Kapitel 23
Die Höhle auf der Karte war einen halben Tagesritt von der Oase entfernt, in die andere Richtung etwa ebenso weit von einem kleinen Dorf. Graham versprach, dass sie das Dorf besuchen würden, sobald sie den Schatz gefunden hatten, um dort ein richtiges Mahl zu genießen und ihre Vorräte aufzufüllen.
Mittags erreichten sie die Höhle. Wären sie aus Osten gekommen, hätten sie sogar hineinstürzen können, denn von dort war die Öffnung nichts als ein klaffender Riss im flachen Boden. Graham lud ihre Ausrüstung ab, während Jillian sorgenvoll in den gähnenden Schacht blickte. Sand rieselte in die Dunkelheit, und sie erschauderte.
»Wir können hinunterrutschen«, bot Graham an. Er nahm ihre Hand. In der freien Hand hielt er eine Lampe. »Komm, wir rutschen zusammen.«
Sie schlitterten den tiefen Sandabhang hinab. Jillian war, als würden sie in eine endlose Dunkelheit eintauchen. Als sie auf festen sandbedeckten Boden stießen, atmete sie erleichtert aus.
Graham stand auf und half ihr auf die Füße. Während er die Lampe anzündete, schüttelte Jillian sich den Sand aus der Kleidung. Dann wurde es hell, und sie erstarrte vor Ehrfurcht. Die Höhle war bezaubernd schön. Unwillkürlich dachte sie an die arabischen Märchen in der Bibliothek ihres Vaters. Ja, hier erkannte man die wahre Magie der Wüste.
Hunderte riesiger Tropfsteinsäulen hingen von der Decke herab, kristallisiertes Wasser, in Ewigkeit erstarrt. Die wunderschönen Eiskristalle sahen wie feinste Spitze aus, ihre durchsichtigen Windungen zart wie Elfenflügel. Graham hob die Laterne hoch, wobei das Licht auf den kreideweißen und hellbraunen Formen spielte.
»Hier ist es wie in der verzauberten Höhle, von der ich einst träumte«, sagte Graham fasziniert. »Als ich ein Junge war, flüchtete ich in meiner Phantasie oft an einen solchen Ort.«
Liebevoll drückte Jillian ihm die Hand. »Aladins geheime Höhle, angefüllt mit Schätzen – ein Ort, an dem du dich sicher fühlen konntest.«
Er biss die Zähne zusammen. »Wir sollten lieber schnell machen.«
Minuten später hatten sie ihre Ausrüstung zusammengestellt: ein kräftiges Seil, ihre Rucksäcke, das Gewehr und Wasserbeutel. Graham griff in seinen Gürtel und zog den hölzernen Schlüssel hervor, den er in Kairo angefertigt hatte.
Er schulterte das Gewehr, und sie machten sich auf die Suche nach der Tür. In einigen Teilen der Höhle war die Decke viel zu niedrig, als dass ein Mensch darunterkriechen konnte. Und da die Höhle insgesamt nicht besonders groß war, wuchs Jillians Enttäuschung zusehends. Außerdem roch es sehr streng nach Fledermauskot, so dass sie die Nase rümpfte.
Graham aber bestand darauf, dass sie gründlich suchten, und warnte Jillian vor einem breiten Spalt im Boden. Sie blickte hinein, und Jillian fröstelte, als sie ein kleines Stück von einem Stalaktiten abbrachen, in die Dunkelheit warfen und ihn nicht unten aufkommen hörten.
Graham sah sie an. »Langsam und gründlich.«
Nach ungefähr einer Stunde entdeckten sie eine Öffnung, in die sie sich beide halb liegend hineinquetschten. Graham zeigte auf einen kleinen Zierrahmen, der kaum zu erkennen und in einen zarten Stalaktiten eingemeißelt war.
»Khufu«, hauchte Jillian. »Das muss es sein!«
Sie fühlte sich wie Alice, die sich in das winzige Haus im Wunderland drängt, während sie sich beide bald nur noch auf allen vieren weiterbewegen konnten. Jillian fragte sich, ob die Enge ihr wohl die Luft aus der Lunge drücken könnte.
Am Ende des Ganges fanden sie sich einer Wand gegenüber, die keine anderthalb Meter hoch war: eine Sandsteinwand, sonst nichts. Von einem Schlüsselloch war keine Spur.
Jillian kämpfte mit den Tränen, doch Graham gab nicht auf. Er sah sich die Wand genauer an und strich mit den Händen darüber. Auf einmal glitt der Stein wie eine Schiebetür zur Seite. Dahinter war eine andere Wand mit einem großen Schlüsselloch.
Graham drehte sich zu Jillian um, ein breites jungenhaftes Grinsen auf dem Gesicht.
»Alter ägyptischer Trick«, sagte er.
»Der dir von einem alten Ägypter beigebracht wurde?«
Lachend holte er seinen Holzschlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss. Er passte genau. Die Tür ging auf und enthüllte eine samtige Dunkelheit.
Graham kroch hindurch und sah sich über die Schulter um, als Jillian ein wenig ängstlich zurückblieb. »Komm, Habiba! Wir sind fast da. Es ist alles in Ordnung«, beruhigte er sie. »Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas zustößt.«
Jillian atmete tief durch, verdrängte ihre Furcht und folgte ihm.
Graham half ihr durch die enge Tür und zog sie hoch. Als sie protestieren wollte, weil sie sich sorgte, sie könnten sich die Köpfe an der Decke stoßen, flüsterte er: »Sieh nach oben!«
Der Raum war so beeindruckend, wie es Aladins Höhle in Jillians kühnsten Phantasien nicht hätte sein können. Graham ging zu einem der eisernen Wandhalter und zündete eine Fackel an – eine Fackel, die seit über viertausend Jahren nicht mehr gebrannt hatte.
Die Höhle war nicht besonders groß, unregelmäßig geformt und angefüllt mit Amethystdrusen. Kristalle in allen erdenklichen Farbschattierungen – violett, dunkelbau, durchsichtig, rot – waren auf dem Boden verstreut. Wie Kronleuchter hingen auch hier eindrucksvolle Stalaktiten von der Decke herab, nur dass die Decke dreieckig war, keine Wölbung wie oben.
»Wie eine Pyramide«, sagte Jillian erstaunt.
Graham lachte. »So ein gerissener alter Fuchs! Er schuf sich hier draußen in der Wüste seine eigene Pyramide.«
Auf einem kleinen Tisch aus Sandstein, der einem Altar ähnelte, stand eine Alabasterkiste. Grahams Hände zitterten, als er sich ihr näherte.
Die magische Wunschkiste! Jillian hielt den Atem an und bedeutete Graham, der sie fragend ansah, mit einem Kopfnicken, er solle sie öffnen.
Graham brach das Schloss des Kastens auf.
In dem länglichen Behältnis lag ein goldenes Krokodil, größer als der Fuß eines erwachsenen Mannes. Und in dem weit geöffneten Maul des Krokodils klemmte ein glitzernder Smaragd.
»Oh«, hauchte Jillian, »oh mein Gott!«
Graham konnte weder sprechen noch sich bewegen. Vor ihm lag ein Kindheitstraum. Er streichelte die Alabasteroberfläche des Kastens, als handelte es sich dabei um die Schenkel einer Frau.
»Die Legende besagt, dass man abends einen Zettel in die Kiste legt, auf dem man seinen größten Wunsch genau beschrieben hat, sie dann für die Nacht unter sein Bett schiebt, und am nächsten Morgen ist der Wunsch in Erfüllung gegangen.«
»Ich glaube nicht an Magie. Andererseits kann ich kaum glauben, dass das hier wahr ist.« Jillian berührte den Smaragd mit bebenden Fingern. »Mit einem Schatz wie diesem, wer hat da noch Wünsche offen? Hiermit kann man sich alles kaufen, was das Herz begehrt.«
»Manche Dinge im Leben sind nicht käuflich, Jilly.«
Sie legte die Hand auf seinen Arm. »Stimmt. Wenn ich könnte, würde ich dir deine Vergangenheit kaufen und sie dir zurückgeben, Graham. Aber das kann ich nicht.«
Er sah sie an und küsste sie sanft auf die Wange. Jillian lächelte. Dann nahm Graham den Kasten, und sie wandten sich zum Gehen.
Während Jillian die Tür öffnete und in den Gang krabbelte, sah Graham sich ein letztes Mal um, bevor er auf die Knie ging, um ihr zu folgen. Doch plötzlich schloss die Tür sich. Grahams Magen krampfte sich zusammen. Er drückte, aber die Tür bewegte sich nicht. Stirnrunzelnd versuchte er es noch einmal.
Eine dumpfe Angst überkam ihn, als er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Holz warf und nichts passierte. Er war gefangen, vor allem aber von Jillian getrennt.
Von der anderen Seite der Tür hörte er ein tiefes, hämischen Lachen. »Komm raus, Caldwell, langsam!«
Im ersten Augenblick war Graham wie versteinert. Die Stimme seines Peinigers würde er überall auf Anhieb wiedererkennen: Stranton.
Er musste die Karte genommen und sich in dem Dorf auf die Lauer gelegt haben, bis Graham kam. Wahrscheinlich brauchte Stranton den Schatz genauso dringend, wie er sich Grahams Tod wünschte. Der Smaragd allein brachte ihm hinreichend Geld ein, um über Jahre bequem unterzutauchen.
Nur hatte Graham nicht vor, heute zu sterben.
Langsam öffnete er die Tür und kroch bäuchlings durch den Tunnel bis zur offenen Höhle. Der strenge, faulige Fledermausgeruch wehte ihm beißend scharf entgegen.
Im Aufstehen steckte Graham sich die kleine Kiste unter sein Binish und nahm sein Gewehr von der Schulter. Ein Kopfschuss wäre das Beste. Aber Stranton zog seine Tochter näher zu sich. Er benutzte sein eigenes Kind als Schutzschild! Graham, dessen Finger bereits auf dem Abzug lag, drückte nicht ab.
Er sah, dass Jillian zitterte. Sie war kreidebleich.
»Lass sie gehen, Stranton!«, befahl Graham.
»Runter mit dem Gewehr, Caldwell! Oder willst du etwa riskieren, sie zu erschießen?«
»Hör auf, dich zu verstecken, du Schwein! Das hier geht nur dich und mich an. Keiner von uns will, dass ihr etwas passiert.«
»Ich habe nichts mehr zu verlieren.«
Für einen Moment war Graham ratlos. Dann fällte er eine Entscheidung. »Ich lege das Gewehr ab. Tu ihr nichts!«
»Schieb es zu mir rüber!«, kommandierte der Earl.
Stranton trat mit Jillian vor sich ein Stück nach vorn, als Graham ihm das Gewehr zuschob. Ohne die Augen von ihm abzuwenden, kickte der Earl die Waffe weg. Sie fiel polternd in den Bodenspalt.
»Sie hat die Wahrheit verdient, Caldwell. Sie muss wissen, wer du wirklich bist«, höhnte Stranton.
Graham regte sich nicht, auch wenn sein Herz raste. Es ist so weit, dachte er voller Angst. Jillian würde die Wahrheit erfahren …
Jillian glaubte, jeden Moment zusammenzubrechen. Als sie aus der Höhle gekommen war, hatte ihr Vater dort gestanden und ihren Schrei erstickt, indem er ihr eine Pistole an die Schläfe gehalten hatte. Vor lauter Herzklopfen schmerzte ihr Brustkorb. »Vater, bitte! Lassen Sie uns in Ruhe!«, flüsterte sie.
»Es war dein Ehemann, der den Jungen aussuchte, Jillian. Er denkt, er kommt mit seinem abscheulichen Verbrechen davon. Aber ich bringe ihn nach London zurück und übergebe ihn den Behörden, damit der Richtige bestraft wird. Dir gefiel es doch. Gib’s zu, Junge! Gesteh! Ich will die Wahrheit. Alles war deine Schuld, Caldwell. Sag ihr die Wahrheit. Es hat dir gefallen«, wiederholte der Earl provozierend langsam.
Graham verzog das Gesicht vor Ekel. »Das wolltest du mich glauben machen. Aber wir beide kennen die Wahrheit, al-Hamra.«
Entsetzt starrte Jillian ihren Vater an. Ihr wurde übel. Gütiger Gott, das konnte nicht sein! Ihr Vater war es, der Graham bis heute in seinen Alpträumen quälte?
Graham wirkte wieder einmal vollkommen verschlossen, gefühllos. Jillian kannte diesen Ausdruck bei ihm, der nichts von dem preisgab, was in ihm vorging. Einzig die Ader unten an seinem Hals pulsierte stärker als sonst, und seine Augen funkelten vor Wut.
»Schämst du dich, Jilly?«, fragte er leise.
»Wie sollte ich nicht?« Ihr eigener Vater, der ein Kind missbraucht hatte, das ihm vertraut hatte, einen kleinen, verzweifelten Jungen?
»Genug Zeit geschunden, Caldwell. Gib mir den Schatz!«
Graham holte die kleine Alabasterkiste unter seinem Binish hervor und sah sie an. »Nein, er gehört mir«, sagte er.
Der Earl lachte. »Ich ließ die Hieroglyphen übersetzen. Du bist ein Narr, wenn du denkst, diese Kiste hätte magische Kräfte.«
Jillian bemerkte, wie ihr Mann sich auf einmal veränderte. Er wirkte traurig, wie ein verlorenes Kind.
»Ich glaube nicht an die Zauberkräfte der Kiste«, erklärte Graham ruhig. »Aber ich wollte es immer. Vor langer Zeit fand ich die Karte, und sie gab mir Hoffnung. Ich träumte davon, dass es eine solche magische Wunschkiste gab, die alles verändern könnte – alles, mich eingeschlossen.«
Jetzt begriff sie, worum es bei dieser Schatzsuche eigentlich ging. Die Kiste zu finden war ein Kindheitstraum gewesen – nicht bloß, um den Schatz zu bekommen. Diese Wunschkiste stand symbolisch für alles, was Graham auf immer verloren hatte: seine Eltern, seine Unschuld, seine Kindheit. Alles, was ihm so brutal geraubt worden war.
Jillian bemerkte, wie ihm Schweißperlen auf die Stirn traten, und er wurde wieder zu dem distanzierten Fremden. Er sah ihren Vater nicht einmal an, der mit einer Pistole in der Hand dastand. In diesem Moment wirkte ihr Ehemann furchtbar einsam.
Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Wünsch dir, was du willst, Caldwell! Es ändert nichts daran, was du bist. Du kannst der Wahrheit nicht entfliehen, also gestehe sie meiner Tochter. Du hast sie benutzt, um an mich heranzukommen. Aber sie verdient einen richtigen Mann.« Seine Züge verfinsterten sich. »In Amerika, weit weg von dem Skandal, werde ich ihr einen Teil des Geldes geben, das mir der Schatz einbringt. Lass meine Tochter dort ihr Glück finden!«
Ein zentnerschweres Gewicht legte sich auf Jillians Brust. So viele Jahre hatte sie sich nach der Zuneigung ihres Vaters gesehnt, nach einem kleinen Zeichen, dass er ihr vertraute und ihm an ihr lag. Kein einziges Mal hatte er sie in die Arme genommen. Stattdessen kettete er sie ans Haus, gefangen und gegängelt von seinen absurden Regeln. Und nun wollte er ihr tatsächlich geben, was sie sich gewünscht hatte? Die Freiheit, ihren eigenen Weg zu gehen?
Graham blieb stumm, doch sein flehender Blick sagte mehr als tausend Worte. Verlass mich nicht, Jilly! Vertrau mir!
Jillian rang nach Atem, während die beiden Männer wie versteinert schienen. Sie hatte die Wahl. Zwei verschiedene Leben boten sich ihr. Mit dem Geld, das ihr Vater ihr geben wollte, konnte sie ihren alten Traum erfüllen, nach Amerika gehen, nach Radcliffe, und nie mehr zurücksehen. Hast du das nicht dein Leben lang gewollt?
Als sie jedoch ihren Mann ansah, den sie liebte, wurde ihr klar, dass Träume sich bisweilen ändern.
Nein, sie konnte ihn nicht verlassen. Ebenso wenig konnte sie den Schaden wiedergutmachen, den ihr Vater angerichtet hatte. Aber sie könnte die fürchterlichen Zweifel ausräumen, die Graham zerrissen – vor allem, weil ihr jetzt etwas anderes wieder einfiel.
»Hör nicht auf ihn, Graham! Er spricht von sich, nicht von dir. Vater ist derjenige, der der Wahrheit nicht entfliehen kann. Er versteckt sich vor ihr, aber das kann er nicht mehr. Damals, als ich sechs war, erinnern Sie sich, Vater?«
Der Earl wurde schlagartig sehr blass, und die Hand mit der Pistole begann, zu zittern. »Jillian, hör auf!«
»Ich wollte mich nicht erinnern. Ich habe es verdrängt, aber es kam wieder. Mark, der Sohn des Stallmeisters – wir haben oft zusammen gespielt. Mutter sah es nicht gern, dass ich mich mit Kindern der Bediensteten abgab und sie sogar mit ins Haus brachte, aber Sie hatten nie etwas dagegen. Und an jenem Tag nahmen Sie Mark oben mit den Flur hinunter, brachten ihn in das eine Zimmer und schlossen die Tür. Sie sagten mir, ich solle weggehen und vergessen, dass irgendetwas geschehen ist. Ich erinnere mich an Marks Gesicht, so blass und ängstlich, als Sie die Tür schlossen und ihm sagten, er solle seine Hose ausziehen …«
»Jillian!«, setzte der Earl an.
»Und dann schlossen Sie ab. Ich konnte nicht weggehen, meine Füße wollten sich einfach nicht bewegen. Ich lauschte von draußen, hörte, wie er schrie und weinte, und Sie sagten … Sie sagten …« Sie schluckte und holte tief Luft. »›Was für ein hübscher Junge! Komm schon, gib zu, dass es dir gefällt! Du kannst der Wahrheit nicht entfliehen. Du kannst dich nicht vor dem verstecken, was du wirklich bist.‹«
Ihre Worte rissen Graham aus seiner Schocklähmung. Seine Augen glühten geradezu. »Du krankes Schwein!«, sagte er. »Wie viele Leben hast du zerstört?«
Jillians Vater aber ignorierte ihn. Er sah seine Tochter wütend an. »Ich sagte dir, dass du weggehen sollst, Jillian. Ich sagte dir …«
»Ich wollte ja«, flüsterte sie, »aber ich kann die Wahrheit nicht mehr leugnen, Vater.«
Ihre Brust fühlte sich an, als würde sie zusammengequetscht, als bräche die Höhle über ihr ein und erstickte sie. Trotzdem konnte Jillian nicht den Blick von ihrem Vater wenden. Es gab eine Zeit, da hätte die Wut in seinen Augen sie eingeschüchtert. Heute tat sie es nicht mehr.
In diesem Moment stürzte Graham sich nach vorn. Ihr Vater schwang die Pistole nach oben. Jillian schrie auf und packte seinen Arm. Zugleich ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Alte Kristalle zersplitterten, als die Kugel einen der Stalaktiten traf.
Graham duckte sich und rollte zur Seite, näherte sich dabei jedoch gefährlich nah dem Bodenspalt. Jillians Schreie hallten durch die Höhle, während er vergeblich versuchte, sich abzufangen. Dann verschwand er im Abgrund.
Die Schatzkiste mit einer Hand umklammernd, streckte Graham die andere ängstlich nach einem Halt in der Felswand aus. Ein schmaler Vorsprung stoppte seinen Fall. Graham zwang sich, ruhig zu bleiben und einen sicheren Stand auf dem engen Felsstück zu finden. Über ihm schien das Licht aus der Höhle in den Spalt. Die Kristalle an der Deckenwölbung funkelten. Noch nie hatte er etwas Erhabeneres gesehen. Ein hübscher Anblick vor dem Tod.
So geht es also zu Ende, dachte er in dumpfer Resignation.
Tut es das?, höhnte eine Stimme in seinem Kopf. Ist Jillian es nicht wert, dass du um dein Leben kämpfst?
Graham holte angestrengt Atem. Seine Rippen schmerzten vom Sturz.
Oben erschienen zwei Köpfe an der Kante des Spalts – beide mit roten Haaren, beide mit grünen Augen. Eines der Gesichter blickte verängstigt, das andere höchst zufrieden. Graham wandte sich zur Felswand. Er wollte nicht sehen, wie sein Feind triumphierte.
»Graham, halt dich fest! Ich hole ein Seil!«
Wieder schaute er nach oben, wo Stranton seine Tochter zurückhielt. »Erst wenn du den Schatz heraufwirfst!«, rief der Earl.
»Niemals!«, erwiderte Graham. Seine Hand war verschwitzt, so dass die Kiste ihm wegzurutschen drohte, doch er umklammerte sie verzweifelt.
Seine Zukunft? Seine Hoffnung?
Tiefe Scham erfüllte ihn. Er war ein Feigling, und er ertrug es nicht, die Verachtung in Jillians Blick zu erkennen, wenn er nach oben sah.
»Graham, bitte, sieh mich an – Graham!«, rief sie. »Gib nicht auf! Halte durch!«
»Jillian, ich verbiete es dir«, brüllte ihr Vater.
»Ruhig, Vater!«, konterte sie streng.
Graham hörte, wie sie sich stritten, wie ihr Vater sie anflehte, vernünftig zu sein.
Mit geschlossenen Augen hielt er sich an der Felswand fest.
Minuten verstrichen, dann plötzlich fiel ein Seil neben ihm herunter.
»Lass die Kiste los, Graham!«, bat Jillian ihn ängstlich. »Du brauchst beide Hände, um heraufzuklettern.«
Ausgeschlossen. »Nein, Jilly. Ich kann nicht.«
»Bitte, lass sie los! Ich liebe dich. Ich weiß, dass du denkst, die Kiste würde alles Schreckliche vertreiben, aber du bist nicht schuld an dem, was mit dir geschehen ist. Du brauchst keine magische Kiste. Ich kann deine Vergangenheit nicht auslöschen, Graham, aber gemeinsam können wir eine Zukunft aufbauen.«
»Du schämst dich für mich.«
»Ich schäme mich für ihn und für das, was er dir angetan hat. Bitte, komm zu mir zurück!«
»Du hast keinen Grund, dich meinetwegen zu schämen, Jillian. Es war seine Schuld«, fuhr Stranton seine Tochter an.
Grahams Finger legten sich fester um die Alabasterkiste. Sein Schatz, sein Schutzschild. Er konnte sie nicht loslassen. Dann aber hörte er wieder Jillians Stimme.
»Sieh mich an! Sieh mich an, nicht die Kiste!«
Er wusste nicht, woher er den Mut nahm, aber er brachte noch genügend auf, um seine Frau anzusehen. Er blickte ihr in die grünen Augen, die wie Smaragde leuchteten. Als er sich auf dem schmalen Vorsprung bewegte, rutschte er beinahe ab.
Wenn er den Schatz nicht losließ, könnte er sterben. Und warum auch nicht? Er war längst dazu bereit, denn dann würde der Schmerz endlich aufhören.
Als er jedoch wieder zu ihr aufsah, glänzten Tränen in ihren Augen. »Bitte, Graham, bitte, komm zu mir zurück! Du hast mich gebeten, dich nicht zu verlassen. Ich verspreche es dir, aber bitte, verlass du mich nicht!«
Er hielt seinen Schatz fest. Die Kiste brachte ihm Geld ein – Geld, das Stranton zwanzig Jahre zuvor zufriedengestellt und die erniedrigende Tat verhindert hätte, die er an ihm beging. Geld bedeutete Macht. Es bedeutete immer Macht.
»Ich brauche sie«, rief er heiser und umklammerte die Kiste.
»Nein, Graham, du brauchst sie nicht. Du denkst, sie schützt dich davor, je wieder etwas Schreckliches zu erleben, das verstehe ich. Aber ich mache mir nichts aus Geld oder deinem Titel. Ich würde dich auch lieben, wenn du ein armer Schornsteinfeger wärst. Ramses sagte mir, die Finsternis in einem Mann könne ihn seine Seele verlieren lassen. Bewahr diese Finsternis nicht in dir! Lass sie heraus und mich hinein!«
Er blickte wieder zu Jillian auf, und sein Herzschlag setzte kurz aus. Dies war der echte Schatz: seine Frau, die offen zu ihren Gefühlen für ihn stand. Sie liebte ihn, trotz seiner vielen Verfehlungen und dem, was er war. Sie war die lebende Flamme in seiner Dunkelheit. Und zum ersten Mal spürte er, wie die Finsternis sich in ihm zurückzog, fliehend vor dem Licht, in das Jillians Liebe ihn tauchte.
Ja, der wahre Schatz war seine Frau.
So lange hatte er sich an seinem Schmerz und seiner Wut festgehalten, die miteinander verwoben waren wie die Fäden eines Teppichs. Konnte er sie endlich loslassen? Graham sah Jillian wieder an, und der Schmerz in seiner Brust schien nachzulassen. Er hatte etwas gefunden, für das es sich zu leben lohnte, anstelle dessen, wofür er sterben wollte.
Er ließ die Kiste los. Ein ungekannter Frieden erfüllte ihn, als er sah, wie sie in die Dunkelheit stürzte und mit einem dumpfen Knall auf einem weiteren Felsvorsprung ein kleines Stück unter ihm landete. Jillians Vater schrie auf.
»Nein!« Stranton griff nach dem Seil und kletterte hinunter. Er landete auf dem Vorsprung unter Graham und angelte panisch nach der Kiste. Doch der Vorsprung brach ab, der Earl verlor das Gleichgewicht und fiel. In letzter Sekunde fing er sich ab.
Nun hing Stranton an dem Rest des Vorsprungs, hielt sich mit den Händen an der schmalen Steinkante fest. Sein verzweifeltes Stöhnen erzeugte ein Echo in dem Spalt, während Graham auf den Mann hinabblickte, der ihn misshandelt, sein Vertrauen missbraucht hatte und jetzt in tödlicher Gefahr schwebte. Dann sah er wieder zu Jillian hinauf.
Vorsichtig packte er das Seil, das sie ihm zuwarf. Er schlang es sich um die Taille, verknotete es und streckte die Hand nach unten aus. »Ich helfe dir«, sagte er schroff.
Stranton blickte nach oben zu seiner Tochter, und ein gequälter Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Ich wollte dir nie wehtun, Jillian. Ich gab mir solche Mühe, dich von allem fernzuhalten, dich vor Missbrauch zu schützen. Deshalb war ich immer so streng zu dir. Du warst das einzig Gute in meinem Leben, so rein und wunderschön. Ich war stolz auf dich und bildete mir ein, deine Güte würde auf mich abfärben. Aber jetzt … jetzt kann ich mich nicht mehr hinter dir verstecken. Deine Augen sind wie Spiegel, und ich sehe darin …« Seine Stimme verebbte zu einem Flüstern. »Ich sehe, wer ich wirklich bin.«
Graham empfand einen Anflug von Mitgefühl für Stranton, der sich hier und jetzt der Finsternis in seiner Seele stellen musste, der am Ende erkannte, wie hässlich es in ihm aussah.
Der Earl warf ihm einen flehenden Blick zu. »Es tut mir leid«, hauchte er. »Vergib mir!«
Graham kniff die Augen zu. Er dachte an den Schmerz, den er erlitten hatte, an Jillian und die Hoffnung für seine Zukunft. Als er die Augen wieder öffnete, sprach er Worte, die er nie für möglich gehalten hätte: »Ich … ich vergebe dir.«
Auf einmal schien der Earl vollkommen friedlich. »Pass gut auf mein kleines Mädchen auf!«, sagte er, ließ die Felskante los und fiel in die Dunkelheit. Jillian schrie.
Graham musste dringend zu ihr nach oben. Sie war ganz allein und brauchte ihn. Seine Glieder schmerzten, doch er zog sich langsam zu ihr hinauf – zurück ins Leben.
Durch ihren Tränenschleier sah Jillian, wie Graham aus dem Bodenspalt kam. Er stand auf und nahm sie in seine starken Arme. Schluchzend schmiegte sie sich an seine Brust und ließ sich von ihm trösten. Eine Weile lang weinte sie, während er sie einfach festhielt. Als sie schließlich den Kopf hob, wischte er ihr die Tränen von den Wangen und strich ihr eine Locke aus der Stirn.
»Es tut mir leid, mein Liebes«, sagte er leise.
»Ich kann nicht glauben, dass er fort ist. Ich … ich bin froh, dass er dir und niemand anders mehr wehtun kann, und dennoch, oh Gott, er war mein Vater! All diese verschwendeten Jahre, in denen ich dachte, ich könnte nie gut genug für ihn sein. Ich wollte doch nur, dass er mich liebt, und er konnte es nicht – nicht so, wie ich es mir ersehnte. In gewisser Weise benutzte er mich wie ein Schild, hinter dem er sich versteckte.«
Plötzlich fiel ihr etwas ein. »Was meinte Vater, als er sagte, du hättest mich benutzt, um an ihn heranzukommen?«
Graham wurde weiß im Gesicht und schluckte. »Ich weiß es nicht genau.«
Ihr wurde zusehends unbehaglich. Ich will es nicht wissen, aber ich muss. Sie nahm all ihren Mut zusammen und flüsterte: »Ich glaube, du weißt es.«
Graham holte angestrengt Luft und sah ihr in die Augen. »Ja, Jillian. Ich weiß es, und ich verstecke mich nicht vor der Wahrheit. Was er meinte, war, dass ich dich benutzt habe, um an ihn heranzukommen und so leichter einen Weg zu finden, wie ich ihn ruinieren kann.«
Ihr brach das Herz. »Deshalb hast du mich geheiratet, Graham? Um in den engsten Kreis meines Vaters zu gelangen? Ich war ein Pfand, sonst nichts?« Bitte sag mir die Wahrheit! Aber ich weiß nicht, ob ich es ertrage, wenn du mich genauso benutzt hast wie Vater. All die Lügen!
»Ich habe dich aus vielen Gründen geheiratet, Jillian. Aber, ja, mich an deinem Vater zu rächen war ein Hauptgrund.«
»Wolltest du ihn für das töten, was er dir als Kind angetan hat?«
Sein Wangenmuskel zuckte. »Ich wollte ihn an jenem Abend auf dem Ball umbringen. Das hatte ich geplant. Aber … ich sah dich und habe es mir anders überlegt.«
Oh Gott, das war schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. Jillians Lippen bebten. Wie konnte er ihr das antun? »Du hast deine Pläne geändert? Du wolltest ihn ruinieren, und ich war dein Pfand? Deshalb wolltest du nicht, dass ich mit dir herkomme!«
Graham schien beschämt. »Ja. Ich sorgte dafür, dass er mit einem kleinen Jungen erwischt wurde. Nachdem man ihn verhaftet hatte, schickte er mir einen Brief, in dem er Rache schwor. Ich lockte deinen Vater hierher nach Ägypten, denn ich wusste ja, dass er die Karte hatte und die Höhle finden konnte. Er würde mich töten oder ich ihn. Aber ich wollte nie dir wehtun, Jilly – niemals!«
Zwei Tränen kullerten über ihre Wangen. »Hast du aber«, flüsterte sie.
Er machte einen Schritt auf sie zu, doch sie hob die zitternde Hand. »Nicht, Graham. Du hast mich belogen. Du hast mich benutzt – oh Gott, du hast mich genauso benutzt wie Vater. Er liebte mich in Wahrheit nicht und du auch nicht. Du hast mich öffentlich unmöglich gemacht, indem du allen sagtest, ich sei keine Jungfrau mehr – alles nur, damit ich gar nicht anders konnte, als dich zu heiraten. Dabei ging es dir nur darum, dein Ziel zu erreichen! Du wolltest nicht, dass ich dir einen Erben schenke, ganz zu schweigen von …« Sie senkte die Stimme. »Ganz zu schweigen von meinen intellektuellen Fähigkeiten. Du wollstest nichts außer Rache.«
»Das war der Grund, weshalb ich dich geheiratet habe. Doch ich habe mich in dich verliebt. Ich liebe dich, Jilly!«
Jillian kehrte ihm den Rücken zu. »Alles, was ich je wollte, war, dass du dein Leben mit mir teilst, Graham, nicht dein Vermögen oder deinen Titel. Ich wollte die Wahrheit. Aber selbst jetzt noch wolltest du mich anlügen, als ich dich fragte, was Vater meinte.«
»Verzeih mir, bitte!«, flehte er mit gebrochener Stimme.
»Dir zu verzeihen ist nicht das Problem, Graham. Was für eine Ehe können wir führen, wenn ich dir nicht vertraue? Was für ein Mann bist du?«
»Verlass mich nicht, Jilly!«, bat er sie, und der zitternde Klang seiner Worte traf sie beinahe so schmerzlich wie sein Betrug.
Sie rang die Hände und erwiderte unter Tränen: »Ich versprach dir, zu bleiben, aber ich werde dir nie wieder glauben können. Ganz gleich, wie oft du mir beteuerst, du würdest mich lieben – ich werde niemals wissen, ob du es ehrlich meinst. Niemals!«
Schweigend ging sie zu ihrem Rucksack und angelte ein sauberes Tuch heraus, um sich das Gesicht abzuwischen. Ihr Vater war tot. Ihre Ehe war tot. Sie hatte alles verloren.
Im Grunde aber hatte sie beides ja nie gehabt, oder?