillian kniff die bebenden Lippen zusammen, sah ihm jedoch weiter in die Augen. »Nein«, gestand sie, »wäre ich nicht.«
Ihre Antwort schien ihn zufriedenzustellen, genauso wie die Tatsache, dass sie sich nicht verkrampfte, als er sie näher zu sich zog. Eine solche Nähe beim Tanz war an sich schon beinahe ein Skandal – von der Hitze, die zwischen ihren Körpern brannte, ganz zu schweigen.
»Und Ihr, Euer Gnaden, wärt Ihr gegangen, hättet Ihr meine Identität gekannt, hätte ich Euch meinen Namen und auch sonst alles enthüllt?«
Violinen- und Celloklänge erfüllten den Saal, als das Orchester den nächsten Tanz anstimmte. Grahams Duft neckte Jillians Nase: eine schwache Kräuternote, die sie nicht erkannte, gemischt mit dem Geruch von frisch gebadeter Haut und Rasierseife. Sie wartete auf seine Antwort und kam nicht umhin, jenen seltsamen Ausdruck in seinen Augen zu bemerken, der nur für den Bruchteil einer Sekunde da war – zu kurz, als dass sie ihn hätte deuten können. Dann verdunkelte seine Miene sich.
»Nein«, sagte er leise, »ich hätte nicht weggehen können.«
Nun ruhte sein Blick wieder sanfter auf ihrem Gesicht, und einen magischen Moment lang schien es ihr, als wären sie die einzigen beiden Menschen in diesem riesigen Ballsaal, als wären sie sich noch nie zuvor begegnet und könnten ganz von vorn anfangen – bezaubert von dem Wunder, einander zu entdecken.
Plötzlich überkam sie neuer Mut, und sie lächelte. »Warum wärt Ihr nicht weggegangen?«
Doch er antwortete nicht. Überhaupt schien er auf einmal seltsam distanziert, als hätte er sich willentlich vor ihr verschlossen und wünschte keinen weiteren Kontakt. Jillian war überrascht und verletzt. Schweigend beendete sie den Tanz, wobei sie beinahe so steif wurde wie vorher in Bernards Armen. Ja, sie beide bewegten sich deutlich ungelenker, stockender.
Zum Glück endete der Walzer kurz darauf. Jillian verneigte sich, und Graham vollführte eine elegante Verbeugung. Sie spürte, dass dieser Mann einige Geheimnisse barg und seine vollendeten Manieren und kühle Distanziertheit vor allem als Fassade dienten, die ihn vor der unerbittlichen Neugier der feinen Kreise schützte. Er wollte sich einfügen, und deshalb behielt er einen Teil seiner selbst für sich.
Graham legte ihr sanft eine Hand auf den Rücken und führte sie durch die Menge. Seine Berührung war federleicht, und dennoch brannte sie sich förmlich durch Jillians Kleid. Dann übergab er sie wieder der Obhut ihrer Tante, die mit einer fast nur angedeuteten Zustimmung lächelte. Gütiger Gott, glaubte ihre Tante allen Ernstes, ein Mann wie dieser charmante wohlhabende Herzog könnte sie retten?
Nein, für Jillian kam jede Rettung zu spät.
Der Herzog küsste ihr sachte die Hand und sagte lächelnd: »Ich danke Ihnen für das große Privileg, das Sie mir gönnten, Lady Jillian. Mit Ihnen zu tanzen hat mir größte Freude bereitet. Es war … wie ein Walzer im Himmel.«
Sie zuckte kaum merklich zusammen. Wollte er sie absichtlich in Verlegenheit bringen, indem er ihre Worte von letzter Nacht wiederholte? Nein, das passte nicht zu dem Verlangen in seinem Blick. Sie wusste, worauf er eigentlich anspielte, nämlich auf jenen Tanz, in dem ihre Körper sich nackt und in wundervollster Hemmungslosigkeit begegnet waren. Er wollte sie immer noch.
Jillian reckte das Kinn. »Die Freude war ganz meinerseits, Euer Gnaden. Es war fürwahr … paradiesisch.«
Ihr wurde zusehends unbehaglicher, weil er sie so unverhohlen anstarrte.
»Ich hoffe sehr, Sie befinden sich wohl, Lady Jillian, und unser Tanz hat Sie nicht über Gebühr erhitzt oder … erschöpft gar? Ich gab mir Mühe, so sanft wie möglich zu sein, weiß ich doch, wie schmerzlich manche körperliche Anstrengung für Damen sein kann, die behutsam aufgezogen wurden.«
War er denn von Sinnen? Wusste er nicht, wie gefährlich ihnen beiden derlei Anzüglichkeiten werden könnten? Warum tat er ihr das an?
Ihre Tante mischte sich, äußerlich vollkommen ungerührt, ein. »Ich versichere Euch, Euer Gnaden, meine Nichte ist sehr wohl imstande, die Anstrengung des Tanzens unbeschadet zu überstehen. Selbst behütet aufgewachsene junge Damen sind bisweilen widerstandsfähiger, als es den Anschein hat. Und mag ein Tanz auch vorübergehend eine gewisse Erschöpfung mit sich bringen, ist diese doch zumeist recht schnell überwunden und tut dem künftigen Vergnügen an Ertüchtigungen dieser Art keinerlei Abbruch.«
»Sei es drum«, murmelte er, ohne die Augen von Jillian abzuwenden. »Dennoch würde ich es mir nie verzeihen, sollte ich ein Unbehagen verschuldet haben, so vorübergehend es auch sein mag. Und mir wäre sehr daran gelegen, es wiedergutzumachen, zumal ich überaus interessiert wäre, das Verzücken eines weiteren Tanzes zu erleben, sobald Sie sich wieder hinreichend wohlfühlen.«
Ja, er war von Sinnen! Was dachte er sich dabei? Jillian versuchte, ihren rasenden Puls unter Kontrolle zu bekommen – und ihr brennendes Verlangen. Sie betrachtete ihn kühl, während sie innerlich in seinem Feuer verglühte.
»Ich fühle mich recht wohl, Euer Gnaden, und ich bin durchaus imstande, genauso oft zu tanzen wie alle anderen jungen Damen auch.«
»Das klingt, als hättet Ihr den Tanz genossen«, folgerte er mit einem vielsagenden Lächeln, worauf sie gleich wieder errötete.
»Fürwahr. Ich genieße es jedes Jahr wieder aufs Neue, wenn die Ballsaison beginnt«, konterte sie und weigerte sich trotzig, auf seine Zweideutigkeit einzugehen.
Ein gefährliches Funkeln trat in seine Augen. »Ach ja?«, fragte er leise. Dann fügte er hinzu: »Ich könnte mir vorstellen, dass der Mann, der das Vergnügen hatte, Euer erster Tanzpartner zu sein, diesen besonderen Moment überaus zu schätzen wusste.«
»Zweifellos ein besonderer Moment«, erwiderte sie keck. »Ich für meinen Teil jedenfalls werde ihn nie vergessen.«
Nun riss er die Augen auf, bevor er sehr nachdenklich wurde. Er musterte sie ruhig und ernst, und Jillian sah den Pulsschlag an seinem Hals, dessen Tempo identisch mit ihrem eigenen zu sein schien. Die Spannung zwischen ihnen war beinahe mit Händen zu greifen. Was geschah hier? Jillian war noch nie einem Mann begegnet, der solche Gefühle in ihr wachrief. Und ihr war, als würden all ihre sorgsam ausgeklügelten Pläne zu Staub zerfallen. Nichts interessierte sie mehr, nicht einmal Radcliffe.
Die Spannung verflog in dem Augenblick, in dem Bernard neben ihnen auftauchte. Tante Mary murmelte eine kurze Entschuldigung und entfernte sich. Jillian fühlte, wie sie wieder in die alte Haltung zurückfiel. Höflich stammelnd machte sie die beiden Herren bekannt, wobei sie sich allerdings versprach. »Graham, der Duke of Caldwell.«
Sie hatte ihn beim Vornamen genannt! Erschrocken verstummte sie.
Bernard schüttelte milde und überlegen belustigt den Kopf. »Vergebt Lady Jillian, Euer Gnaden! Sie ist sonst nicht so linkisch.«
Der Herzog erwiderte sein Lächeln nicht, sondern wurde eisig. »Ich würde meinen, sie hat mich vollkommen korrekt vorgestellt. Graham ist mein Name – und manche Menschen bitte ich, mich so zu nennen.«
Bernards teigiges Gesicht verlor den letzten Rest an Farbe. »Ich bitte um Verzeihung. Mir war nicht bewusst, dass Lady Jillian gut genug mit Euch bekannt ist, um Euch beim Vornamen zu nennen.«
»Wir haben ganz vorzüglich miteinander getanzt. Ich würde meinen, das macht uns vertraut genug«, antwortete er mit Blick auf Jillian.
»Nun, dann hoffe ich, sie trat Euch nicht auf die Zehen wie mir«, sagte Bernard grinsend. Jillian wollte im Boden versinken.
»Ganz im Gegenteil: Ich stellte fest, dass Lady Jillian eine ausgezeichnete Tänzerin ist. Wir haben es beide sehr genossen.«
Jillian warf ihm einen warnenden Blick zu, den Graham aber leider ignorierte.
»Tanzen Sie oft, Mr. Augustine?«, fragte er.
»Ich fürchte, ich bin nicht so begnadet wie manch anderer«, gestand Bernard. »Mir bereitet es gewöhnlich wenig Vergnügen.«
»Aha?« Der Herzog sah ihn fragend an.
»Tanzen ist eine notwendige gesellschaftliche Übung, ohne Frage, aber es kann doch recht eintönig sein«, fuhr Bernard fort, ohne die Doppeldeutigkeit zu bemerken. Graham indessen war offensichtlich entschlossen, ihn weiter zu provozieren.
»Da würde ich Ihnen zu widersprechen wagen, Mr. Augustine. Mit der richtigen Partnerin – wie etwa Lady Jillian – hält es die exquisitesten Genüsse bereit.« Seine sinnlichen Lippen formten ein verhaltenes Lächeln, und Jillian wurde sekündlich röter.
Graham konnte nicht umhin, leise zu lachen. Jillian war zweifellos eine recht willensstarke und vor allem kluge Frau. Er spürte, wie es unter ihrer ruhigen Oberfläche brodelte, hinter der Fassade ihrer Erziehung. Das schlichte graue Kleid, das sie trug, verlieh ihr das Aussehen einer strengen Gouvernante, und zugleich konnte es ihre Reize nicht gänzlich verbergen. Er malte sich aus, wie er es ihr langsam auszog und die Alabasterhaut darunter entblößte, wie er es letzte Nacht getan hatte. Er würde jeden Flecken ihrer samtigen Haut küssen, um ihr diese allerliebsten kleinen Schreie zu entlocken.
Welche Leidenschaft hatte sie letzte Nacht bewiesen … und gewiss brannte sie nach wie vor in ihr. Er unterdrückte sein Lächeln und gab sich damit zufrieden, Lady Jillian im Geiste zu entkleiden, mit ihr auf einer Matratze Walzer zu tanzen und die rothaarige Frau mit den grünen Augen vor Verlangen erblühen zu sehen … er sah vor seinem geistigen Auge, wie sie ihn in der Wüste auslachte, während sie ihn dort gefangen hielt …
Abrupt endete seine Phantasie, und mit ihr erstarb sein Lächeln. Er musste ihre Liaison geheimhalten und schwören, sie nie mehr wiederzusehen. Jede Faser seines Seins warnte ihn, dass sie gefährlich war. Selbst ihre unschuldige Frage war gefährlich gewesen: Warum seid Ihr nicht weggegangen?
Es war unerheblich. Nach heute Abend, nachdem er seine Aufgabe erfüllt hatte, war alles unwichtig – sogar die eine süße Nacht in ihren Armen. Leidenschaft und Hitze. Sie würden als Erinnerungen mit ihm am Galgen sterben.
Und dennoch bröckelte seine eiserne Entschlossenheit. Sie nie wieder kosten zu dürfen, nie wieder jene Wonnen zu erleben, die sie gemeinsam genossen hatten …
Dieser selbstgefällige Dummkopf, der sich Bernard nannte, sagte etwas. Graham rang sich ein Lächeln ab und neigte den Kopf.
»Lady Jillian und ich planen, unsere Flitterwochen in Bath zu verbringen, Euer Gnaden. Habt Ihr schon einmal von dem Wasser dort gekostet?«
Wie bitte? Jillian sollte diesen teiggesichtigen Geck heiraten? Graham war schockiert, ließ sich jedoch nichts anmerken, sondern antwortete etwas Nichtssagendes, während er Jillian anstarrte. Ihre Wangen waren gerötet, und sie wandte den Blick ab.
Eine unerwartete Besitzgier ergriff ihn. Wenn sie von ihrer Verlobung wusste, warum hatte sie ihm, einem Fremden, ihre Unschuld geschenkt, noch dazu in einem Bordell?
Vielleicht hatte sie einen guten Grund, nicht Jungfrau bleiben zu wollen … Wieder sah er sie besorgt an. Bei Gott, sie war wunderschön, wie sie so stolz dastand, die entzückenden weißen Schultern, die er so gern geküsst hatte, unter hässlicher grauer Seide verborgen.
Nun wurde sie blass, verneigte sich kurz und flüsterte: »Wenn Ihr mich bitte entschuldigen wollt.« Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Menge, als wollte sie den Ballsaal verlassen.
»Die Angst vor der Hochzeit – das hat jede Braut«, bemerkte Bernard achselzuckend.
Graham blickte ihr nach. Wenige Augenblicke später entschuldigte er sich ebenfalls und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Er folgte ihr in diskretem Abstand, was nicht weiter schwierig war, hatte er als Beduinenkrieger doch gelernt, wie man jemandem unbemerkt nachstellte. Trotz der festen Ledersohlen seiner schwarzen Schuhe bewegte er sich praktisch lautlos über das Parkett. Er folgte Jillian einen langen Flur entlang zu einer breiten Flügeltür. Sie öffnete einen Türflügel und ging in den Raum. Graham schritt ihr nach.
Eine Bibliothek. Drinnen brannte kein Licht, so dass Jillians Silhouette sich nur schwach gegen das silberne Mondlicht abhob, das durch die großen Fenster hereinfiel. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und sah hinaus. Leise schloss Graham die Tür hinter sich.
»Lady Jillian«, sagte er streng, »wir müssen reden.«
Vor lauter Angst krampfte sich Jillians Magen zusammen. Sie erkannte die tiefe, selbstbewusste Stimme auf Anhieb, deren Tonfall deutlich signalisierte, dass er Antworten von ihr forderte. Zitternd strich sie sich über das Kleid. Graham wollte Antworten, die sie ihm unmöglich geben konnte.
Sie drehte sich nicht um, fühlte aber auch so, wie er näher kam. Ja, sie glaubte bereits, seine Hitze in ihrem Rücken zu spüren, und erschauderte vor Verlangen. Er klang verärgert, als er wieder sprach.
»Bist du völlig von Sinnen? Warum letzte Nacht, wenn du kurz vor deiner Vermählung stehst?«
Jillian schloss die Augen und holte tief Luft. »Das geht Euch nichts an … Euer Gnaden. Ich habe meine Gründe.«
»Es geht mich nichts an?« Sein rauhes Lachen jagte ihr Angst ein. »Du gibst dich mir hin, einem vollkommen Fremden in einem Bordell, und wagst zu behaupten, es ginge mich nichts an?«
Nun drehte sie sich doch um. Verzweiflung und Wut verliehen ihr ungeahnte Kraft. »Ihr habt für Diskretion bezahlt. Es war ein Tauschhandel, der mit Eurem Fortgang heute Morgen endete.«
Ein rauher Ton schwang in seiner Stimme mit, als er erwiderte: »Es war ein Tauschhandel, bei dem der Ausführende einige der Vertragsbedingungen nicht erfüllte. Ich wollte keine Rothaarige.«
Jillian lief es eiskalt über den Rücken, denn seine Hitze wandelte sich plötzlich in eine frostige Kälte. Trotzig blickte sie ihm ins Gesicht, während in ihrem Innern ein Vulkan zu toben begann.
»Falls Ihr Euch betrogen fühlt, solltet Ihr die Angelegenheit mit Madame besprechen. Ich gab Euch, wofür Ihr mich bezahltet, Euer Gnaden. Und jetzt geht, und lasst mich allein!«
Er rührte sich nicht, und sie wurde noch wütender. »Ich bat Euch, zu gehen!«
Der Herzog betrachtete sie ernst. »Wie kühn du auf einmal bist! Seltsam, denn als du neben deinem Verlobten standest, erschienst du mir eher wie ein schüchternes graues Mäuschen.«
Jillian seufzte.
Silberner Mondschein strömte durch die Fenster herein und machte deutlich erkennbar, wie sehr er sich nach ihr verzehrte. Nach einer Weile sagte er: »Zwar wollte ich nicht, dass unsere Wege sich ein zweites Mal kreuzen, doch bin ich machtlos gegen das Schicksal, das eine weitere Begegnung vorsah.«
»Ihr wolltet mich nie wiedersehen«, erinnerte sie ihn flüsternd.
»Nein, wollte ich nicht. Allerdings verlässt mein Verstand mich, wenn ich dich sehe. Ich muss immerfort an dich denken«, erklärte er heiser.
»Das dürft Ihr nicht! Ich werde heiraten. Was zwischen uns geschehen ist, sollte nichts als eine Erinnerung sein.«
Graham stand regungslos da und sah sie an. Seine Nasenflügel bebten, als könnte er ihre Verzweiflung riechen. Jillian wurde unbehaglich. Ihr Instinkt warnte sie, diesen Mann nicht zu verärgern. Er könnte ihr gefährlich werden.
»Eine Dame aus gutem Haus sucht ein Bordell auf, um ihre Jungfräulichkeit zu opfern. Am nächsten Abend steht dieselbe Dame neben dem Mann, den sie heiraten wird …«, überlegte er laut.
»Verkaufen, nicht opfern«, korrigierte sie ihn verbittert, biss sich jedoch sogleich auf die Lippe. Hätte sie diese Worte doch nie ausgesprochen!
Er lächelte gequält. »Natürlich: um ihre Jungfräulichkeit zu verkaufen. Aber warum? Wo ihr Vater doch über Geld verfügt, und sie …«
»Nichts hat. Ich brauchte das Geld. Wenn Ihr mich jetzt bitte entschuldigen wollt. Ich möchte allein sein.«
»Wozu braucht eine junge Dame aus gutem Haus so dringend Geld?« Er begann, um sie herumzuschreiten, was sie furchtbar nervös machte.
»Euer Gnaden, bitte, geht! Wenn man Euch hier entdeckt …«
»Wozu das Geld, wenn ihr Vater ihr doch alles bietet, was sie braucht, und bald ihr Gemahl? Vielleicht brauchte sie es für etwas, um das sie beide nicht bitten kann.«
»Ein Kleid, Haarbänder, Firlefanz«, stimmte sie ihm zu und drehte sich mit ihm. Warum konnte er sie nicht einfach allein lassen?
»Aber solch drastische Mittel, um an Geld zu kommen? Ihren Körper an einen Fremden verkaufen? Das klingt wie die Tat einer wahrhaft Verzweifelten.«
Sie lachte matt. »Man tut, was man kann, um mit der Mode Schritt zu halten.«
»Eine Frau, die fliehen will.«
Er blieb stehen, und sie ließ die Schultern hängen.
»Das ist es, nicht wahr, Lady Jillian?«, fragte er voller Mitgefühl. »Hast du es deshalb getan?«
Ihre Stimme drohte zu versagen. »Bernard ist wohlhabend. Er wird Vater im Austausch gegen mich ein erhebliches Vermögen zukommen lassen.« Im Austausch gegen eine unberührte Braut. Pah! Unberührt war sie gewiss nicht mehr.
»Hat dein Vater finanzielle Probleme?«
Jillian wandte sich ab und schlang die Arme um ihren Oberkörper. »Viele Familien haben in diesen Zeiten einige Probleme.«
»Und wohin wolltest du fliehen?«
»Weg.«
»Warum musst du weglaufen? Sag ihm doch einfach, dass du ihn nicht heiraten willst.«
»Das kann ich nicht.«
Graham lächelte sie sanft an. »Es ist nur ein kleines Wort: nein. Siehst du, das sagt sich ganz leicht.«
Er war ein mächtiger Herzog, der nicht verstehen konnte, wie es war, unter der eisernen Fuchtel eines unerbittlichen Vaters zu leben oder eine Frau zu sein, die nach Wissen dürstete. Wie alle anderen glaubte auch er, eine Frau in ihrer Position fände ihre größte Erfüllung in einer guten Heirat und dem Austragen von Kindern. Auch wenn der Herzog in manchem anders schien als die Männer, die sie kannte, würde er sie auslachen, wenn sie ihm von ihren Träumen erzählte. Wohlerzogene adlige Damen besuchten keine Colleges, um ihren Geist anzuregen.
»Wart Ihr noch niemals in der Situation, in der Ihr nein sagen wolltet, und es schlicht nicht konntet?«, fragte sie mit bebender Stimme.
Graham traf die Frage bis ins Mark. Wie viele Male? Nein. Wie oft hatte er dieses Wort zu al-Hamra sagen wollen – und es nicht getan! Er atmete tief ein, um seine Gefühle zu bändigen.
»Meine Gratulation zur Verlobung!«, murmelte er und ging zur Tür. Auf halbem Weg jedoch blieb er stehen und drehte sich noch einmal um.
Im Mondlicht erkannte er silberne Tränenspuren auf Jillians Wangen. Erschrocken eilte er zu ihr zurück und wischte ihr behutsam eine Träne fort. Sie rieb sich grob das Gesicht mit den Händen.
»Warum weinst du?«, fragte er leise.
»Es ist nichts, gar nichts. Bitte, geht!«
Er betrachtete sie. Ihre offensichtliche Verzweiflung machte ihn betroffen. Und statt zu tun, was sie ihm sagte, legte er zärtlich eine Hand an ihre Wange … und küsste sie.
Ihre Lippen schmeckten wie warmer Honig. Anfänglich zuckte sie ganz leicht zurück, doch er hielt ihren Kopf mit beiden Händen und vertiefte den Kuss. Sie erwiderte ihn, indem sie dem sanften, aber beharrlichen Drängen seiner Zunge nachgab. Graham neckte ihren Mund mit seinem, vereinte seine Zunge mit ihrer. Ein intensives Verlangen erfüllte ihn, brachte sein Blut zum Kochen, das in seinen Lenden rauschte und ihn dort steinhart werden ließ.
Auf keine andere Frau hatte er jemals mit einem solchen Begehren reagiert. Er wollte sie, unbedingt. Bei Gott, und wie er sie wollte!
Graham löste den Kuss und wich mit einem Gefühl von Selbstekel zurück. Er küsste heimlich die Frau, die einem anderen versprochen war!
Andererseits hatte er sie als Erster besessen. Allein bei dem Gedanken daran wurde ihm heiß. Graham berührte ihren Mund, der noch geschwollen von seinem Kuss war. Seine erste Frau. Sein schlimmster Alptraum. Und doch hatte er in ihren Armen wie ein Kind geschlafen – frei von allen furchtbaren Träumen.
»Was wirst du tun, Jillian?«, fragte er.
Sie zuckte matt mit den Schultern. »Was ich tun muss. Das Leben einer Frau wird von ihrem Vater bestimmt, bis sie heiratet und in den Besitz ihres Gemahls übergeht. Ganz gleich, ob dieser Gemahl ein aufgeblasener Tor ist oder nicht.«
Ihre hörbare Resignation weckte seinen Beschützerinstinkt. Er wollte sie vor jedem Schmerz bewahren. Auch das hatte er noch bei keiner Frau empfunden. Selbst bei Badra, deren Leibwächter er gewesen war, bevor sie Kenneth geheiratet hatte, war sein Beschützerwunsch nicht so allesverzehrend gewesen. Reumütig musste er seinem jüngeren Bruder recht geben. Kenneth hatte ihm gesagt, dass man die erste Frau, mit der man die körperliche Liebe erlebte, niemals vergaß.
Kenneth hatte allerdings nicht erwähnt, dass sie einem den Verstand raubte, sämtliche Gedanken beherrschte und wie feinster Sandstaub in jeden Winkel drang.
»Nicht jeder Ehemann ist ein aufgeblasener Geck. Ein freundlicher, rücksichtsvoller Gemahl könnte dich glücklich machen«, wandte er ein.
»Vielleicht. Aber Ihr seid der einzige Mann, der je freundlich und rücksichtsvoll zu mir war. Letzte Nacht …« Sie verstummte und wurde rot.
»Ein Mann, der es nicht wäre, ist ein Narr. Du verdienst sanfte, behutsame Rücksicht«, sagte er leise.
Scheu blickte sie durch ihre langen Wimpern zu ihm auf. »Mir gefiel unser Tanz.«
»Beide?«, fragte er lächelnd.
»Beide. Ihr seid mir nicht auf die Zehen getreten.« Jillian erwiderte sein Lächeln.
Ein schmerzliches Mitgefühl überkam ihn: mit ihr, weil sie gezwungen war, einen Mann zu heiraten, den sie verabscheute; mit sich selbst, weil er gezwungen war, eine Tat zu begehen, die ihn an den Galgen bringen würde. Graham strich mit dem Fingerrücken über ihre zarte Wange, die sich immer noch ein wenig feucht anfühlte.
»Leb wohl, Lady Jillian«, flüsterte er und ließ sie allein im Mondlicht stehen.
Er schritt rastlos auf dem Korridor auf und ab, bevor er sich in den Ballsaal zurückbegab. Kaum drinnen, nahm er sich ein Glas Champagner vom Tablett eines herumgehenden Dieners. Er nippte daran und verzog das Gesicht. In seinen Jahren bei den Beduinen hatte er keinen Alkohol gekannt, und es machte ihm Mühe, sich daran zu gewöhnen.
Ich werde wohl kaum zum Trinker.
Heute Abend allerdings stand ihm der Sinn danach, es vielleicht doch zu werden.
Eine Bewegung vor ihm im Ballsaal erregte seine Aufmerksamkeit. Jillian kam herein, äußerlich vollkommen gefasst und ruhig. Keine Spur mehr von ihrer Verzweiflung.
Die Musiker hatten aufgehört, zu spielen, und der teigige Bernard nahm Jillian beim Ellbogen, um sie zu Lord Huntly auf das kleine Podest zu führen. Ein rothaariger Gentleman mit schütterem Haar und in einem strengen schwarzen Anzug trat aus der Menge zu ihnen. Der strahlende Gastgeber stellte sie förmlich vor.
Sofort verschluckte Graham sich an seinem Champagner. Er drückte den zarten Stiel seines Glases so fest, dass es zu zerbrechen drohte.
Nein! Nein! Nein!
Das durfte nicht sein.
Nicht er!
Aber das Gesicht ließ keinen Zweifel. Hunderte Male hatte er es gesehen, jahrelang, in seinen finstersten Träumen.
Graham stieß einen ungläubigen Flüsterlaut aus. Sein Champagnerglas kippte ihm in der Hand, und wie aus weiter Ferne merkte er, wie ihm etwas von der kühlen Flüssigkeit unten gegen das Hosenbein spritzte.
Vor allem aber spürte er, wie sein Herz in seinem Brustkorb hämmerte. Fassungslos starrte er den rothaarigen Engländer auf dem Podest an. Reginald Quigley, der Earl of Stranton. Al-Hamra. Er war der rothaarige Engländer aus Grahams Vergangenheit – und Lady Jillians Vater.
Grahams ganzer Körper verspannte sich. Der kleine Junge in ihm wollte schreiend und weinend aus dem Ballsaal rennen. Der erwachsene Mann wollte vor Wut aufheulen und Stranton mit bloßen Fäusten erschlagen. Stattdessen trat er gleichsam aus sich heraus und beobachtete sich selbst, wie er seelenruhig dastand und mit der rechten Hand in seine Tasche griff, wo er den Miniaturdolch aus der Lederscheide zog.
Der Dolchgriff fühlte sich kühl an, als er ihn in den linken Ärmelaufschlag seines Jacketts schob. So war es gut. Zwanzig Jahre hatte er auf diesen Moment gewartet. Jetzt war er gekommen.
Es war Zeit, dass der Panther zum tödlichen Sprung ansetzte.