Kapitel 14
Graham wusste, was zu tun war. Um jeden Preis musste er seine Familie vor dem Zorn des Earls schützen. Und nun hatte er die Karte. Er würde nach Ägypten reisen, die Bestie fortlocken und nach dem verlorenen Schatz suchen. Einer von ihnen beiden würde in Ägypten sterben, entweder der Earl oder Graham selbst.
Schweren Herzens setzte er sich mit seinem Bruder zusammen und berichtete ihm, was geschehen war. Graham riet Kenneth, sich mit der Familie auf den Landsitz in Yorkshire zurückzuziehen. Kenneth sah ihn mit einer Mischung aus Ärger und Trauer an.
»Ich wünschte, du hättest dich mir früher anvertraut. Ich lasse Badra, Jillian und die Kinder schnellstmöglich nach Yorkshire bringen. Aber du reist nicht ohne mich nach Ägypten!«, erklärte er entschieden.
Graham war gerührt, schüttelte jedoch den Kopf. »Ich komme allein zurecht«, entgegnete er schroff.
Kenneth trommelte gereizt mit den Fingern auf den Tisch. »Du bist mein Bruder. Ich habe dich vor Jahren im Stich gelassen, als die al-Hajid unsere Karawane überfielen. Ich lasse dich nicht noch einmal im Stich!«
»Du konntest nichts dafür.«
Ihre Blicke begegneten sich. »Doch, weil Vater und Mutter mich versteckten, während du zurückbliebst. Du warst der Erbe. Sie hätten dich retten müssen, nicht mich.«
Es schnürte Graham die Brust zu, und zum ersten Mal wurde ihm klar, dass nicht nur er bis heute von der Vergangenheit gequält wurde, sondern sein Bruder ebenfalls.
»Was geschehen ist, ist geschehen, Kenneth. Dein Platz ist bei deiner Familie, und du kannst mir am besten helfen, indem du dafür sorgst, dass meine Frau bei dir in Sicherheit ist«, brachte er mühsam heraus.
Kenneth raufte sich die Haare. »Ich wünschte, alles könnte anders sein, Graham – für uns beide.«
»Ja, ich auch«, sagte er leise.
Kenneth ging, während Graham an dem Satinholzschreibtisch sitzen blieb und einen Brief in Arabisch schrieb – an den Earl of Stranton.
»Wenn du mich willst, Stranton: Ich breche in zehn Tagen nach Ägypten auf. Ich werde mir Khufus Schatz mit der Karte holen, die du mir vor Jahren wegnahmst. Versuch, mich zu finden, du Ziegenpenis!«
Graham versiegelte das Pergament und gab es seinem Sekretär mit der Anweisung, es Lord Huntly zu überbringen. Stranton würde Kontakt zu ihm aufnehmen. Ja, Graham war sicher, dass der Earl sich wieder an seinen Freund wenden würde.
Die Falle war aufgestellt, mit ihm als Köder. Stranton konnte ganz gewiss nicht widerstehen.
Das war nicht wahr. Es durfte nicht wahr sein!
Jillian hatte die Zeitung gefunden, die auf dem Kohlenrost im Arbeitszimmer ihres Mannes brannte. Die schreckliche Schlagzeile leuchtete ihr aus den züngelnden Flammen entgegen, bevor sie zu schwarzer Asche zerfiel. Ihr Vater sollte solch furchtbare Dinge tun? Unmöglich!
»Jillian, ah, gut! Ich habe dich schon gesucht.«
Beim Klang der tiefen rauchigen Stimme erschrak sie und wandte sich schuldbewusst zu ihm um. Stumm sah sie ihren Ehemann an, der hereinkam.
»Graham, was ist geschehen? Als ich heute bei meiner Tante Mary zum Tee war, erzählte sie mir, Vater sei wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet worden. Wolltest du das vor mir verheimlichen?«, fragte sie und zeigte auf die verbrannte Zeitung.
»Ja. Setz dich, bitte! Wir haben einiges zu besprechen, Jillian.«
Sie sank in einen der breiten Sessel vor dem Feuer und faltete die Hände im Schoß. Graham schritt vor dem Kamin auf und ab wie eine gefangene Raubkatze.
»Ich habe mit meinem Bruder gesprochen, und wir halten es beide für das Beste, wenn du zu deiner eigenen Sicherheit mit ihm und seiner Familie nach Yorkshire ziehst, bis der Skandal sich gelegt hat. Ich reise nach Ägypten, um Khufus verlorenen Schatz zu suchen und so die Familie aus ihrer Finanzmisere zu befreien. Mit der Kopie von der Karte, die du mir gemacht hast, werde ich ihn sicher finden.«
Sie starrte ihn stumm an. Besprechen? Er besprach gar nichts mit ihr, sondern erteilte ihr Befehle. Hier ging es um weit mehr als den Skandal. Graham reiste allein nach Ägypten und verbannte sie ins kalte, moorige Yorkshire? Nun war der Moment gekommen, ihre Trumpfkarte auszuspielen. Sie musterte ihren Ehemann, der sie auf seine typisch eindringliche Art ansah.
»Ich brauche die Kopie«, sagte er.
»Die kannst du nicht haben.«
»Was?!«
Jillian raffte all ihren Mut zusammen, als sie erkannte, wie wütend ihr Mann wurde. Noch während er auf sie zukam, sagte sie: »Die Karte ist an einem Ort, an dem du sie nie findest.«
Graham war wie versteinert.
»Wenn … wenn du also …« Sie schluckte. »Wenn du also den Schatz finden willst, musst du mich nach Ägypten mitnehmen. Ich bin die einzige Person, die genau weiß, wo der Schlüssel vergraben ist.«
»Nein«, wies er sie schroff ab, »du wirst mir sagen, wo die Karte ist! Ich nehme dich nirgendwohin mit.«
Sie war unendlich enttäuscht. Natürlich würde er sie nicht mitnehmen. Er hatte nein gesagt, also … nein. Aber sie konnte ihm nicht nachgeben. Es war viel zu wichtig, noch viel wichtiger als bloß ein Schatz. Die Wunschkiste bedeutete ihrem Mann etwas. Deshalb ballte Jillian die Hände zu Fäusten, atmete tief durch und sagte: »Nein.«
Der Herzog kniff die Augen ein wenig zusammen. »Nein?«
»Ich sage dir gar nichts – nicht, bevor wir in Ägypten sind. Dann werde ich dir die Kopie geben.«
Trotzig streckte sie die Schultern durch. So fühlte es sich an, standfest zu sein! Ein bisschen beängstigend zwar, aber durchaus auch erhebend.
Eine Minute lang drohte sein offensichtlicher Zorn ihre Entschlossenheit zu besiegen, und sie wollte kapitulieren. Ja zu sagen entsprach der allzeit unterwürfigen, braven Jillian. Damit jedoch würde sie um ein Vielfaches mehr verlieren, als der Schatz bot. Sie verlöre alles.
»Nimm mich mit, und du bekommst die Karte, Graham!«
Sein Wangenmuskel zuckte. »Jillian, da gibt es etwas, das du wissen solltest. Dass ich nach Ägypten reise, hat unter anderem mit der Verhaftung deines Vaters zu tun. Er gibt mir die Schuld und hat Rache geschworen. Ich hoffe, ihn von dir und meiner Familie weglocken zu können, nach Ägypten. Er hat die Karte und … wird wissen, wo er mich findet. Zu deiner eigenen Sicherheit musst du hierbleiben.«
Sie erstarrte, und plötzlich wurde ihr übel. »Was ist passiert?«
»Es geht um … die unerfreulichen Umstände, die zu seiner Festnahme führten. Ich war dabei, als man ihn verhaftete.«
»Er wurde wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet. Warum warst du dabei?«
»Außer mir waren noch mehrere Lords anwesend. Es war eine Razzia, bei der wir zugegen waren«, antwortete Graham. »Dein Vater wurde in einer kompromittierenden Situation ertappt.«
Er sah sie an, als wollte er beinahe, dass sie nach den genauen Umständen fragte. Aber Jillian schloss die Augen, weil sie eine geschlossene Tür vor sich sah, hinter der ein schwacher verängstigter Schrei zu hören war.
»Ich will es nicht wissen«, flüsterte sie.
War das Erleichterung in seinem Blick? Selbst wenn – es war ihr gleich. Jillian reckte das Kinn und sah ihm in die Augen. »Ich habe keine Angst mehr vor meinem Vater, Graham. Ich bin deine Frau. Und ich komme mit dir. Wenn du den Schatz finden willst, nimmst du mich mit.«
»Nein, Jillian. Du wirst mir die Karte geben, und damit ist dieses Gespräch beendet!«, erwiderte er streng.
Wieder flammte Wut in seinen Augen auf. Er schritt auf sie zu, seine sämtlichen Muskeln sichtlich angespannt. Keinen halben Meter von ihrem Sessel entfernt, blieb er stehen und beugte sich zu ihr. Sie fühlte die Hitze seines Zorns und wich zurück. Jillian erinnerte sich nur zu gut an die Wutausbrüche ihres Vaters, und ihr Instinkt drängte sie, aufzugeben.
Dann schloss sie die Augen. Ihre Stimme zitterte, als sie sprach. »Nur zu, Graham! Bestraf mich für meine Aufsässigkeit, aber ich werde dir die Karte nicht geben. Ich gebe sie dir nicht!«, flüsterte sie.
Zunächst herrschte beklemmendes Schweigen. Dann hörte sie, wie der Herzog leise sagte: »Jillian, sieh mich an. Sieh mich an! Ich würde dich niemals bestrafen. Hab keine Angst vor mir – bitte!«
Sie wagte es, die Augen zu öffnen. Sein Zorn war verflogen, und er wirkte auf einmal müde.
»Du hast gewonnen, Jillian. Du wirst mich begleiten. Aber ich warne dich: Du könntest es am Ende bereuen. Wir beide könnten es bereuen.«
Ägypten, Ta-meri, hatte Graham ihr erklärt. Das Land der Liebe. Jillian war unendlich erleichtert, als sie Kairo erreichten. Die Überfahrt war anstrengend gewesen, da Grahams Stimmungen ihr zusehends Rätsel aufgaben. Tagsüber war er distanziert gewesen und grübelnd an Deck hin- und hergegangen. Doch Nacht für Nacht liebte er sie mit einer Heftigkeit, die sie nie zuvor an ihm gesehen hatte. Und hinterher hielt er sie fest in den Armen und flüsterte ihr arabische Worte zu.
Die Anspannung ihres Mannes war immer größer geworden, je näher sie Ägypten kamen. Selbst als sie im vornehmen Shepherd’s Hotel waren und ein schweigsamer Träger ihre Truhen auspackte, schritt Graham weiter rastlos auf und ab. Währenddessen blickte er sich immer wieder um, als wäre ihnen ihr Vater dicht auf den Fersen.
Jillian nahm die Kopie der Papyruskarte und betrachtete sie. »Wo suchen wir zuerst?«, fragte sie und zeigte auf die komplizierten Symbole.
Er blickte über ihre Schulter auf die Karte. »Der Schlüssel befindet sich außerhalb der Pyramide. Der Schlüssel, den du suchst, ist draußen, an der Stelle, die zu Ra weist. Die Kammern werden dich führen. Gemeint ist die Westwand der Pyramide.«
Jillian sah wieder auf die Karte. »Wie kommst du darauf?«
»Ich habe mich mit Flinders Petries sehr ausführlichem Vermessungsbericht über die Große Pyramide befasst. Alle Kammern der Pyramide liegen westlich des vertikalen Gangsystems. Vertikal heißt, sie zeigen zu Ra, dem ägyptischen Sonnengott. Aber zuerst müssen wir die Hinweise in der Königskammer der Pyramide entdecken. Das machen wir am besten tagsüber, dann hält man uns für gewöhnliche Touristen.«
»Faszinierend!« Jillian strahlte ihn an, doch er schien nach wie vor angespannt.
Erst als sie sich zur Großen Pyramide aufmachten, entspannte er sich allmählich. Der kurze Kamelritt war für Jillian ein wahres Erlebnis, und sie fühlte sich aufgedreht und begeistert wie lange nicht mehr. Die Sonne brannte ihr auf den Leib, und eine leichte Brise wehte. Als sie abstiegen und zur Pyramide gingen, blieb Jillian abrupt stehen. Ihr Mund öffnete sich in stummem Erstaunen, als sie auf das gigantische Bauwerk blickte, das sich im hellen Wüstensand rotbräunlich vom strahlend blauen Himmel abhob.
Jillian war von einem geradezu schwindelerregenden Hochgefühl ergriffen. Die Große Pyramide war nicht mehr der majestätische Tempel, den andere beschrieben. Sie war hier! Ein Traum, den sie schon seit ihrer Kindheit hegte, war in Erfüllung gegangen. Seit ihr Vater damals aus Ägypten zurückgekehrt war, wo er Pferde eingekauft hatte, und ihr von den phantastischen Sehenswürdigkeiten erzählt hatte, wünschte sie sich, das alles einmal mit eigenen Augen zu sehen.
Sie griff nach Grahams Arm, um ihn aufzuhalten.
»Das ist unvergleichlich – so imposant und dauerhaft!«, staunte sie laut.
Graham wandte sich zu ihr um, und für einen kurzen Moment leuchtete Bewunderung in seinem sonst so verschlossenen Gesicht auf.
»Die Pyramide ist wie du: wunderschön, mysteriös und verlockend. Jeder, der sie betrachtet, ist angesichts ihrer Schönheit von Ehrfurcht erfüllt«, sagte er leise.
Sie war gerührt, weil er so poetisch wurde, aber auch ein wenig verunsichert. »So siehst du mich, Graham? Die Pyramide ist großartig, aber aus abweisendem kalten Stein. Sie lädt nicht zur Nähe ein, strahlt keine Wärme aus.« Ihr Brustkorb fühlte sich unangenehm eng an. »Sie ist als Grab gebaut worden. Bin ich das für dich, Graham?«
Er strich ihr sanft über die Wange. »Du betrachtest sie wie eine Engländerin, als ein Denkmal für einen toten König. Aber du musst sie wie die alten Ägypter sehen. Denk an ihren Zweck.«
»Einen Leichnam zu bergen.«
Er wurde ernst. »Neues Leben zu bergen. Der Tod war für die alten Ägypter nur eine Reise, ein Übergang in ein neues Leben. Diese Pyramide wurde gebaut, um dem Pharao auf seinen Weg zu ewiger Freude im Nachleben zu helfen.«
Graham stellte sich hinter sie und legte die Arme um sie. Sein warmer Atem kribbelte an ihrem Ohr, als er ihr zuflüsterte: »Sieh sie dir genau an! Das bist du für mich: eine Reise in ein neues Leben.«
Ihre Enttäuschung war geradezu schmerzhaft. Sie hatte auf etwas Tieferes, Bedeutenderes, Vielsagenderes gehofft. Aber so klug seine Worte auch gewählt waren, sie änderten nichts. Ganz gleich, wie sehr sie sich bemühte, diesen Mann zu ergründen, seine Schichten zu enthüllen, eine emotionale Nähe zu ihm zu finden – sie scheiterte.
Vielleicht verlangte sie einfach zu viel.
Jillian drehte sich in seinen Armen um und lächelte. »Wollen wir nachforschen gehen?«
Für einen winzigen Augenblick verschwand die Maske, und Jillian sah eine schmerzliche Einsamkeit. Dann erwiderte er ihr Lächeln.
»Möchtest du hinaufsteigen?«, fragte er. »Das solltest du unbedingt tun, wo du doch zum ersten Mal hier bist.«
»Oh! Darf ich?«
Er begleitete sie zu den hohen Stufen und blickte auf ihre langen Röcke. Atemlos vor Aufregung, beobachtete sie, wie Graham zwei ägyptische Führer anheuerte. »Ich fürchte, du wirst Hilfe brauchen. Einige der Stufen sind anderthalb Meter hoch«, erklärte er ihr.
»Und was ist mit dir?«
»Ich komme allein zurecht.« Er sah sie an. »Macht es dir etwas aus, wenn ich vorausgehe? Ich war selbst seit einiger Zeit nicht mehr oben und kann es gar nicht erwarten, ganz oben zu sein.«
Sie lächelte. »Nur zu! Ich werde dich nicht aufhalten.«
Graham schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, bevor er mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze losging. Mit müheloser Eleganz schwang er sich Stufe um Stufe hinauf. Beim Klettern spannte sein heller Anzug sich über seinen breiten Schultern. Sein schwarzes Haar schimmerte bläulich im Sonnenlicht. Jillian bedankte sich freundlich, als ihr die beiden Ägypter die höheren Stufen hinaufhalfen. Da sie jedoch so viel wie möglich allein bewältigen wollte, kletterte sie die niedrigeren Stufen selbst.
Als sie schließlich oben ankam, sah sie Graham dort stehen wie einen Pharao, der den Horizont absuchte. Unten bewegte sich ein unendlicher Touristenstrom. Graham indessen schien wieder weit, weit weg. Etwas an seiner Haltung, stolz und distanziert, erinnerte sie unweigerlich an die antiken Könige des fremden Landes.
Dann aber kam sie näher und erschauderte. Wieder überkam sie das Gefühl, ihr Mann wäre nicht, was er nach außen schien. Und nun, da er mit verschränkten Armen dastand, mit steinerner Miene, wurde es ihr blitzartig klar:
Er ähnelte keineswegs einem zufriedenen Pharao, der sein Königreich überblickte, sondern vielmehr einem verbitterten Eroberer, der entschlossen war, das, was er vor sich sah, niederzuschlagen. Als wollte er an der Wüste für irgendetwas Vergeltung üben.
Welche Schlachten tobten in diesem Mann, Kämpfe, von denen er ihr niemals erzählen würde? Graham war eine Festung, nicht minder widerstandsfähig als die Pyramide, aus der Jillian ausgesperrt blieb. Und doch war er ebenso wenig wie das monumentale Bauwerk vor Eindringlingen geschützt. Man musste nur den verborgenen Zugang finden, genau wie die Archäologen den Weg zu Khufus Grab gefunden hatten.
Graham öffnete sich ihr, wenn sie sich liebten. Dann schien er verletzlicher. Und Jillians weibliche Intuition sagte ihr, dass sie damit einen Weg aufgetan hatte, zu ihrem Mann durchzudringen.
Er wandte den Kopf und bemerkte sie. »Da bist du ja! Wie war dein Aufstieg?«, fragte er.
Sie legte einen Arm um ihn und genoss mit ihm die berauschend schöne Aussicht auf die Wüste. Doch Graham wirkte abweisend und steif. Sie spürte, dass er Abstand brauchte, also ließ Jillian ihn los und ging ein Stück weg, um allein zu sein.
Nach dem Abstieg reihten sie sich in die Schlange plaudernder Touristen ein, die in die Pyramide hineinströmten. Nun veränderte Graham sich. Seine Distanziertheit verschwand, und an ihre Stelle trat eine spürbare Spannung. Er staunte nicht ehrfürchtig angesichts des Treppengangs oder der gewaltigen Steinquader, die sie umgaben. Er ignorierte die enthusiastischen Schilderungen des Führers, der ihnen auf Englisch die Hieroglyphen erklärte, die in die Wände gemeißelt waren. Vielmehr wirkte er ungeduldig und gereizt.
Weil sie um keinen Preis ihre wahren Absichten zu erkennen geben durften, hakte Jillian sich bei ihrem Mann ein und sorgte dafür, dass er nicht zu schnell voraneilte. Als er wieder einmal zu hastig schritt, zog sie ihn zurück. Verwundert drehte er sich zu ihr um und sah sie zunächst fragend an. Dann huschte ein reumütiges Lächeln über sein Gesicht.
Als sie schließlich die Königskammer erreichten, schlenderten sie mit den anderen Besuchern herum und gaben sich betont harmlos-interessiert. Doch sobald der letzte Tourist wieder draußen war, hielt Graham seine Frau zurück. Nun waren sie allein.
Das gedämpfte Licht in der Kammer zauberte kantige Schatten auf Grahams Züge, während ein aufgeregtes Funkeln seine Augen erstrahlen ließ. Ihr Mann sah ebenso begeistert aus wie ein Archäologe, der als Erster ein uraltes Denkmal entdeckt.
Sie inspizierten die Kammer sorgfältig – Graham die westliche, Jillian die östliche Seite. Bald wurden sie von einer weiteren Touristengruppe gestört. Als sie wieder draußen war, stopfte Graham die Hände in die Hosentaschen und kam zu Jillian. »Nichts. Aber es muss hier sein!«
Der Karte zufolge musste ein Hinweis in der Königskammer zu finden sein. Grabräuber hatten die ganze Kammer geplündert und sie so blank geräumt wie Geier einen Kadaver.
»Hier ist gar nichts.«
Jillian sah ihn an. »Vielleicht denkst du jetzt englisch. Versetz dich in einen Ägypter, denk wie einer. Sehen wir noch einmal auf die Karte. Was bedeuten die Hieroglyphen?«
Er faltete die Kopie des Papyrus auseinander und las laut vor: »In der Kammer Khufus befindet sich der Schlüssel zum Schatz, sichtbar für alle, doch verborgen vor jenen, welche den heiligen Toten bestehlen wollen. Folge Ras Weg, dann dem Nil gegen den Strom.«
»Die Karte besagt also, der Hinweis sei in der Pyramide selbst, die wiederum wie der Pharao ist: Schicht auf Schicht, kompliziert und verlockend.«
»Dann sollten wir über das Offensichtliche hinaus sehen. Aber die Karte verweist darauf, dass der Schlüssel an einem sehr sichtbaren Platz ist.« Graham rollte die Kopie wieder zusammen und steckte sie weg. »Ich sehe hier nichts sehr Sichtbares.«
Jillian blickte sich in der leeren Kammer um. »Was ist, wenn der Schlüssel gar kein Objekt ist, sondern etwas anderes? Gehen wir das Ganze einmal Schritt für Schritt an. Der erste wäre die Frage, was ein Schlüssel ist.«
Fasziniert antwortete er: »Er öffnet etwas.«
»Du bist immer noch zu gegenständlich. Wir sollten es abstrakter versuchen. Ein Schlüssel kann ein festes Objekt öffnen, etwa eine Tür, eine Kiste, eine Truhe …«
»Oder ein Rätsel.«
Ihre Blicke trafen sich. Grahams Augen leuchteten aufgeregt, während er über ihre Worte nachdachte. »Und was ist, wenn der Schlüssel in der Königskammer verborgen ist, es sich aber nicht um einen Schlüssel im wörtlichen Sinn handelt? Was kann es dann sein, das Grabräuber unmöglich stehlen können? Was ist verborgen und zugleich sichtbar?«
Jillian begann, in der Kammer auf und ab zu gehen. »Wenn Khufu einen Hinweis für seinen Sohn in der Grabkammer verstecken wollte, wo könnte er ihn verbergen und zugleich sichtbar machen?«
Ihre Schritte hallten durch die Kammer, ein rhythmisches Klackern auf den Steinen. Graham sah auf ihre Füße. »Das ist es, Jillian! Was ist dauerhaft und sichtbar, aber verborgen?«
Sie blieb stehen und sah ihn verwundert an.
Er zeigte auf ihre Füße. »Geh fünf Schritte!«
Folgsam machte sie fünf Schritte und blieb abrupt stehen. »Maße!«, rief sie aus. »Ja, Graham, das ist es!«
Er rieb sich nachdenklich das Kinn. »Die Karte sagt, wir sollen Ras Pfad folgen und dann dem Nil gegen den Strom. Ra, die Sonne, wandert von Osten nach Westen. Der Nil fließt von Süden nach Norden, gegen den Strom also von Norden nach Süden.«
Jillian maß die Kammer von Osten nach Westen, dann von Norden nach Süden, während Graham darauf achtete, dass keine Touristen bemerkten, was sie hier taten. »Draußen vor der Westwand der Pyramide gehen wir zwei Komma vier Meter in westliche Richtung, anschließend fünf Komma zwei Meter in südliche«, folgerte sie. »Wie lautet der dritte Hinweis?«
Graham las laut vor: »›In einem leeren Raum, dem König bestimmt, erkunde die Lebenstiefe eines Mannes, der in sein Nachleben hinabsteigt.‹ Ein leerer Raum, dem König bestimmt. Ein Sarg, der für einen König vorgesehen war, in den er niemals gelegt wurde. Aber der Leichnam wurde vor langer Zeit gestohlen.«
Graham lächelte sie an und fuhr fort: »Was ist, wenn er überhaupt nie in dem Sarg war? Es gibt Theorien, wonach Khufus Mumie nicht gestohlen, sondern in einer anderen Grabkammer versteckt wurde. Falls das stimmt, wäre der Sarkophag …«
»Eine Täuschung und leer geblieben.«
Beide sahen zu dem riesigen Steinsarg. Ohne Deckel und Mumie stand er leer an der Westwand der geplünderten Kammer. Jillian maß die Tiefe und notierte die Zahlen auf einem kleinen Block, den sie in ihrer Tasche bei sich trug.
»Fast ein Meter.«
»So tief muss der Schlüssel versteckt sein. Wir kommen heute Nacht wieder und graben«, sagte Graham. »Fürs Erste kehren wir zum Hotel zurück.«