Kapitel 6
Graham eröffnete die Neuigkeit seinem Bruder und seiner neunjährigen Nichte beim Frühstück. Kenneth war zutiefst schockiert, aber Jasmine klatschte begeistert in die Hände.
»Oh, Onkel Graham, eine Hochzeit! Darf ich dabei helfen?«
Er schenkte ihr ein liebevolles Lächeln. »Ich fürchte, es wird eine sehr stille, wenig feierliche Veranstaltung. Ein pompöses Fest wäre den Umständen nicht angemessen, Jasmine.«
»Ich kann mir die Umstände vorstellen«, bemerkte Kenneth trocken.
»Die Umstände tun nichts zur Sache.«
»Wie gut kennst du diese Frau?«
»Ich habe sie … nun ja, ich lernte sie kürzlich eines Abends ziemlich gut kennen«, antwortete er, so dass ihn nur sein Bruder verstehen würde.
Kenneth sah besorgt aus. »Graham, glaub mir, ich weiß, wie das erste Mal sein kann … erinnerungswürdig. Aber gleich heiraten?«
Jasmine blickte von einem zum anderen. »Was für ein erstes Mal?«
»Eines, das du nicht vor deinem vierzigsten Geburtstag erlebst«, murmelte Kenneth und wandte sich wieder an Graham. »Liebst du sie?«
»Ich brauche keine Liebe. Ich brauche einen Sohn.«
»Dann heiratest du sie als Zuchtstute? Eine Ehe sollte mehr bieten als bloß die Produktion eines Erben.«
»Ich gebe dir durchaus recht, aber ich hoffe, du wirst meine Entscheidung respektieren und es dabei belassen. Dass ich Söhne mit ihr zeugen will, ist ausschließlich meine Angelegenheit und sonst niemandes.« Graham nahm einen großen Schluck von seinem bitteren, starken arabischen Kaffee.
»Onkel Graham, wenn du mit dieser Dame züchtest, wirst du sie dann auch besteigen wie Prometheus es bei Cassandra im Stall gemacht hat?«, fragte Jasmine interessiert.
Graham verschluckte sich, und Kenneth fiel die Kinnlade herunter. »Jasmine! Was zum … wie kommst du darauf?«
»Ich habe zugeschaut«, antwortete sie unschuldig. »Ich war mit meinem Kätzchen im Stall, als ich sah, wie du Prometheus zu Cassandra gebracht hast, Onkel Graham. Das war sehr aufregend. Erst trippelte er nur um sie herum, und dann fing dieses Ding zwischen seinen Beinen an, zu wachsen, bis es …«
»Wie geht es denn eigentlich deinem Pony, Jasmine?«, unterbrach Graham sie hastig, bevor seine bezaubernde Nichte ihn noch fragte, ob seine Ausstattung der seines Lieblingsaraberhengstes ähnelte.
Sogleich plapperte sie munter drauflos. Jasmines Pony war für sie das Größte, und über nichts sprach sie lieber als über ihre Forschritte beim Reiten. Derweil begegnete Grahams Blick dem seines Bruders und versprach: Wir reden später weiter.
Nachdem sie aufgegessen hatten, verschwand Jasmine nach oben zu ihrem Unterricht, und Graham wandte sich erneut an Kenneth. Es gab nur einen Ort, an dem sie garantiert nicht belauscht werden würden.
»Wollen wir eine Runde fechten?« Er stand auf.
Kenneth blickte besorgt gegen die Zimmerdecke. »Badra …«
»Wird es nie erfahren. Also komm!«, drängte Graham.
Sie gingen nach oben auf den Exerzierboden. Dort trat Graham direkt auf die Wand zu, an der die Waffen hingen. Er ließ die Fechtdegen mit ihren abgerundeten Schutzenden links liegen und steuerte gleich die schwereren Waffen an.
Kenneth sah beunruhigt auf den Krummsäbel in der Hand seines Bruders. »Du weißt, dass sie Angst hat, wir könnten uns verletzen. Sollte sie etwas mitbekommen … Badra wird mir den Kopf abschlagen.«
»Nur wenn ich es nicht vorher schon getan habe«, scherzte Graham. »Komm schon, Kenneth, wir haben ewig nicht mehr mit denen hier geübt!« Er warf seinem Bruder den Krummsäbel zu, der ihn einhändig am Griff auffing und die schimmernde Schwertklinge betrachtete.
»Stumpfer als ein Brieföffner«, bemerkte er. »Trotzdem … wir sollten …« Kenneth hängte den Säbel zurück und gab Graham einen Fechtdegen. Dieser schwang das Florett, so dass ein leiser Pfiff ertönte. Beide Männer zogen sich ihre Jacken und Westen aus und sahen zu den Schutzlederwesten. Von dort wanderten ihre Blicke auf die Regeln, die der von Kenneth angeheuerte Fechtlehrer in großen Buchstaben auf eine Tafel geschrieben hatte: Gentlemen tragen stets Lederwesten, um ihren Körper zu schützen.
Die beiden Männer lächelten. »Wir sind Krieger, keine Gentlemen«, sagte Graham.
Kurzentschlossen legten beide ihre Floretts ab und zogen sich die Hemden aus. Mit bloßen Oberkörpern nahmen sie ihre Degen wieder auf und stellten sich einander gegenüber.
Sie waren ideale Gegner, beide ungefähr gleich groß. Kenneth war weniger muskulös als Graham, dafür aber sehr ausdauernd und enorm schnell. Graham hatte gelernt, die Stärken seines Bruders einzuschätzen und seine eigenen zu nutzen. Sein Puls beschleunigte sich vor Erregung, und er vermutete, dass er dasselbe Leuchten in den Augen hatte wie sein Bruder.
»Nun, dann sehen wir einmal, wie es dieser Tage um deinen Ausfallschritt bestellt ist. Ich wette, du stößt zu langsam!«, forderte Kenneth ihn heraus.
»Die Lady war anderer Ansicht«, erwiderte Graham.
»Und deshalb heiratest du sie. Verflucht noch eins, Graham, Sex ist kein guter Grund für eine Heirat!«
Sie fochten. Kenneth lancierte eine heftige Attacke. Er war zweifellos verärgert. Graham biss die Zähne zusammen und beherrschte sein Temperament hinreichend, um zu parieren und zu kontern.
»Im Ernst, Graham, eine Prostituierte zu ehelichen, nur weil es dir mit ihr im Bett gefiel …«
»Eine Jungfrau«, korrigierte er und wehrte mühelos Kenneths letzten Schlag ab, »und eine Lady.«
Sein Bruder schnaubte verächtlich. »Du musst vollkommen verrückt nach ihr sein, wenn du eine Prostituierte als Lady bezeichnest.«
»Sie ist eine – die Tochter eines Earls, die ich gestern Abend bei Huntlys Ball wiedersah.«
Kenneth runzelte die Stirn. Als er zögerte, nutzte Graham die Gelegenheit zu einem Angriff, vollführte einen perfekten Schlag, warf dann sein Florett beiseite und tippte seinem Bruder auf die Brust.
»Genau ins Herz«, sagte er zufrieden, »du wärst tot gewesen.«
»Ich könnte immer noch vor Schreck sterben. Du meinst, die Frau, die du besprungen hast – die Jungfrau –, ist die Tochter eines Earls? Guter Gott, was tat sie in einem Bordell?«
»Mich erfreuen«, antwortete Graham. »Wollen wir jetzt weitermachen, oder bist du zu konsterniert, um dich zu verteidigen?«
Sein Bruder antwortete, indem er sein Florett hochhob und angriff. Graham, der die Herausforderung liebte, konzentrierte sich ganz auf seine Verteidigung. Kenneth war ein hervorragender Fechtpartner, mit dem Graham seine Technik bereits deutlich verbessert hatte. In Ägypten hatte man ihn Khepri genannt, den Khamsin-Krieger, der keine Furcht in der Schlacht zeigte. Er hatte viele Männer getötet. Aber Graham noch mehr.
Graham der Krieger hatte seinem ägyptischen Peiniger das Leben genommen. Anschließend schnitt er dem Mann die Hoden ab und präsentierte sie dem al-Hajid-Scheich als Trophäe.
»Ich vermute, du willst mir keine Einzelheiten anvertrauen«, sagte Kenneth ein wenig atemlos, während Graham zum erneuten Angriff ansetzte.
»Richtig vermutet.«
Stahl klirrte gegen Stahl, als sie ihre Schläge ausführten. Graham wich einem Ausfallschritt Kenneths aus und wollte schon zu einem neuen Schlag ausholen, als ein erschrockener Schrei über den Exerzierboden hallte. Beide Männer erstarrten.
»Seid ihr zwei von Sinnen? Ihr könntet euch verletzen!«
Badra, Kenneths sehr schwangere und sehr erboste Frau, stand in der Tür. Die Brüder sahen sich schuldbewusst an. Mit rotem Kopf und sich seines halbnackten Zustands plötzlich unangenehm bewusst, griff Graham sich sein Hemd und streifte es eilig über. Während er seine Weste darüberzog, stand sein Bruder vollkommen schamlos da.
»Süße …«, begann Kenneth.
»Es ist meine Schuld«, mischte Graham sich ein. »Ich habe ihn überredet. Ich wollte wieder einmal das alte Prickeln spüren.«
Badra sah ihn wütend an. »Niemand überredet ihn zu irgendetwas. Ihr seid schlimmer als ein paar ungezogene Jungen!« Graham lächelte verlegen, und Kenneth streifte sich hastig seine Kleider über. »Es ist zu gefährlich«, fuhr Badra fort und kam auf die beiden zu.
Kenneth verdrehte die Augen. »Süße, Graham und ich haben als Krieger gekämpft! Wir haben Feinde in der Schlacht niedergestreckt und die Narben, um es zu beweisen. Denkst du, wenn wir uns mit diesen« – er schnippte mit dem Finger über die Klinge seines Floretts – »Dingern duellieren, die nicht einmal warme Butter an einem Sommertag zerschneiden könnten, ist das gefährlicher?«
»Das hier ist England, wo die Männer zivilisiert sind. Hier braucht man sich nicht zu duellieren«, widersprach sie.
»Wie soll ich dann meine Familie beschützen? Was ist, wenn ein Wahnsinniger hereinstürmt und meine schöne Frau bedroht?«, fragte Kenneth.
Nun war es Badra, die die Augen verdrehte. »Dann tust du, was alle anderen Engländer tun.«
»Weglaufen?«, schlug Graham vor.
Badra warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Ich kann mich selbst verteidigen. Du hast es mir selbst beigebracht, Kenneth, weißt du nicht mehr? Ich trete einem Mann in die Geschlechtsteile.«
Beide Brüder sahen die zierliche Frau mit dem gewaltigen Kugelbauch ungläubig an. Graham verkniff sich das Grinsen.
»Einen Mann zu treten ist keine schlechte Idee, doch mein Schwert ist weit wirkungsvoller«, erklärte Kenneth.
»Stimmt. Du kannst ihm damit die Geschlechtsteile abschneiden, statt ihn zu treten«, regte Graham hilfreich an.
Badra stöhnte resigniert. »Wäre es nicht sportlicher, ihn einfach zu erschießen?«
Graham nickte. »Ihm in die Geschlechtsteile zu schießen, vermute ich.«
Lachend hielt Badra sich den gewaltigen Bauch. »Hört auf damit!«, japste sie. »Sonst bekomme ich das Baby noch gleich hier.«
Kenneth grinste. »Entspann dich, Liebes! Wir wollten eigentlich auch nur Grahams, nun ja, kleine Bekanntmachung feiern. Halt dich fest: Mein Bruder wird heiraten!«
Badra wurde schlagartig todernst und riss erschrocken ihre wunderschönen Augen auf. Verlegen trat Graham von einem Fuß auf den anderen.
Badra wusste seit langem über Grahams qualvolle Vergangenheit Bescheid, lange vor Kenneth. Als er noch Rashid, der Khamsin-Krieger des Windes war, wurde Graham auserwählt, um Badra zu beschützen. Ihre Freundschaft war durch die dunklen Geheimnisse ihrer beider Geschichte besiegelt gewesen, und sie beide hatten sich darauf geeinigt, niemals zu heiraten. Kenneths sanfte, geduldige Liebe hatte Badra geholfen, ihre Vergangenheit zu überwinden. Aber sie beide wussten, dass Grahams Dämonen ihn bis heute plagten. Sie hielten ihn ebenso fest in ihrem Griff wie er einst sein Pferd, wenn er es im Galopp über den Wüstensand jagte.
»H-heiraten? Wen?«, fragte sie entsetzt.
»Irgendein schönes freizügiges Fräulein«, sagte Kenneth gelassen. »Sie hat das Herz meines Bruders erobert – oder ein anderes lebenswichtiges Organ.«
Graham warf ihm einen warnenden Blick zu.
»Bist du sicher? Ist sie etwas Besonderes? Sie muss es sein …« Badra verstummte und starrte Graham an, als wäre er ein Flaschengeist aus der Wüste. Er merkte, wie er rot wurde. Verdammt, er wusste, was sie dachte! Welche Frau würde ihn wollen?
Dennoch hatte er auf Badras Verständnis gehofft. Wortlos nahm er die Floretts vom Boden auf und hängte sie wieder an ihren Platz an der Wand. Innerlich fühlte er sich wie der kleine Junge, der er vor langer Zeit gewesen war, verletzt und elend. Doch er zwang sich, kühl zu klingen, als er Badra antwortete, ohne sich zu ihr umzudrehen.
»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass ich irgendein einfaches Mädchen von der Straße heirate. Lady Jillian ist die Tochter eines bekannten Adligen. Sie ist durchaus geeignet, meine Herzogin zu werden.« Dann drehte er sich um und sah Badra an, als wollte er ihr sagen, sie sollte es ja nicht wagen, ihm zu widersprechen.
Sie legte eine Hand auf ihren Bauch und betrachtete ihn ruhig. Früher hatten sie einander gegenseitige Unterstützung geboten, waren Freunde und Verbündete im Schmerz ihrer Vergangenheit gewesen. Sie war der einzige Mensch, dem er vertraute. Trotzdem hatte er etwas von sich zurückgehalten, sich nicht einmal ihr ganz geöffnet. Heute war sie mit seinem Bruder verheiratet, erwartete ein Kind von ihm und hatte ihre eigene Familie. Wie sehr sich das Leben doch verändert hatte.
Kenneth zog sich diskret in die andere Hälfte des Raumes zurück und räumte einen Stapel Tennisschläger auf. Badra watschelte näher zu Graham. Sie war so klein, sah so zerbrechlich aus, wie sie dastand und ihm kaum bis zur Schulter reichte. Aber er wusste, dass der Schein trügte. Innerlich war Badra so stark wie der Wüstenwind.
»Rashid, sprich mit mir! Verschließ dich mir nicht! Ich weiß, was für eine schwere Last du trägst, und sie ist in den Monaten, seit wir in London sind, sehr viel schwerer geworden.«
Dass sie den arabischen Namen benutzte, den ihm die al-Hajid gegeben hatten, ließ ihn aufmerken. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Was willst du hören, Badra?«
Sie sah ihn unglücklich an. »Du hast dich verändert, Rashid. Wir waren uns einmal so nah, aber seit wir in England sind, wirst du mit jedem Tag distanzierter. Ich kenne meinen Freund kaum mehr. Warum ist das so?«
»Du und Kenneth, ihr drängtet mich, den Titel anzunehmen. Natürlich musste ich mich verändern. Ich bin nicht mehr Rashid. Jene Tage sind vorbei.«
»Und unsere Freundschaft auch? Es gab eine Zeit, da hättest du alles für mich getan.«
Seine Stimme wurde sanfter. »Was ich auch weiter täte, aber du bist jetzt mit Kenneth verheiratet. Er steht in deinem Leben an erster Stelle, wie es sich gehört – und wie es für mich sein wird, wenn ich meine Braut heirate.«
»Ach, Rashid!«, seufzte Badra beinahe verzweifelt. »Deine Braut. Wer ist die Frau? Du hast nie zuvor eine Frau erwähnt. Woher weißt du, dass sie die Richtige für dich ist?« Sie berührte sachte seine Brust. »Woher weißt du, dass sie für immer in deinem Herzen sein wird?«
Graham rieb sich das Gesicht. »Badra, was du mit Kenneth hast, ist etwas Besonderes. Meine Erwartungen an die Ehe sind weniger hochgesteckt.«
»Wieso? Wieso solltest du nicht erwarten, eine Frau zu finden, die alles mit dir teilen kann, die die Leere in dir füllt? Nein, erzähl mir nicht, da wäre keine Leere!«, fügte sie hinzu, als er anhob, ihr zu widersprechen. »Ich weiß besser als irgendjemand sonst, welche Leere uns Schmerz im Innern empfinden lässt. Und ich weiß, wie wundervoll es sich anfühlt, wenn man schließlich jemanden findet, der sie ausfüllt, wenn man den Frieden entdeckt, den es mit sich bringt, als der Mensch geliebt und respektiert zu werden, der man ist.«
Graham wurde zusehends unbehaglicher. »Ich freue mich für dich, Badra«, entgegnete er achselzuckend. »Ja, wirklich, ich freue mich, dass es dir passiert ist.« Nur wird es mir leider niemals widerfahren.
Kenneth kam zu seiner Frau und legte einen Arm um sie. Er sah seinen Bruder an. »Wir möchten, dass du glücklich bist, Graham. Du verdienst es. Kann diese Frau dich glücklich machen?«
»Vorletzte Nacht konnte sie mich ausreichend zufriedenstellen«, antwortete er. Er erinnerte sich an das, was Kenneth gesagt hatte, und wiederholte es. »Du sagtest, sie wäre mein Schicksal und dass man gegen das Schicksal nicht ankämpfen kann. Ich heirate sie. Könnt ihr zwei nicht einfach versuchen, euch für mich zu freuen?«
Kenneth sah seine Frau an. »Ja«, antwortete er, »wir können.«
»Ja«, pflichtete Badra ihm leise bei. »Bring sie doch bitte zum Tee mit her. Ich möchte, dass sie sich bei uns willkommen fühlt – sehr willkommen.«
Graham lächelte dankbar, als sie sich von ihrem Ehemann löste und auf ihn zukam. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, wobei ihr runder Bauch gegen seine Hüften stieß.
Kenneth war sehr ernst. »Wenn es das ist, was du willst, freue ich mich für dich. Ich möchte lediglich, dass du eine Frau heiratest, die gut genug für dich ist. Du verdienst die beste.« Er seufzte wehmütig. »Ich hätte alles gegeben, dich längst glücklich zu sehen, aber wir sollten nicht zurückblicken, sondern nach vorn. Also, lass uns wissen, was du brauchst. Wir werden für dich da sein.«
Grahams Gefühle drohten, ihn zu überwältigen, deshalb nickte er nur stumm. Nach all den Jahren, die er so entsetzlich allein gewesen war, hatte er endlich eine Familie, Menschen, denen an ihm lag. Er fühlte sich hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, ihnen näher zu sein, und seiner natürlichen Reserviertheit. Wie viel leichter wäre es gewesen, in Ägypten zu bleiben, maskiert unter dem blauen Umhang der Khamsin, und sich vor der Welt zu verstecken.
Als Kenneth seine Frau in seine Arme hob – obwohl sie protestierte und meinte, sie könnte durchaus gehen –, kam Graham sich noch einsamer vor. Er murmelte eine Entschuldigung und zog sich in seine Gemächer zurück. Dort machte er sich für einen Ausritt im Park bereit.
Die Reitgerte an sein Bein klopfend, stieg er kurze Zeit später die Treppe hinunter. Jasmine kam durch die Diele auf ihn zugestürmt, strahlend lächelnd, und aufgeregt einen Schwall arabischer Wörter ausstoßend.
»Onkel Graham! Reitest du aus? Darf ich mitkommen? Bitte, bitte! Ich bin schon seit zwei Tagen nicht mehr geritten!«
»Sprich Englisch, Jasmine!«, korrigierte er sie automatisch. »Und hat dein Papa dir nicht gesagt, dass du nicht ohne Stallknecht reiten darfst? Du bist in dem Damensattel noch nicht sicher genug.«
Die Kleine sah ihn hinreißend betrübt an. »Ja.«
»Dann solltest du es schnellstens werden«, ermunterte er sie.
In Yorkshire hatte Kenneth seiner Adoptivtochter beigebracht, wie die Beduinen zu reiten. Bis vor zwei Wochen ritt Jasmine entsprechend wie ein Junge, dann jedoch begannen Jungen im Park, sie zu ärgern und sie eine Heidin zu schimpfen. Das traf Jasmine so tief, dass sie ihre Eltern bat, den englischen Reitstil erlernen zu dürfen.
Graham empfand echtes Mitleid mit ihr, weil sie so unendlich traurig dreinblickte. Er lächelte. »Geh und zieh dir deine Reitsachen an! Wir treffen uns im Stall«, sagte er.
In Begleitung von Charles, dem schweigsamen Stallmeister, dem Graham am ehesten vertraute, ritten er und seine Nichte zum Hyde Park. Graham führte seinen Araberhengst mit den Knien, während Jasmine auf ihrem Pony saß, im Damensattel. Als sie sich der Row näherten, fiel Graham auf, wie steif Jasmine sich hielt. Graham brachte sein Pferd zum Stehen und lehnte sich im Sattel vor.
»Jasmine, hör zu – entspannen! Dein Pferd achtet auf deine Zeichen. Je wohler du dich fühlst, umso leichter fällt es dir, dein Pferd zu kontrollieren. Tiere merken es, wenn du nervös bist. Beug die Knie ein wenig und halt dich lockerer!«
»Meine Gouvernante sagt, ich muss gerade sitzen wie ein Brett.«
»Hast du je ein Brett gesehen, das ein Pferd ritt?« Er zwinkerte ihr zu. Jasmine kicherte und entspannte sich ein wenig.
Auf dem Ritt durch den Park beobachtete Graham seine Nichte interessiert. Wie er war sie ein Einzelgänger. Er fragte sie, ob sie schon Freunde gefunden hätte, und ihr trauriger Gesichtsausdruck brach ihm fast das Herz.
Nachdem sie sich vorsichtig zu Charles umgesehen hatte, sagte sie leise auf Arabisch: »Onkel Graham, ich möchte ja mit anderen Kindern spielen, aber sie nicht mit mir. Sie sagen, ich sei zu merkwürdig – vor allem Tommy Wallenford. Er sagt, er sei der Adlige Tommy Wallenford und ich nur eine dumme Heidin aus Arabien ohne Titel.«
Jasmine wurde also wegen ihres gebrochenen Englisch von oben herab behandelt. Graham kochte vor Wut. »Hör mir zu, meine Kleine«, sagte er ernst. »Sie halten sich für etwas Besseres. Du musst ihnen beweisen, dass du es mit ihnen aufnehmen kannst. Du bist die Adlige Jasmine Tristan, Tochter eines Viscount und Nichte eines Herzogs.«
Er sah, wie sehr sie sich anstrengte, ihre Tränen zurückzuhalten.
»Aber das habe ich. Sie hören nicht auf mich. Alle hören nur auf Tommy. Es ist gemein, wenn er mich beschimpft, Onkel Graham, nur weil ich Ägypterin bin und meine Haut dunkler ist.«
Graham konnte sie sehr gut verstehen. Er erinnerte sich, welche Schwierigkeiten er gehabt hatte, als er nach England zurückgekehrt war und in Yorkshire alle hinter seinem Rücken getuschelt und ihn neugierig begafft haten.
»Was würdest du denn machen, Onkel Graham?«, fragte sie verzweifelt.
Seine übliche Zurückhaltung schwand angesichts Jasmines bebender Unterlippe. Er überlegte. »Als ich noch nicht lange wieder in England war, gab es da diesen einen Sauk … Burschen, der sich über meinen Akzent lustig machte. Er hatte keinen Respekt vor meinem Titel und nannte mich einen Heiden aus Arabien.«
»Und was hast du dagegen getan, Onkel Graham?«
Bei der Erinnerung musste er unweigerlich schmunzeln. »Ich gab ihm das, was Engländer als einen Schwinger bezeichnen. Ich schlug ihm auf den Mund und sagte zu ihm: ›Du blöder Mistkerl, ein Heide aus Arabien kann genauso gut kämpfen wie ein Engländer!‹ Und dann verdiente ich mir Respekt, indem ich die englischen Sitten und Gebräuche neu lernte. Schließlich wurde ich von den meisten akzeptiert.«
Jasmine sah ihn verwundert an. »Dann soll ich lernen, mich wie ein englisches Kind zu benehmen, damit sie mich auch akzeptieren?«
Graham hatte hinreichend Erfahrung mit Vorurteilen, um zu wissen, dass dem nicht so wäre. Jasmines mitternachtsschwarzes Haar, ihre dunklen Augen und ihre dunkle Haut unterschieden sie von allen anderen und würden es immer tun, ganz gleich, wie perfekt ihr Englisch wäre oder wie westlich sie sich kleiden würde.
»Englische Sitten zu erlernen und deine Sprache zu vervollkommnen wird helfen, aber es ist auch wichtig, dass du nicht vergisst, wer du wirklich bist, Kleine. Sei du selbst, und sei stolz darauf, wer du bist! Anständige Menschen werden dich respektieren.«
Jasmine nickte ernst. »Danke, Onkel Graham. Du solltest jetzt vorreiten, denn ich muss mit dem Pony langsamer Schritt gehen. Ich will meinen englischen Reitstil üben, damit sie sehen, dass ich es kann.«
Früher oder später würde sie sich ihren Problemen allein stellen müssen. Graham versprach ihr, nach einem kurzen Galopp zu ihr zurückzukommen.
Seufzend machte er sich zu dem weichen Reitpfad auf, der für schnellere Ritte angelegt war. Als er dort war, ließ er Prometheus laufen und genoss die Muskelkraft des großen Hengstes. Graham lenkte ihn ausschließlich mit seinen Schenkeln, wie er es von den Beduinen gelernt hatte.
Minuten später brachte er das schnaubende Pferd in Trab zurück und ließ es ruhiger gehen, bevor er es wieder zum Hauptweg zurückführte. Er suchte den Weg nach einem elfengesichtigen Mädchen und einem Stallmeister ab, der wie ein melancholischer Hund aussah. Da hörte er Lachen, das von einer kleinen Eichengruppe herüberhallte. Das war Lady Jillian, die sich mit Jasmine unterhielt. Charles wartete geduldig in der Nähe.
Grahams Brustkorb fühlte sich plötzlich wie zugeschnürt an. So hatte er Jillian nicht mit seiner Familie bekanntmachen wollen. Er trieb sein Pferd an und galoppierte zu ihnen. Unmittelbar vor Jillian und Jasmine brachte er den Hengst zum Stehen.
»Guten Tag, Lady Jillian«, sagte er.
»Guten Tag, Euer Gnaden.« Ihr charmantes Lächeln erstarb.
Jasmine, die nicht bemerkte, wie angespannt die Erwachsenen waren, sah Graham strahlend an. »Onkel Graham! Miss Jillian hat mit mir über Pferde und übers Reiten geredet!«
»Lady Jillian«, verbesserte er sie.
»Und ich habe ihr von Ägypten erzählt und davon, wie du, Papa und Mama mich letztes Jahr hergebracht habt.«
Graham wurde eiskalt. Wie viel genau hatte Jasmine erzählt? Hatte sie Jillian womöglich gesagt, dass er ein ägyptischer Krieger gewesen war, dass er als Ägypter gelebt, gekämpft und getötet hatte? Eine einzige Andeutung, dass er bei einem Beduinenstamm aufgewachsen war, würde genügen. Falls Jillian sie an ihren Vater weitertrug, brauchte dieser gewiss nicht lange über seinen künftigen Schwiegersohn nachzudenken, um eins und eins zusammenzuzählen …
»Hast du das?«, fragte er lächelnd. »Was hast du Lady Jillian denn alles erzählt?«
»Na, wie Mama Papa letztes Jahr in Ägypten wiedertraf und dass er nicht mein richtiger Vater ist, mich aber adaptiert hat …«
»Adoptiert«, korrigierte Graham.
»Und wie Papa dich in Kairo gesehen hat und wir alle in einem schönen Hotel gegessen haben, bevor wir nach London kamen.«
War das ein Zwinkern? Graham musste unweigerlich grinsen. Diese gewitzte Kleine! Sie hatte also viel erzählt, ohne wirklich etwas zu verraten.
»Ägypten scheint sehr weit weg zu sein«, bemerkte Jillian.
»Oh ja, weit weg. Aber dort ist es sehr schön. Es gibt viele … arabische Ponys.« Jasmine kämpfte noch mit der englischen Sprache, gab sich aber redlich Mühe und hatte in den letzten Monaten sehr viel gelernt.
»Araberpferde«, sagte Graham auf Arabisch zu ihr. Dann wiederholte er es für sie auf Englisch.
»Wie ich sehe, sprecht Ihr recht fließend Arabisch, Euer Gnaden«, stellte Jillian staunend fest.
Ihm wurde unbehaglich. »Einigermaßen, ja. Aber ich spreche es nur, wenn es unbedingt nötig ist, um niemanden zu provozieren, der auf das Land herabblickt«, antwortete er steif.
Sie sah ihn fragend an. »Ich wollte nicht überheblich sein – ganz im Gegenteil: Ich würde sehr gern ferne Länder bereisen und die phantastischen Sehenswürdigkeiten Ägyptens und anderer Länder sehen.«
»Ägypten hat sehr viel Interessantes zu bieten«, bestätigte er.
Ein Leuchten trat in ihre grünen Augen. »Oh, das glaube ich sofort! Und Ihr müsst sehr viel davon gesehen haben. Ich selbst war noch nie außerhalb Englands, abgesehen von einer Reise nach Amerika als Kind, um eine Tante zu besuchen.«
»Sie würden gern reisen?«, fragte er.
»Ja. Es muss herrlich sein, überall hinreisen zu können, wo man will, andere Kulturen kennenzulernen und große Abenteuer zu erleben.«
Er starrte sie an. »Manch einer würde meine Zeit in Ägypten wohl als ein großes Abenteuer bezeichnen. Ich hingegen nenne es eher anders.« Zum Glück verstand sie seinen Sarkasmus nicht.
»Erzählt mir doch bitte von Euren Reisen! Sie müssen faszinierend gewesen sein. Wie ist Ägypten? Seid Ihr in einer Dahabiya den Nil rauf- und runtergereist? Ach, der Duft des Flusses, die Unmengen blühender Bäume und die üppigen, majestätischen Dattelpalmen!«
Graham betrachtete sie amüsiert. »Woher wissen Sie von den ägyptischen Hausbooten?«
»Oh, ich bereise durchaus andere Länder, allerdings nur in Büchern«, antwortete sie und seufzte sehnsüchtig, »denn eine andere Form des Reisens ist mir leider nicht vergönnt.«
»Sagen Sie das nicht! Die Araber glauben an Schicksal, und gegen das Schicksal sind wir machtlos.«
Wie er sehr wohl wusste.
Zum ersten Mal, seit ihr Vater seine harte Strafe gegen sie verhängt hatte, fühlte Jillian, wie die Dunkelheit sich lichtete, die sie umgab. Ja, bald schon würde auch sie große Abenteuer erleben – in Amerika, in Radcliffe, wo sie alles Wissen in sich einsaugen könnte, das ihr hier versagt blieb. Was konnte das Leben Großartigeres bieten?
»Vater bereiste ganz Ägypten. Er mochte die Pyramiden und sagt, sie seien sehr interessant. Aber er meint, die Leute dort seien alle hinterlistige Bettler. Wie gefiel Euch Ägypten? Habt Ihr Zeit bei den Beduinenstämmen verbracht? Vater schon. Er spricht sehr gut Arabisch.«
Eine Weile schwieg Graham, während sie den breiten Reitpfad entlangtrotteten. Er schien so weit weg zu sein wie die Pyramiden.
Dann fiel es ihr wieder ein. Er hatte seine Eltern in Ägypten verloren, hatte mitansehen müssen, wie sie brutal ermordet wurden. »Oh, ich bitte um Verzeihung, Euer Gnaden!«, sagte sie hastig. »Ich wollte Euch nicht an vergangenes Leid erinnern.«
Er sah sie verwundert an. »Was meinen Sie?«
»Den Angriff auf Eure Karawane, als Ihr sechs Jahre alt wart und Eure Eltern verlort.«
Eine seltsame Anspannung legte sich über seine Züge, bevor er den Kopf abwandte. »Das ist sehr lange her. Ich erinnere mich kaum an etwas.«
Sie nickte stumm. Es war offensichtlich, dass er sie gleichsam ausschloss, nicht mehr mit ihr darüber reden wollte.
Nur fragte Jillian sich, während sie weiter neben ihm herritt, welche ihrer Bemerkungen schuld war, dass er plötzlich so abweisend wurde.
Ihr Vater hatte ihr also gesagt, Ägypter seien Bettler? Was für eine Ironie! Bettler wie Graham, der Stranton angebettelt hatte, ihm zu helfen? Er stellte sich eine ausgestreckte dunkelhäutige Hand und Strantons überhebliches Lachen vor, als er sie ebenso ignorierte, wie er Grahams Flehen ignoriert hatte.
Wie dem auch sei, Jillian wusste nichts von seiner Vergangenheit, und dabei sollte er es belassen.
Jillian wollte gern reisen. Nun, vielleicht konnte er mit ihr nach Griechenland reisen, wenn sie verheiratet waren, oder nach Rom. Überall hin, nur nicht nach Ägypten. Jillian kam ihm wie ein angebundenes lebhaftes Fohlen vor, das es nicht abwarten konnte, frei loslaufen zu dürfen. Ließe man ihr genug Freiraum, gäbe es gewiss kein Halten mehr.
Und dennoch hatte sie auf dem Ball so leblos gewirkt, gänzlich eingeschüchtert durch ihren Vater – ausgenommen während des Tanzens mit ihm und später in der Bibliothek. Er spürte, dass sich unter ihrem übertrieben anständigen, langweilig grauen Äußeren eine Frau voller Leidenschaft und Lebenslust verbarg. Andere mochten jeden Funken Lebensfreude in ihr unterdrücken wollen, aber sie konnten sie nicht vollständig auslöschen. Plötzlich wünschte er sich nichts mehr, als all diese erstickten Funken zu einem Flächenbrand entflammen zu sehen. Wer würde Jillian werden, wenn man ihr die Freiheit gab, zu tun, was sie wollte?
Er blickte zu seiner schweigenden Nichte, die beinahe eine Miniaturausgabe der anderen Frau war, die neben ihm ritt: anständig, reserviert, ihre natürliche Lebendigkeit tief in sich vergraben …
Hätten sie Ägypten doch nur nie verlassen! Wie viel besser war es, in einem als heidnisch angesehenen Land zu leben, als kleine lebensfrohe Mädchen wie Jasmine einzuzwängen und zu erziehen, bis sie der Inbegriff von Etikette geworden waren! Er ertrug es nicht, dass sie zu einem stillen grauen Schatten ihrer selbst werden könnte oder zu einem gehässigen Klatschmaul, wie er sie in London schon zuhauf gesehen hatte. Der strahlende sonnige Sommertag in London wurde auf einmal drückender als die sengende Hitze Ägyptens.
Mitten im Ritt hielt Jasmine ihr Pony an und sagte aufgeregt auf Arabisch: »Oh, Onkel Graham, da drüben sind ein paar Kinder, die ich kenne. Darf ich zu ihnen? Bitte!«
Einerseits wollte er sie davor bewahren, wieder verletzt zu werden, andererseits wusste er, dass sie ihre eigenen Schlachten ausfechten musste, also nickte er. In Begleitung von Charles trottete Jasmine auf ihrem Pony hinüber zu einer Gruppe von Kindern, die mit Reifen spielten.
»Sie ist ein allerliebstes Kind«, bemerkte Jillian.
Graham sah seine künftige Frau an. In ihrer dunkelgrauen Reitkleidung schien sie buchstäblich mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Die anderen Damen trugen alle sehr modische Reitkleider und die Reithüte leicht schräg auf dem Kopf. Verglichen damit wirkte Jillian vollkommen unscheinbar, wäre da nicht ihr flammend rotes Haar. Er fragte sich, ob sie ihre Reize absichtlich versteckte, wie der Sonnenschein, der sich hinter dunklen Wolken verbirgt.
Grahams Gedanken schweiften ab. Er stellte sich Jillian nackt und auf allen vieren vor. In dieser Stellung nahm er sie, bestieg sie wie ein Hengst eine Stute, entlockte ihren verführerischen Lippen kehlige Wonneschreie …
»Ihr habt einen sehr schönen Hengst, Euer Gnaden. Ein Araber?«
Er blinzelte erschrocken. Seine anschwellende Erektion war unangenehm, und er rutschte leicht auf seinem Sattel zur Seite, um sie zu verbergen.
»Ja, Prometheus ist ein Vollblutaraber, recht lebhaft, und er liebt es, beim Reiten seinen Kopf durchzusetzen. Und Ihr Pferd?«
»Daphne ist sanftmütig, aber schnell.«
»Reiten wir doch zum Galopppfad und veranstalten ein kleines Rennen«, schlug er vor.
Sie staunte. »Ihr fordert mich heraus?«
»Sie sagten, Ihre Stute sei schnell.« Er klopfte Prometheus an den Hals. »Mein Pferd kann es gar nicht erwarten, wieder zu galoppieren.«
Nach kurzem Überlegen entgegnete sie: »Ich bin durch den Damensattel im Nachteil.«
»Dann reiten Sie doch einfach richtig!«, schlug er prompt vor. »Wenn Sie eine gute Reiterin sind, können Sie Ihr Pferd mit den Knien lenken. Der Sattel spielt da keine Rolle.«
Sie riss die Augen weit auf und drehte sich zu ihrem Stallmeister um, der dicht hinter ihr ritt. »Ich kann nicht«, flüsterte sie.
Graham blickte sich ebenfalls zu ihrem Begleiter um und sagte zu ihm: »Sie können uns jetzt allein lassen und am Tor auf Lady Jillian warten.«
Der Mann wurde auffallend nervös. »Nein, tut mir leid, Euer Gnaden, das kann ich nicht. Der Earl befahl mir, während des nachmittäglichen Ausritts nicht von Lady Jillians Seite zu weichen. Sollte ich gegen seine Anweisung verstoßen, werde ich gefeuert.«
Hmm. Das war ein kleines Problem, aber kein unlösbares.
»Lady Jillian wird einen guten Rittmeister brauchen, wenn sie mich heiratet. Sollten Sie bis dahin in den Diensten des Earls bleiben, zahle ich Ihnen denselben Lohn, den Sie bei ihm bekommen, zuzüglich eines Fünf-Pfund-Bonus, wenn Sie uns allein lassen, solange sie mit mir im Park reitet. Falls der Earl Sie vorher entlässt, stelle ich Sie umgehend ein.«
Mehr brauchte es nicht. Der Mann strahlte übers ganze Gesicht und ritt munter von dannen. Jillian blickte ihm nach wie eine Gefangene, die auf Bewährung freigelassen wurde.
»Nun? Wollen wir jetzt unser Rennen starten?«, fragte Graham.
Ein Leuchten ging über ihr Gesicht. Eilig richtete sie sich im Sattel auf und zupfte ihre Röcke hoch, Darunter trug sie eine Lederhose. Graham grinste verzückt, als sie sich rittlings auf ihr Pferd setzte. Herr im Himmel, sie hatte wirklich Mumm! Auf dem Weg zum Galopppfad bewunderte er ihre langen wohlgeformten Beine.
»Habe ich Euch schockiert?«, fragte sie lächelnd.
»Ganz im Gegenteil! Mir gefallen Sie so viel besser. Schließlich ist nun keiner von uns benachteiligt«, murmelte er. Jillian in dieser Reithaltung zu sehen weckte ein unbändiges Verlangen in ihm.
»Ich würde behaupten, dass ich immer noch im Nachteil bin, denn meine Stute ist kein so eindrucksvolles Tier wie Euer Araber«, erwiderte sie wehmütig.
»Ja, Prometheus hat Generationen Araberblut in seinen Adern. Mein Zuchtbuch weist seine Linie über Hunderte von Jahren nach. Ich habe übrigens vor, eine Araberzucht hier in England aufzubauen.«
»Ich verstehe nichts von Pferdezucht«, gestand sie.
»Da gibt es nicht viel zu verstehen. Wenn eine Vollblutstute paarungsbereit ist, wählt man einen Hengst aus und lässt sie von ihm besteigen. Es ist fast so wie bei der Londoner Saison, mit Ausnahme der Hochzeiten.« Er lachte über seinen Scherz.
Jillian warf ihm einen vernichtenden Blick zu, wenngleich seine Worte ein recht eindeutiges Bild in ihr wachriefen. Sie verdrängte es und versuchte, das unangebrachte Kribbeln zwischen ihren Schenkeln zu ignorieren. In dieser Reithaltung drückte ihre feuchte Scham gegen das feste Sattelleder, wo sie sich danach sehnte, so gerieben zu werden, wie er es in der vorletzten Nacht getan und ihr damit ungeahnte Wonnen bereitet hatte …
Als sie den Pfad erreichten, warf sie ihm einen kurzen Blick zu, bevor sie die Fersen in ihren Rotschimmel schlug und lospreschte. Graham lachte wieder und ließ ihr einen gewissen Vorsprung. Als sie sich kurz darauf umsah, folgte er ihr in einigem Abstand.
Sie galoppierten den langen Pfad hinunter. Prometheus holte ihre Stute mühelos ein, und bald fiel Jillians Pferd zurück. Am Ende des Pfads brachte Graham seinen Hengst in einen langsamen Schritt. Ein wenig atemlos kam Jillian neben ihm an. Unter dem grauen Hut zeichneten sich zarte Schweißperlen auf ihrer Stirn ab.
»Sie halten sich sehr gut«, lobte er sie. »Sie brauchen nur ein besseres Pferd, auf dem Sie zeigen können, was für eine Reiterin Sie sind.«
»Aber nicht vor der Hochzeit«, erwiderte sie.
Der Herzog warf den Kopf in den Nacken und lachte herzhaft. Jillian errötete – von der Anstrengung des Ritts wie von der Kühnheit ihres kleinen Scherzes. Verlegen blickte sie sich um und bemerkte, dass andere Reiter sie neugierig ansahen.
Sie verließen den Pfad, und Jillian streckte die Hand aus.
»Würdet Ihr mir bitte helfen, Euer Gnaden? Ich sollte mich wieder richtig hinsetzen.«
Mit einer geschmeidigen Bewegung glitt der Herzog von seinem Hengst. Er half Jillian von ihrem Pferd, wobei er seine warmen Hände um ihre schmale Taille legte. Ein Schauer durchlief sie. Nachdem sie ihre Röcke wieder heruntergestrichen hatte, verschränkte Graham die Hände, um ihr zurück in den Sattel zu helfen. Sie setzte sich wieder seitlich aufs Pferd und nahm die Zügel auf.
Dann ritten sie dorthin zurück, wo Jasmine sie verlassen hatte. Als sie zu der kleinen Baumgruppe kamen, sahen sie die kleine zarte Gestalt in ihrem moosgrünen Reitkleid trotzig aufgerichtet neben ihrem Pony stehen. Grahams Lächeln erstarb, und er ritt besorgt näher. Jasmine kam den beiden entgegen, als sie von ihren Pferden stiegen. Mit Sorge bemerkte Graham, dass Jasmines Kleider voller Gras- und Matschflecken waren. Sie blickte ihn unglücklich an.
»Was ist passiert?«, rief Jillian.
»Ich war sehr höflich, wie du gesagt hast, Onkel Graham – bis der adlige Tommy Wallenford kam. Er nannte mich eine hässliche Arabermähre.« Jasmine streckte entschlossen die Unterlippe vor. »Da habe ich dasselbe gemacht wie du. Ich gab ihm einen Schwinger und sagte: ›Ich bin ein Fohlen, du dämlicher Mistkerl! Ich bin zu jung, um eine Mähre zu sein!‹«
Graham konnte nicht umhin, zu schmunzeln, wurde aber gleich wieder ernst. Es wäre wenig hilfreich, seine Nichte zu solchem Verhalten zu ermutigen. »Junge Damen schlagen keine Jungen, Jasmine. Wenn du dazugehören willst, darfst du nie wieder jemanden schlagen.«
Seine Nichte starrte ihn entgeistert an. Dann nickte sie betrübt.
Jillian lehnte sich über ihre Stute und sagte: »Aber ich wette, es hat gutgetan, stimmt’s?«
Sogleich ging ein Leuchten über Jasmines Gesicht. Sie grinste Jillian an und nickte.
Graham betrachtete seine Zukünftige, die offensichtlich sehr gut mit Kindern umgehen konnte. Jasmine zumindest hatte sie auf Anhieb gemocht.
»Kommen Sie doch mit zu uns! Ich würde Sie gern mit meinem Bruder und meiner Schwägerin bekannt machen«, schlug er vor.
Jillian zögerte. »Ich bin nicht sicher, ob das angebracht wäre.«
Er griff kurzerhand nach ihren Zügeln und wand sie um seinen Sattelknauf. »Jetzt haben Sie keine andere Wahl mehr. Folgen Sie mir!«
Jillian protestierte halbherzig, als sie alle zum Parktor trotteten, wo Jillians strahlender Stallmeister sie erwartete. »Ich kann nicht, doch nicht so!«
Graham schüttelte den Kopf. »Keine Sorge. Sie legen keinen großen Wert auf Förmlichkeiten.«
»Aber ich rieche nach Pferd«, jammerte sie.
»Ein wunderbares Parfüm! Sie mögen Pferde. Wir kommen aus Arabien, dem Land der Pferde, schon vergessen?«
Jillians erschöpfter Seufzer mischte sich mit seinem tiefen Lachen.