Kapitel 10

Am Tag nach seinem Einbruch ins Haus des Earls stattete Graham Stranton einen Höflichkeitsbesuch ab. Er hatte Einwände gegen den Ehevertrag, den der Earl ihm antrug. Zum einen erklärte er, dass er eine gewöhnliche Heiratslizenz wollte, um das öffentliche Verlesen des Aufgebots zu vermeiden – es wäre besser, keine unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Der Earl protestierte vehement, wollte er doch, dass jedermann erfuhr, wen seine Tochter heiratete. Dafür lenkte er widerwillig ein, als Graham ihm sagte, er wolle eine kleine Trauung im engsten Familienkreis.

Am Sonntag ging Graham in die Kirche und beobachtete Jillian stumm aus einer entfernten Bank. Sie errötete vor Scham, als das Aufgebot verlesen wurde und alle sich nach ihr umdrehten. Sie wussten, warum sie den Herzog heiratete.

Zwei Wochen später saßen der Earl, seine Frau und Jillian steif im riesigen Salon des Herzogs beim Verlobungstee. Wieder einmal war Jillians inneres Feuer erloschen. Ihre Augen wirkten matt und leblos. Graham blickte kurz zum Earl. Dieser Bastard! Wie gern hätte er ihm den Hals umgedreht, weil er so grausam zu Jillian war!

Stattdessen verwickelte er ihn in ein Gespräch über Politik und heuchelte reges Interesse an seinem Gesetzesantrag. Dann schlug er zu, indem er den ersten Schritt unternahm, um seinen Feind zu umgarnen.

»Vielleicht würde Ihr Antrag mehr öffentliche Unterstützung finden, wenn Sie zeigen könnten, wie viel Gutes ein solches Gesetz bewirken kann«, regte Graham an.

Stranton beugte sich vor. »Was würdet Ihr vorschlagen?«

Graham sprach betont gelassen. »Warum suchen Sie sich nicht ein Opfer aus dem lasterhaftesten Sündenhandel – sagen wir, einen Jungen – und bessern ihn? Lassen Sie ihn einen Beruf erlernen, und schaffen Sie so ein lebendes Beispiel für das Gute, das sich mit dem Gesetz erreichen lässt.«

Für einen Moment wurde es ganz still im Raum. Graham ignorierte Kenneths besorgten Blick und achtete ausschließlich auf den Earl. Stranton legte die langen, dünnen Finger aneinander und nickte.

»Ein exzellenter Vorschlag. Ein Kind, das auf der Straße lebt, bekommt eine neue Chance und wandelt sich zum vorbildlichen Bürger. Aber wo finde ich ein solches Kind?«

»Da könnte ich Ihnen helfen. Mein Stallmeister Charles lebte früher in St. Giles, einem Viertel, das berüchtigt für derlei Aktivitäten ist.«

»Ich weiß Eure Unterstützung sehr zu schätzen, Caldwell. Aber … ich halte es für das Beste, wenn unsere kleine Unternehmung unter uns beiden bleibt. Wir sollten den anderen Lords nichts erzählen, für den Fall, dass die Sache sich als schrecklicher Fehlschlag erweist.«

Graham hatte Mühe, seine Gefühle im Zaum zu halten. Oh ja, sie würde sich zweifellos als schrecklicher Fehlschlag erweisen, wenn er Stranton ein Geschenk präsentierte, das der Earl nicht ablehnen konnte …

»Versprochen«, sagte er ruhig. So wie du versprochen hast, mir zu helfen, den al-Hajid zu entkommen, du Mistkerl! Versprechen konnten gebrochen werden.

Er blickte sich im Salon um. Jillian hielt den Kopf gesenkt. Lady Stranton sah so eingeschüchtert und distanziert aus wie ihre Tochter. Aber Kenneth schaute Graham verärgert an. Was zur Hölle hast du vor?, schien er zu fragen.

Schuldgefühle regten sich in Graham, die er jedoch sofort verdrängte. Er wandte sich zu Badra und erkundigte sich nach dem Baby. Seine Schwägerin, Gott segne sie, verstand seinen Hinweis auf Anhieb und brachte das Thema geschickt auf Kinder. Lächelnd hörte Graham mit einem halben Ohr hin und wurde erst wieder aufmerksam, als die Frau des Earls darum bat, das Neugeborene sehen zu dürfen.

Badra läutete nach der Kinderschwester, die mit dem Jungen herunterkam und Michael seiner Mutter übergab. Lady Stranton lebte beim Anblick des schlafenden Babys regelrecht auf. Der Earl lehnte sich vor, das dünne Gesicht leuchtend.

»Darf ich ihn sehen?«

Eine lähmende Verzweiflung packte Graham, als Badra zu dem Earl ging und ihm das winzige Bündel hinhielt, damit er es betrachten konnte. Stranton lächelte.

»So ein hübscher Junge«, raunte er leise. Graham erstarrte.

Die Worte hallten in seinem Kopf wider, und sogleich holte ihn die Erinnerung ein. Diese Stimme, diese Worte, während er mit stummem Entsetzen zurückwich und sich für das hasste, was er tat. Den Mann hasste …

So ein hübscher Junge. Nein! Nein! Nicht schon wieder. Diesmal nicht!

Der Earl streckte die Arme aus, um den Kleinen zu nehmen. Graham sprang auf. »Erlaube dem stolzen Onkel, ihn zu halten, Badra!«, sagte er. Sein Rücken war nassgeschwitzt, und er hatte Mühe, seine Stimme ruhig klingen zu lassen.

Badra sah ihn verwundert an, gab ihm Michael aber. Vorsichtig nahm Graham das Baby. Er benahm sich ganz so, wie es sich für einen stolzen Onkel gehörte, während er innerlich heftig zitterte. Mit einem angestrengten Lächeln blickte er zu den Gästen.

»Ich glaube, er muss jetzt in Ruhe weiterschlafen. Unter all diesen Erwachsenen zu sein ist sicher nicht gut für ihn. Ich bringe ihn wieder zur Kinderschwester«, sagte er und entschuldigte sich mit einem knappen Nicken.

Ohne auf Badras verwirrten Blick zu achten, ging er langsam mit dem Baby im Arm hinaus. Ich darf nicht zulassen, dass er Michael anfasst, dachte er. Er musste den Kleinen vor Stranton abschirmen, ihn vor ihm beschützen. Michael war noch so unschuldig und verletzlich.

Seinen kostbaren Neffen im Arm, betrat Graham das Babyzimmer mit seinen fröhlichen gelben Wänden und der meisterhaft geschnitzten Wiege, die Kenneth ihm gebaut hatte. Die Kinderschwester, eine junge Frau, die ein freundliches Gesicht hatte, saß lesend in ihrem schlichten grauen Kleid mit der weißen Schürze auf dem Fenstersitz. Als Graham hereinkam, sprang sie auf.

»Euer Gnaden?«

Statt ihr das Kind zu übergeben, bettete er es selbst behutsam in die Wiege. Dann blieb er neben dem Bettchen stehen, wiegte das Baby sanft und kämpfte mit der Angst in seinem Innern. Die Kinderschwester beobachtete ihn stumm.

Als Michael zuckte und im Schlaf wimmerte, legte er ihm sanft die Hand auf das Köpfchen. »Ich werde nicht zulassen, dass er dir wehtut, Michael! Das schwöre ich dir. Ich reiße ihn in Stücke, sollte er dich jemals auch nur berühren!«, flüsterte er auf Arabisch.

Dann sah er zu der Kinderschwester, die schweigend in der Nähe stand. »Achten Sie darauf, dass niemand außer den Eltern, Jasmine und mir dieses Zimmer betritt. Unter keinen Umständen darf Michael das Kinderzimmer ohne meine Erlaubnis verlassen.«

»Sehr wohl, Euer Gnaden.«

Im Geiste dankte er allen englischen Bediensteten, die verlässlich selbst den absonderlichsten Befehlen ihrer Arbeitgeber gehorchten und keine Fragen stellten.

Ein Klopfen kam von der Tür. Sofort spannte sich jeder Muskel Grahams an. Er fuhr herum, die Arme schützend über die Wiege gebreitet. Stumm sah er, wie der Türknauf sich bewegte, und ihm wurde eiskalt. Die Erinnerungen stürmten auf ihn ein wie fliegende Messer. So ein hübscher Junge …

Die Jambiya, die er in seiner Jacke versteckte, seit er Stranton gesehen hatte, glitt in seine Hand. Vor Schreck hielt die Kinderschwester den Atem an, als sie die blitzende Klinge sah, und beugte sich zur Wiege, um Michael aufzunehmen.

Blitzschnell ließ Graham die Klinge durch die Luft sausen, worauf die junge Frau mitten in der Bewegung erstarrte. »Fassen Sie ihn nicht an!«, warnte er sie. Das Baby, das in diesem Moment aufwachte, wimmerte leise.

Unterdessen eilte Graham zur Tür. Der Knauf drehte sich, und langsam öffnete sich die Tür. In Verteidigungshaltung hielt Graham das Messer bereit und wartete darauf, dass der Eindringling hereintrat. Ein Mann kam ins Zimmer, und Graham hob den Dolch.

»Graham, bitte, nimm die Jambiya herunter, bevor du dich oder meinen Sohn verletzt!«

Er war ungemein erleichtert, als er erkannte, dass es Kenneth und Badra waren. Dennoch nahm er weder den Dolch herunter noch verließ er seinen Posten.

Sein Bruder sah ihn mit seinen leuchtend blauen Augen an. »Lassen Sie uns bitte allein!«, sagte er ruhig zu der Kinderschwester.

Sie huschte an ihnen vorbei zur Tür hinaus, ein grauer Geist in einer blitzsauberen weißen Schürze. Grau wie Jillian. Unsichtbar.

»Was war da unten los?«, fragte Kenneth. Badra hingegen legte eine Hand auf Grahams Arm und sah ihn vollkommen ruhig an.

»So ein hübscher Junge«, wiederholte sie in einem leisen Singsang.

Graham zitterte so heftig, dass der Dolch in seiner Hand bebte. »Nein«, sagte er heiser, »er darf Michael nicht berühren. Er darf nicht, er soll ihn nicht anfassen, niemals! Er soll ihn in Ruhe lassen!«

»Graham!«

Er blinzelte und versuchte, sich zu konzentrieren. Seine Schwägerin. Sein Bruder.

»Oh Gott, nein! Er ist es, nicht wahr? Stranton ist der Kerl. Er ist al-Hamra, dein zukünftiger Schwiegervater!« Kenneth stieß einen ganzen Schwall arabischer Flüche aus. »Und du lädst ihn hierher ein!« Angewidert kniff Kenneth den Mund zu. Wer aber widerte ihn an?

Graham machte sich gerade. »Ich würde nie zulassen, dass Michael etwas geschieht.« Nie! Niemals! Weder durch Stranton noch ihn selbst. Plötzlich schnürte ihm ein tiefer Kummer die Brust zu. Dachte Kenneth das?

»Natürlich nicht. Ich glaube, das Baby hat Hunger«, bemerkte Badra und lächelte ihn an. »Darf ich ihn stillen?«

Erst starrte Graham sie verwundert an, doch dann begriff er, dass er immer noch den Dolch in der Hand hielt. Er steckte ihn wieder in die Scheide und zurück in seinen Ärmel. Dann trat er beiseite. Mit bewundernswerter Geschicklichkeit nahm Badra ihren Sohn aus der Wiege und schmiegte ihn an ihre Brust.

»Ich weiß, dass du ihn beschützen wolltest, Rashid …«

Indem sie ihn mit seinem arabischen Namen ansprach, holte Badra ihn wieder in die Gegenwart zurück. Graham schluckte und hatte Mühe, wieder seine gewohnt distanzierte Haltung einzunehmen. Während Badra mit Michael zum Fenstersitz ging, zwang Graham sich zur Beherrschung.

Kenneth war weniger ruhig. »Warum heiratest du Jillian, wenn du weißt, dass ihr Vater al-Hamra ist?«, fragte er wütend. »Was hast du vor?«

»Um die Schwächen des Feindes zu kennen, muss man ihn gründlich studieren. Man schwächt seine Verteidigung, indem man seine engsten Kreise infiltriert, sich unter die Feinde mischt und sie aus der Reserve lockt«, rezitierte er.

»Das sagte Jabari immer.« Kenneth fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Deshalb machst du das. Du heiratest den Feind. Guter Gott, Graham, bist du wahnsinnig?«

»Vollkommen«, antwortete er wahrheitsgetreu.

Sein Bruder starrte ihn an und hob die Arme. »Wie auch immer«, murmelte er. »Es ist dein Leben. Heirate sie. Aber ich sage dir eines, Graham, ich halte mich da heraus und meine Familie ebenfalls. Plane meinetwegen deine Rache, aber ich werde nicht zulassen, dass meiner Familie etwas passiert. Hast du verstanden?«

Ein dumpfer Schmerz legte sich auf Grahams Brust. Wieder einmal war er ganz allein. »Du hast mein Wort«, gab er leise zurück.

Kenneth sah ihn verwirrt an. »Ich verstehe dich nicht, Graham. Und ich habe das Gefühl, dass ich dich nie verstehen werde.«

»Nein, das kannst du nicht, Kenneth«, stimmte er ihm zu. Und dafür dankte er Gott.

Dann nahm er all seine Entschlossenheit zusammen und ging zur Tür. »Entschuldigt mich. Ich muss zu meinen Gästen zurück.«

Und zu den Gespenstern seiner Vergangenheit.

Sturm der Leidenschaft: Er suchte einen verborgenen Schatz - und fand die Liebe seines Lebens
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