Kapitel 13

Während der nächsten Wochen trat eine wohltuende Routine in Jillians Alltag ein. Tagsüber ritt sie im Park aus und saß stundenlang in der riesigen Bibliothek ihres Mannes, wo sie seine beeindruckende Sammlung verschlang. Jillian staunte über seine ausgezeichnete Literaturauswahl, achtete allerdings stets darauf, die Bibliothek zu verlassen, bevor er nach Hause kam und sie beim Lesen ertappte. Diese Lektion hatte sie von ihrem Vater gelernt, der für ihren Wissensdurst nichts als Verachtung übrighatte.

Manchmal erledigte sie im Salon Handarbeiten, ganz wie eine pflichtbewusste Gattin, während Badra mit ihr über Bücher sprach und dabei ihren Sohn stillte. Anfangs war Jillian schockiert, dass ihre freundliche Schwägerin Michael vor ihr an die Brust legte. Aber nach einer Weile begriff sie, dass die Viscountess gegenüber anderen deutlich diskreter war. Je besser sie Badra kennenlernte, umso mehr wurde Jillian klar, dass sie in ihr eine vertraute Schwester sah. Und sie war gerührt ob des Vertrauens, das Badra ihr entgegenbrachte.

Vertrauen und emotionale Nähe: Dinge, die der Herzog ihr nicht schenkte. Graham verschwand am Tag oft über längere Zeit, und als sie ihn einmal vorsichtig fragte, wohin er wollte, antwortete er knapp: »Das geht dich nichts an.« Verletzt hatte sie sich zurückgezogen und nie wieder gefragt.

Ihre Vertrautheit schien sich ausschließlich auf die gemeinsamen Nächte zu beschränken. Abend für Abend liebte er sie mit großer Leidenschaft. Und dennoch: Wenn sie in seinen Armen lag und ihm in die Augen sah, wirkte er distanziert, als würde er lediglich seinen Körper mit ihr teilen, während er den Rest für sich behielt.

Jillian stellte bald fest, dass sie ihrem Schwager und ihrer Schwägerin näher war als ihrem Mann. Ja, auch Kenneth, der zunächst so schweigsam ihr gegenüber gewesen war, wurde zusehends freundlicher. Dann und wann setzte er sich zu ihr in die Bibliothek, wo er ihr erzählte, dass er erst im letzten Jahr gelernt hatte, Englisch zu lesen. Er sprach von seiner Kindheit bei den Khamsin, dem ägyptischen Kriegerstamm, der ihn aufgezogen hatte, und davon, wie er sich in Badra verliebt hatte. Grahams Familie pflegte überhaupt einen sehr offenen Umgang, nur Graham nicht.

Beim Abendessen versuchte Jillian, ihren Mann in die Unterhaltung einzubeziehen. Sie wagte sogar, eine Bemerkung zu machen, als Graham und Kenneth über Investitionen redeten. Der strenge Blick, den ihr Ehemann ihr daraufhin zuwarf, ließ sie jedoch sofort verstummen. Sie senkte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf ihr Abendessen. Auf keinen Fall wollte sie dieselbe Verachtung in den Zügen ihres Gatten sehen, die sie von ihrem Vater kannte.

Heute wurde sie endlich einmal gebraucht. Jasmines Gouvernante war krank, und Jillian bot an, den Unterricht zu übernehmen. In dem hübschen kleinen Unterrichtsraum lasen und rechneten sie, bis Jillian beschloss, den wachen Verstand der Kleinen mit ihrer eigenen Liebe für die Ökonomie anzustecken. Jasmine saß an ihrem kleinen Holztisch und hörte ihr aufmerksam zu.

»England leidet seit 1873 unter einer Wirtschaftskrise. Die Schuld daran liegt zum Teil bei der industriellen Revolution. Wir sind kein imperialistisches Land mehr, das führend im internationalen Handel ist. Man sehe sich beispielsweise die Stahlproduktion an. Alle neuen Segelschiffe werden aus Stahl gebaut, und den produziert man in Amerika deutlich günstiger als hier. Was bedeutet es, wenn man ein Produkt billiger herstellen kann?«, fragte sie ihre junge Schülerin.

»Man kann es günstiger verkaufen?«

»Genau, und immer noch Gewinn machen. Man nennt das Angebot und Nachfrage. Käufer wollen Kosten sparen, also kaufen sie von demjenigen, der ihnen das Produkt am günstigsten anbietet. Und wenn nur eine begrenzte Anzahl von Schiffen gebaut wird, für die der Stahl in Amerika und nicht in England eingekauft wird, heißt das …«

»Unser Schiff geht unter«, erklang Grahams Stimme.

Jillian wurde eiskalt vor Angst. Unsicher drehte sie sich um. Ihr Ehemann lehnte in der Tür, die Arme vor der Brust verschränkt, und sah sie an. Jillian fühlte sich wie ein Kind, das erwischt worden war, als es sich einen Keks stahl. Sie sprang so nervös auf, dass sie ihren Stuhl umwarf, der polternd auf dem Boden landete.

Der Herzog kam herein und stellte den Stuhl wieder hin. Mit hochroten Wangen stammelte Jillian: »Es tut mir leid. Ähm, Miss Hunter ist heute krank, und ich … ich … dachte, Jasmine … ich meine, Ökonomie ist … und …«

Sie biss sich auf die Zunge. Würde der Herzog lachen, wie Bernard es getan hatte, oder sie bestrafen wie ihr Vater? Gewiss widerstrebte ihm, dass sie sich für Wirtschaft interessierte.

»Du denkst, England sei nicht mehr weltführend im industriellen Wachstum, Jillian?«, fragte er.

Sprachlos starrte sie ihn an, während er sie interessiert betrachtete. Ihr Herz raste, und Jillian wartete auf eine Zurechtweisung, doch er lehnte sich nur lässig mit der Hüfte an den Schreibtisch. Nach einigem Zögern holte sie tief Luft und antwortete.

»Massenproduktion hat die Kosten gesenkt und die Produktivität gesteigert, aber die Nachfrage in England ist schlicht nicht groß genug für all die Fabrikprodukte. Und unsere Exportmärkte in Übersee schrumpfen aufgrund der Konkurrenz aus Amerika.«

»Aber Amerika hat ebenfalls gelitten. Denk an die Wirtschaftskrise 1883«, konterte er.

Deutlich mutiger nickte sie. »Stimmt, doch Amerika wird sich eher wieder erholen als England, weil sie bessere Preise anbieten können und über natürliche Ressourcen verfügen. Als Industrienation hinken wir hinterher. Das ist das Gesetz von Angebot und Nachfrage.«

Der Herzog sah zu seiner Nichte. »Jasmine, ist es nicht Zeit für deinen nachmittäglichen Ausritt? Charles wartet auf dich.«

Die Kleine blickte zu Jillian, auf deren Nicken hin sie aus dem Zimmer stürmte. Der Herzog richtete sich auf und ging zu Jillian.

Oh nein, nun war es so weit! Jetzt folgten die Zurechtweisung, die Verachtung und die Schelte. Und von ihm könnte sie es noch weniger ertragen als von ihrem Vater. Jillian biss sich auf die Unterlippe.

Sie rechnete so fest mit einer Strafe, dass sie zusammenzuckte, als er seine große warme Hand an ihre Wange legte. Er strich ihr sanft über das Kinn, doch Jillian zitterte am ganzen Leib.

»Meine Frau, die brillante kleine Wirtschaftsexpertin. Ich bin fasziniert. Wen hast du alles gelesen?«

Für einen Moment war sie fassungslos. Er machte keine Anstalten, sie zu tadeln?

»Marshall. The Principles of Economics ist ein Buch, das mein Vater für seine Bibliothek gekauft hat, in dem er aber selten selbst las.«

»Du indessen hast es sehr wohl gelesen«, murmelte er. »Warum siehst du mich so verängstigt an? Ich bin keine Bestie. War dir nicht klar, als du das Thema beim Abendessen ansprachst, dass es mich interessierte?«

»Ich dachte … die Meinung einer Frau sei in solchen Dingen nicht ausschlaggebend für Männer.«

Ihr Vater jedenfalls hatte nie etwas auf ihre Meinung gegeben. Sogar ihre Mutter unterbrach er stets, wenn sie es wagte, etwas zu sagen. Ihr Vater, der ihre Mutter fortwährend kritisierte, bis ihre Mutter am Ende nur noch schwieg und nie wieder aussprach, was sie dachte.

Graham schnaubte verächtlich. »Für manche Männer mag das gelten – für mich nicht. Ich bin nicht besonders belesen, was Investitionen oder Wirtschaft angeht. Vielleicht könntest du mich aufklären.«

Er setzte sich auf den Schreibtisch und nickte ihr zu, sie möge sich setzen. Sein interessierter Ausdruck machte ihr Mut, und zögerlich begann Jillian, ihm einiges zu erzählen. Er stellte gezielte intelligente Fragen, hörte sich ihre Antworten an, hakte hier und da nach. Jillian war so begeistert, dass sie erschrak, als sie auf die kleine goldene Uhr an ihrer Bluse schaute und feststellte, dass über eine Stunde vergangen war. Sie stand auf und sammelte hastig die Papiere auf dem Eichenschreibtisch zusammen.

Graham betrachtete sie nachdenklich. »Du bist eine ausgezeichnete Lehrerin. Hast du jemals überlegt, eine höhere Bildung anzustreben?«

Jillian biss sich wieder auf die Lippe und starrte ihn an. Er war so freundlich, aber konnte sie es wagen, sich ihm anzuvertrauen? Andererseits hatte sie nichts mehr zu verlieren. Ihre Hände zitterten, als sie ihre Papiere glatt strich.

»Mein Herzenswunsch ist, aufs College zu gehen. Ich habe an das Radcliffe College in Amerika gedacht.« Erst jetzt wagte sie, wieder zu ihm aufzusehen, und zu ihrem Erstaunen erkannte sie nichts als Verständnis in seinem Blick.

»Ach, deshalb wolltest du weglaufen! Dein Vater weigerte sich, dich zur Schule zu schicken.«

Sie lachte verbittert. »Er schickte mich aufs Mädchenpensionat, damit ich lernte, Tee einzuschenken. Er duldete allerdings nicht, dass ich meine Meinung äußerte oder über Theorien sprach. Er meinte, ich sei eine schwache Frau, die über Dinge plappert, von denen sie nichts versteht. Das College in Amerika war meine einzige Möglichkeit.«

Er legte seine Hand auf ihre, und sie betrachtete den eleganten langen Finger.

»Du plapperst nicht. Ich finde dich höchst einnehmend und faszinierend. Warum kannst du mir nicht glauben?«, fragte er ruhig.

»Männer von gehobenem Rang erwarten nicht, dass ihre Frauen intellektuelle Gespräche mit ihnen führen. Sie erwarten von ihnen, dass sie ihnen ihre Körper schenken, nicht ihre Gedanken.« Jillian konnte nichts gegen den zynischen Unterton in ihrer Stimme tun.

»Ich glaube, Männer und Frauen können beides miteinander teilen«, entgegnete er.

»Ja?« Ihr Herz pochte wild, als sie sah, wie ernst es ihm war, und als sie zugleich dieses heißblütige Verlangen in seinen dunklen Augen erkannte.

»Nehmen wir zum Beispiel deine Ausführungen zum Gold«, sagte er leise. »Gold wie die Farbe deines Haars, wenn die Sonne daraufscheint. Du prophezeist, dass Gold die amerikanische Währung stützen wird.« Er zupfte ihr die Haarnadeln aus den aufgesteckten Locken, so dass sie in weichen Wellen über ihre Brüste fielen, von denen der Herzog eine mit der Hand umfasste. Ein sinnliches Feuer leuchtete in seinen Augen auf.

»Die Kaufkraft von Gold steigt weiterhin an«, stammelte sie, während ihr Blick unweigerlich auf etwas gleichermaßen faszinierend Ansteigendes in seiner Seidenhose fiel.

»Ich bezweifle, dass sie in naher Zukunft wieder fällt.«

Vor Verlangen waren seine Augen beinahe schwarz. Graham zog sie sanft mit sich hinunter auf den polierten Holzboden. Er hielt sie mit einer Hand im Nacken fest und drückte sie behutsam an sich.

»Gold, ähm, Gold ist sehr viel stabiler und verlässlicher, und solch ein …« Sie wimmerte auf, als er sie zärtlich in den Hals biss und dann sofort mit der Zunge über die Stelle strich. Nun legte er sie rücklings auf den Fußboden. Seine Hände – oh Gott, seine Hände waren unter ihren Röcken … Hier lag sie, in einem Schulraum, und brabbelte über Goldstandards, während ihr Ehemann ihre Röcke nach oben schob! Seine Hand glitt an der Innenseite ihres Schenkels entlang, neckte sie und zog an ihrem Strumpf. Mit schweren Lidern sah er ihr in die Augen und knöpfte ihre weiße Bluse auf, unter der ihre Brüste sich aus dem Korsett wölbten.

»Weißt du eigentlich, wie sehr ich es liebe, wenn du so sprichst?«, fragte er.

»W-wie?« Gütiger Himmel, er fuhr mit einem Finger über ihre Brust! Ihr Körper spannte sich in freudiger Erwartung.

»Wie die kluge Frau, die du bist. Das erregt mich.« Sie spürte seinen Atem an ihrem Ohr, als er zärtlich an ihrem Ohrläppchen knabberte.

»Ich wusste gar nicht, dass du Ökonomie so … anregend findest.«

Graham hob den Kopf, legte eine Hand an ihre Wange und sah sie an. Sein zärtlicher Blick ließ sie dahinschmelzen. »Ich finde dich anregend, Jilly, dich mit deinem wachen Verstand, deinem klugen Kopf … deiner Leidenschaft.«

Er löste ihr Korsett und befreite ihre Brüste. Jillian atmete tief ein und fühlte, wie sie errötete.

Mit einem langsamen Zungenstrich rieb er über ihre eine Brustknospe, dann nahm er sie ganz in den Mund, umkreiste sie mit der Zunge und sog daran.

Jillian bog sich ihm atemlos entgegen, während ihr mit jeder seiner Liebkosungen heißer wurde. Graham ließ ihre Brustknospe frei und hob den Kopf. Ein träges, wissendes Lächeln umspielte seine Lippen. Sein Mund war feucht, gerötet und warm. Ach, wie sie diesen Mund brauchte! Sie musste ihn auf sich fühlen, auf ihrem, sofort. Jillian schlang die Arme um ihn und zog ihn zu sich hinab.

Er küsste sie sinnlich und verführte sie, seinen Kuss zu erwidern. Dann hob er wieder den Kopf.

»Erzähl mir mehr von Marshalls Theorie!«, bat er sie.

Reden? Inmitten dieser Wonnen, die ihr den Verstand benebelten?

»Ähm, nun … Mr. Marshall hält es für logisch, dass der Mensch, wenn er sich zu einem Wesen höherer Bildung entwickelt, selbst für seine animalischen Leidenschaften eine geistige Stimulation braucht …«

»Animalische Leidenschaften«, raunte Graham. Er gab einen rauhen, knurrenden Laut von sich, während er ihr Schlüsselbein und ihren Hals mit Küssen überdeckte.

»Ähm, oh … oh … auch wenn der Mensch die Mittel hat, teurere Nahrung zu kaufen, ist sein Appetit immer noch begrenzt, weil die Natur ihm Grenzen setzt – oh Gott!«, stöhnte sie, als sein Mund sich ein weiteres Mal um eine ihrer Brustknospen schloss und die Zunge auf der festen Spitze flattern ließ.

Graham hob den Kopf und sah ihr in die Augen. »Und weiter?«, fragte er.

»Graham, bitte, zum Teufel mit der Wirtschaftslehre!«, flehte sie. Sie brauchte ihn in sich, sofort!

Ein tiefes Lachen brachte seine Brust zum Vibrieren, als er sich die Hose aufknöpfte. Dann beugte er sich über sie, blickte ihr in die Augen und legte sich zwischen ihre Schenkel. Sie fühlte, wie seine harte Erektion an ihren weiblichen Eingang drückte, bevor er mit einem heftigen Stoß in sie eindrang. Ihr Po rutschte auf dem glatten Holzboden, deshalb hielt er sie an den Hüften fest und wiegte sich vor und zurück, um tiefer in sie hineinzugelangen.

Jillian unterdrückte einen winzigen Schrei, klammerte sich an sein Revers und glaubte, in Wonne zu versinken. Schließlich gab sie nach, reckte sich ihm entgegen und erstickte ihren Aufschrei in seiner schwarzen Seidenjacke. Ihr Körper spannte sich und erbebte, entflammt von einem leidenschaftlichen Feuer. Graham versteifte sich über ihr und biss die Zähne zusammen, um den rauhen Aufschrei zurückzuhalten, während er am ganzen Körper erzitterte.

Atemlos blickte er auf sie hinab. »Hat dir dein Unterricht gefallen?«, fragte er.

Jillian hatte Mühe, ihre Stimme wiederzufinden. »Und … und was für ein Unterricht war das?«

»Das, Habiba, war eine Lektion in Angebot und Nachfrage. Da ich vorhabe, ein sehr nachfragender Gatte zu sein, werde ich dir so viel leidenschaftliche Wonnen anbieten, wie du irgend ertragen kannst. Ein Handelsabkommen, das beiden Parteien zugute kommt, wie ich meine.«

»Aber zu welchem Preis?« Sie hielt seinem Blick stand. In ihr war er noch hart.

Graham gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Du bestimmst den Preis. Wie klingt ein Collegebesuch hier in England für dich? Würde dir das gefallen?«

Jillians Herz setzte kurz aus. »Wirklich? Aber das Geld …«

»Vergiss das Geld! Wir finden eine Möglichkeit. Wenn dein Herzenswunsch ist, aufs College zu gehen, Jilly, dann will ich ihn dir erfüllen.« Er liebkoste ihre Wange. »Ich würde ihn dir auf einem Goldtablett servieren, wenn ich könnte.«

Sie lächelte matt. »Silber – Gold können wir uns nicht leisten.«

Graham lachte. »Falls ich ein College für dich finde, Jilly, wirst du dann bei mir bleiben?«

Für einen kurzen Augenblick lag eine unendliche Einsamkeit in seinen Augen. Jillian dachte daran, was er als Kind alles verloren hatte, und ihr ging das Herz auf. Doch sie brauchte mehr von ihm. Sie hatte geschworen, niemals eine Ehe wie die ihrer Eltern zu führen: zwei Menschen, die sich lediglich Raum teilten, nicht ihr Leben.

»Wenn ich bei dir bleibe, Graham, muss sich einiges ändern«, sagte sie langsam.

Er lag immer noch auf ihr und hielt sie mit seinem Körpergewicht hilflos auf dem Boden fest. Als zarte kleine Frau war sie also eindeutig im Nachteil. Aber sie blieb beharrlich, wusste sie doch, dass sie jetzt alles aussprechen musste, solange sie seine volle Aufmerksamkeit genoss.

»Ich kann nicht mit einem Mann zusammenleben, der sich mir verschließt. Du verschwindest für Stunden, ohne mir zu sagen, wohin du gehst. Du baust eine Mauer um dich herum, die niemand durchdringen kann. Sagtest du nicht, Männer und Frauen könnten ihre Körper ebenso teilen wie ihre Gedanken? Dann teile mit mir, Graham – alles!«

Sein Blick wurde eisig, und sie fühlte, wie er sich wieder einmal ganz in sich zurückzog, seinen Körper wie seinen Geist vor ihr abschottete. Er stand auf, richtete seine Kleidung und strich sich die Hose glatt, als hätte der Taumel der Leidenschaft, den sie eben noch gemeinsam erlebt hatten, überhaupt keine Bedeutung, als wären ihre Worte ohne jeden Belang.

An der Tür blieb er mit dem Rücken zu ihr stehen und erklärte mit vollkommen gefühlloser Stimme: »Ich weise meinen Sekretär an, nach einer Universität zu suchen, die dich aufnehmen kann. Denk darüber nach, Jillian. Ich kann dir deinen Herzenswunsch erfüllen – wenn du mich nicht verlässt.«

Aber kannst du mir auch dein Herz öffnen, Graham?, fragte sie stumm. Wie soll ich bei dir bleiben, wenn du darauf bestehst, mich auszusperren?

Er ließ sie dort auf dem Boden liegen, ihre Röcke bis zur Taille hochgeschoben und seinen Samen zwischen ihren feuchten bebenden Schenkeln.


Graham setzte seinen Plan mit äußerster Präzision in die Tat um. Er hatte alles vor Jillian verborgen gehalten. Um die finanzielle Krise seiner Familie zu lindern, verkaufte er eine der vier Araberstuten, die er von den Khamsin erworben hatte. Die Hälfte des Geldes bot er dem Khamsin-Scheich als Ratenzahlung für die Pferde an, aber Jabari schrieb zurück, er wolle das Geld nicht. Stattdessen bat er um einen kleinen Prozentanteil an den Deckprämien.

»Aber an den Deckprämien für deinen Hengst, mein Freund, nicht an deinen«, hatte Jabari geschrieben. »Doch wo ich gerade beim Züchten bin: gratuliere zur Vermählung! Betrachte die Stuten als Hochzeitsgeschenk.«

Graham seufzte, als er den Brief des Scheichs las, der in elegantem fließenden Englisch verfasst war. Zumindest waren seine finanziellen Probleme vorerst behoben.

Und nachdem sich der schlimmste Druck gelegt hatte, verbrachte er die Nachmittage mit Jillians Vater in dessen Club. Er gewann das Vertrauen Strantons, indem er, trotz seiner angespannten Finanzlage, absichtlich im Kartenspiel gegen ihn verlor. Zudem überzeugte er den Earl davon, sich für dessen politische Ziele stark machen zu wollen.

Nur eines lenkte ihn von seinem eifrigen Bestreben, Stranton zu ruinieren, ab: die Suche nach einem College für Jillian. Graham hatte seinen Sekretär damit beauftragt, und das vor allem aus einem tiefen Schuldgefühl heraus. Schließlich war ihm klar, dass er Jillian nicht geben könnte, was sie sich am sehnlichsten von ihm wünschte: sich. Unter keinen Umständen könnte er ihr die Finsternis in seinem Innern enthüllen. Er würde sich verwundbar machen, und wenn er etwas nie wieder wollte, war es Verwundbarkeit.

Strantons Ruin genoss zunächst einmal absoluten Vorrang. Graham schickte seinen vertrauenswürdigen Stallmeister Charles in eines der übelsten Elendsviertel Londons. Von dort kehrte der Diener schließlich zurück, um ihm mit angewiderter Miene zu verkünden, dass er die Sorte Junge gefunden hätte, nach der Graham suchte.

Am darauffolgenden Nachmittag kleidete Graham sich sauber, aber auffallend schlicht. Er betrachtete sein Spiegelbild, während er sich die Arbeitermütze aufsetzte. Wie der Panther musste er sich nahtlos in seine Umgebung einfügen, getarnt für die Jagd.

Das Viertel St. Giles befand sich mitten in London, störend und ekelerregend wie ein eiterndes Geschwür. Der Herzog und sein Diener streiften aufmerksam durch die schmalen Straßen, unauffällig nach rechts und links blickend. Die Börse, die sich auffällig unter dem Gehrock des Herzogs wölbte, müsste seine Beute sicher anlocken. Graham rümpfte die Nase, denn überall stank es nach altem Gin, saurem Erbrochenen und Urin.

Diese wimmelnde Brutstätte menschlichen Elends, überquellend vor Kriminalität und Armut, ließ Graham innerlich zu Eis gefrieren. Auf den Straßen herrschte ein solch reges Durcheinander von Menschen, dass er an das Nest schwarzer Skorpione in Ägypten denken musste, welches er einmal in einer Höhle gefunden hatte: genauso hässlich und mit genauso tödlichem Stachel.

Geübt im Erspüren von Gefahr, hatte er die Straßen stets im Blick, während er scheinbar gedankenlos dahinschritt. Es dauerte nicht lange. Graham fühlte eine winzige Bewegung an seiner Rocktasche. Katzengleich fuhr er herum und packte seine Beute beim Handgelenk. Es handelte sich um einen recht großen Knaben, der anstelle von Schuhen Lumpen um die Füße gewickelt trug und eine halbwegs vorzeigbare Jacke, die höchstwahrscheinlich gestohlen war.

»Lass mich los!«, forderte der Junge und versuchte, sich Grahams eisernem Griff zu entwinden.

Er war schon etwas älter, dreizehn Jahre vielleicht, nicht von der kindlichen Unschuld, die Graham für seine Zwecke brauchte. Also drückte er ihm warnend die Hand zusammen und warf ihm eine Münze hin. »Hier, geh dir ein Paar Schuhe kaufen!«, sagte er schroff.

Der Junge riss sich los und verschwand in der Menge.

Sie gingen weiter. Graham überblickte das Terrain, wobei er die verfallenen Häuser und ihre zerbrochenen, mit vergilbtem Papier zugeklebten Fenster ebenso ignorierte wie die barfüßigen kleinen Mädchen mit den verhärmten Gesichtern. Sie kamen an einem Mann vorbei, der einen geflickten Mantel trug und eine Frau gegen die Wand drückte. Die Beine der Frau waren um seine Hüften geschlungen, während er grunzend in sie hineinstieß. Derweil starrte sie mit dem abwesenden Blick einer Opiumsüchtigen in die Luft.

Graham zwang sich, nicht stehen zu bleiben. Schon bald zog es wieder kaum merklich an seiner Jacke. Und wieder hatte Graham den kleinen Taschendieb gefasst, ehe dieser sich’s versah.

»Hey!«, empörte der Kleine sich.

Er war in schmutzige Lumpen gekleidet und hatte das Gesicht eines halbverhungerten Engels mit verdreckten eingefallenen Wangen und trotzigen, aber verängstigten Augen. Der Herzog betrachtete ihn eingehend. Er musste ungefähr acht Jahre alt sein, und selbst unter all dem Schmutz und der Verwahrlosung erkannte man, dass er mit seinem schwarzen Haar und den großen dunklen Augen von einer geradezu überirdischen Schönheit war. Wäre er erst einmal gewaschen und frisch eingekleidet, dürfte er ausgesprochen verlockend aussehen.

Selbstekel regte sich in Graham, aber er atmete tief durch. Dem Jungen würde nichts geschehen, schwor er sich. Er konnte den Earl ertappen, bevor der dem Kleinen irgendein körperliches Leid zufügte.

Und was war mit dem seelischen Schaden?

Der Junge lebte auf der Straße, und so unschuldig er auch scheinen mochte, wusste Graham doch, dass er schon manches mit angesehen – und wahrscheinlich auch schon manches getan hatte. Mit seinen acht Jahren war er bereits ein verbitterter Veteran im Krieg um Essen und einen warmen Unterschlupf für die Nacht.

Als Gegenleistung für seine Mithilfe würde Graham dafür sorgen, dass er zu einer seiner Pächterfamilien auf dem Land kam und dort aufwuchs – vorausgesetzt, man konnte einen solch wilden, ungezähmten Burschen halten. Vorausgesetzt, er lief nicht weg. Aber vielleicht konnte die Aussicht auf Wärme, Sicherheit und Nahrung ihn locken – so wie sie schließlich Graham gelockt hatte, als er im Alter des Jungen gewesen war.

Der Herzog atmete tief durch und nickte Charles zu. Nachdem sie sich kurz begrüßt und gegenseitig vorgestellt hatten – der Knabe hieß Jeremy –, erklärte Charles, was sie ihm anboten. Jeremy beäugte sie misstrauisch und riss staunend die Augen auf, als Graham ihm zwei Münzen hinhielt.

»Verstehst du, was ich von dir will?«, fragte Graham.

Der kleine Taschendieb streckte ihm die schmutzige Hand hin. »Erst das Geld, Sir!«

Graham lächelte. Kluges Kind! Er überreichte Jeremy die zwei glänzenden Shilling-Stücke. Jeremy nahm sie, biss hinein, um sie zu prüfen, und starrte Graham an.

»Davon gibt’s noch mehr, nachdem du die Arbeit erledigt hast. Viel mehr. Und außerdem bekommst du ein Zuhause mit einem Bett ganz für dich allein und so viel zu essen, wie du willst.«

»Ein echtes Zuhause?« Wieder wurde der Kleine misstrauisch. »Wofür?«

Graham spürte einen Kloß im Hals. Er sah sich selbst mit acht Jahren, resigniert und sich stumpf in sein Schicksal ewiger Gefangenschaft bei den al-Hajid fügend. Wie wäre es für ihn damals gewesen, hätte ihm jemand alles angeboten, was er sich wünschte? Er war wie ein verwildertes Tier gewesen, hatte der ausgestreckten Hand misstraut, die ihm Freundlichkeit anbot. Faisal hatte ihn behutsam, Schritt für Schritt angelockt, wie man eben ein wildes Tier zähmt. Eine warme Mahlzeit, freundliche Worte, ein sicherer Ort. Am Ende hatte Graham die ausgestreckte Hand genommen.

Ja, er hatte letztlich eine Familie gefunden, die ihm seine verlorene ersetzte, ein Heim, in dem er sich sicher fühlen konnte. Er schluckte und zwang sich in die Gegenwart zurück. »Weil du mich an jemanden erinnerst, den ich kannte, Jeremy«, antwortete er.


Es war beinahe zu einfach.

Nach den vielen Gesprächen mit dem Earl über seinen Gesetzesentwurf waren sie zu so etwas wie Kameraden geworden. Und nun informierte Graham Stranton, dass er den perfekten Jungen für ihr Reformprojekt gefunden hatte, ein Opfer des Sexhandels.

Was der Earl nicht wusste, war, dass Graham sich nebenher häufig mit acht hochgeschätzten Oberhausmitgliedern traf. Lord Harold Bailey führte eine Kampagne zur Schließung der Opiumhöhlen, die er als »Hallen des Frevels« verteufelte.

Graham hatte ihn unter vier Augen davon in Kenntnis gesetzt, dass er von einem angesehenen Bürger wüsste, der diese Höhlen oft aufsuchte. Dann schlug er ihm vor, eine Polizeirazzia durchzuführen, um diesen Bürger auf frischer Tat zu ertappen, so ein öffentliches Exempel zu statuieren und die Schließung voranzutreiben. Die Lords könnten bei der Verhaftung dabei sein und auch die Presse hinzubitten, die über den Vorfall berichten würde. Auf diese Weise wäre die Öffentlichkeit gewarnt, dass solche Razzien fortan regelmäßiger stattfinden würden.

»Ich werde alles arrangieren«, bot Graham sich an, und Bailey hielt es für eine phantastische Idee.

Der Lord wusste allerdings nicht, dass Graham keine Razzia in einer Opiumhöhle plante, sondern eine öffentliche Zurschaustellung von Strantons perverser Neigung. Als Nächstes verfasste Graham einen Brief an Lord Stranton. »Ich habe den idealen Kandidaten, einen kleinen Jungen, den Sie auf den Pfad der Tugend führen können. Aber Sie müssten zu ihm gehen, ist er doch zu verängstigt, um nach Mayfair zu kommen.«

Diese Nachricht schickte er mit Wegbeschreibung und einem vereinbarten Termin sowie dem kurzen Hinweis, dass Jeremy alles für Geld zu tun bereit wäre. Außerdem versicherte Graham den Earl seiner absoluten Diskretion.

Die Falle war in einem heruntergekommenen Haus in St. Giles aufgestellt, in dem es nach abgestandenem Urin und Sex stank. In dem vorbereiteten Zimmer verharrte Graham hinter einer großen Kommode. Nebenan warteten die acht angesehenen Oberhausmitglieder, mehrere Polizisten und zwei Journalisten auf das Signal, das Zimmer zu stürmen. Der Herzog beobachtete Jeremy, wie er ängstlich und wehrlos auf der durchgelegenen Matratze hockte.

Lüsterne Gier trat in Strantons Züge, als er allein den Raum betrat. Jeremy sah verzweifelt aus – so verzweifelt, wie Graham es gewesen war.

Strantons erste Worte waren genau, wie Graham erwartet hatte.

»Was willst du?«, fragte der Earl mürrisch.

»Bitte, Sir, ich hab niemanden mehr, und ich brauch fünf Shilling.«

Stranton benetzte sich die wulstigen Lippen, die von seinem Speichel zu glänzen begannen. »Warum sollte ich dir helfen?«

»Ich mache alles, was Sie wollen – alles!«

»Zieh deine Hose aus!«, befahl Stranton mit heiserer Stimme.

Jeremy stand auf und band seine ärmliche fadenscheinige Hose auf. Perverse Lust leuchtete in Strantons grünen Augen auf. Er fingerte an seinem deutlich gewölbten Beinkleid aus edlem schwarzen Wolltuch.

In seinem Versteck erschauderte Graham bei der Erinnerung an seine entsetzliche Scham, während Stranton Jeremy unmissverständlich erklärte, was er von ihm erwartete. Komm schon, Junge, du kennst das doch … Unwillkürlich verkrampfte Graham sich.

Jeremy wirkte furchtbar klein und eingeschüchtert, als Stranton mit offener Hose auf ihn zuging.

Jetzt! Graham donnerte mit der Faust gegen die Wand. Gleich darauf stürmten die Polizisten herein, gefolgt von den Journalisten und den acht ranghohen Oberhausmitgliedern. Alle blieben abrupt stehen, als sie den Erwachsenen und den verängstigten Jungen sahen.

Der alte Lord Baker war verwirrt. »Das sieht gar nicht aus wie eine Opiumhöhle.«

Lord Huntly starrte entgeistert auf die Szene. »Guter Gott, Stranton, was zum Teufel ist hier los?«

Er klang angeekelt. Ja, er wusste Bescheid. Sie alle begriffen, was hier vor sich ging. Die Journalisten machten sich eifrig Notizen, während Jeremy, das gossenerfahrene Kind, bereits auf den Korridor entwischt war.

»Ich wollte die Lasterhaftigkeit der niederen Klassen beweisen«, erklärte der Earl. »Diese kleinen Würmer haben keinerlei Moral und würden für Geld alles tun. Sie ziehen es vor, keiner anständigen Arbeit nachzugehen, sondern wollen stattdessen unsere Gesellschaft, die guten aufrechten Leute korrumpieren.«

Erst jetzt trat Graham hervor. »Sie wollen unsere Gesellschaft korrumpieren? Angebot und Nachfrage, Stranton. Einfache Wirtschaftsgesetze. Er bot Ihnen einen Dienst an, den Sie unbedingt in Anspruch nehmen wollten. Geben Sie dem Jungen nicht die Schuld!«, entgegnete er mit unverkennbarem Zynismus und sah die Lords an. »Gentlemen, ich weiß, dass ich Ihnen sagte, ich würde Ihnen die Lasterhaftigkeit einer Opiumhöhle zeigen, aber ich dachte, dies hier könnte besser veranschaulichen, welchem weit verheerenderen Sittenverfall wir entgegentreten müssen.«

»Sie … Sie Lügner!«, rief der Earl mit rauher Stimme. »Caldwell, Sie haben mir versprochen … Sie haben mich hereingelegt!«

»Versprechen können gebrochen werden, al-Hamra.«

Stranton schloss seine Hose über der rapide erschlaffenden Erektion. Mit hochrotem Kopf und blanker Wut in den Augen versuchte er, sich der beiden Polizisten zu erwehren, die ihn bei den Armen packten. Dann starrte er Graham zornig an. Und in diesem Moment erkannte er ihn wieder.

Graham streckte seinen Rücken durch. In seinem Triumph hatte er einen gravierenden Fehler begangen. Stranton begriff nun …

»So hat mich seit Jahren niemand mehr genannt. Ich kenne Sie. Ich kenne dich!« Der Earl wechselte ins Arabische, und Graham fuhr zusammen. »Du bist es, Rashid, oder?«, hauchte der Mann entgeistert.

Graham fasste sich wieder und lächelte eisig. »Bin ich das?«, entgegnete er, ebenfalls in Arabisch.

»Dafür wirst du bezahlen, Bastard! Bei Gott, das wirst du! Von jetzt an bist du nicht mehr sicher, und auch deine Familie ist es nicht.«

Eisige Furcht erfüllte Graham, und er stürzte sich auf den Earl. Stranton lachte nur, als die Polizisten ihn wegzogen.

»Du kannst es nicht leugnen, denn ich weiß Bescheid. Es ist zwecklos, dich vor dem zu verstecken, was du bist. Gib’s zu, Caldwell! Erinnerst du dich?«

Graham wurde vollkommen still und stand schweigend da, als sein Feind abgeführt wurde. Strantons höhnische Worte hallten ihm durch den Kopf – dieselben Worte, die er vor zwanzig Jahren zu ihm gesagt hatte.

Lord Huntly blickte Stranton verwirrt nach, dann wandte er sich zu Graham um. »Was hat er gesagt?«

Graham antwortete ihm nicht.


Zu Hause angekommen, suchte er als Erstes nach seiner Frau. Jillian, die in der Bibliothek saß und las, sah ihn an und rief: »Graham? Was ist passiert? Du siehst furchtbar aus.«

Graham nahm ihre Hände. »Hast du inzwischen die Karte kopiert, Jilly?«

»Noch nicht. Mir fehlte der Mut, in das Haus zurückzukehren.«

»Dann mach es jetzt – sofort! Du musst es irgendwie schaffen. Du musst!«, flüsterte er.

Sie sah ihn ängstlich an. »Graham, was ist los?«

»Ich muss die Wunschkiste finden«, antwortete er zitternd. »Ich werde oben auf dich warten, und ich verlasse mich darauf, dass du es schaffst, Jilly. Es muss sein!«

»Ja, gut«, sagte sie leise. »Ich gehe gleich hin.«

Nachdem sie aufgebrochen war, machte Graham sich zum ersten Mal absichtlich daran, sich einen Rausch anzutrinken. Er packte die Brandy-Karaffe von der Anrichte und goss sich eine große Portion davon in einen der Kognakschwenker. Er nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Der Alkohol brannte wie Feuer in seiner Kehle.

Trotzdem war ihm immer noch eiskalt, als er sich mit dem Glas in der zitternden Hand vor den Kamin setzte. Eine ganze Weile saß er regungslos da und starrte an die Wand. Dann blickte er auf den Kognakschwenker. Wie überaus englisch. Wie passend für einen wahren Gentleman …

Mit einem leisen Aufschrei schleuderte er das Glas in den Kamin. Da er nicht wollte, dass seine Familie mitansah, wie verzweifelt er war, floh er nach oben in seine Gemächer, wo er sich auf dem Boden zusammenrollte.

Dort blieb er und wartete auf Jillian. Die Zeit kroch dahin, während seine Gedanken sich im Kreis bewegten. Die magische Wunschkiste. Wie oft hatte er als Junge von ihr geträumt und sich ihre Macht herbeigesehnt, damit sie ihn befreie? Sie musste die Kraft besitzen, neue Hoffnung zu wecken. Und nun war sie in Reichweite – falls Jillian es schaffte, die Kopie anzufertigen.

An den Schritten vor der Tür erkannte er, dass seine Frau zurückkam. Graham sprang auf und stellte sich leicht schwankend an den Kamin. Die Tür ging auf, und Jillian kam noch in ihrem Übermantel und mit geröteten Wangen herein.

»Ich habe sie, Graham. Ich habe sie an einen sicheren Ort gebracht, weil sie dir so wichtig scheint.«

»Gib sie mir!«, forderte er mit schwerer Zunge.

Er sah ihr an, wie es in ihr arbeitete. Dann kam sie zu ihm und nahm ihn in die Arme. »Graham, bitte sag mir, was passiert ist! Du hast getrunken, und du trinkst nie. Bitte, erzähl mir, was los ist!«

»Geh weg!«, murmelte er und kehrte ihr den Rücken zu.

Er lehnte den Kopf an den Kaminsims und hörte, wie sie leise aus dem Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss. Tief in seinem Innern wusste er, dass er ihr die Wahrheit sagen musste. Aber nicht jetzt. Er könnte es nicht ertragen, zu sehen, wie verletzt sie wäre.

Stunden später kam der Butler und meldete ihm, dass Lord Huntly gekommen sei und ihn in einer »außerordentlich dringlichen Angelegenheit« zu sprechen wünsche.

Graham schaffte es, sich wieder halbwegs herzurichten, und eilte hinunter in den Salon. Dort fand er Lord Huntly vor und neben ihm den kummervollen Marquis.

Ungläubig starrte Graham die beiden an, als sie ihm alles erzählten. Huntly fingerte an seinem Hut. »Tut mir leid, Caldwell, aber ich konnte nicht mit ansehen, wie er öffentlich entehrt wird. Wir sind seit Jahren gute Freunde. Ich schuldete ihm etwas.«

Huntly hatte seinen Einfluss geltend gemacht und den Richter überredet, Stranton gegen eine Kaution von fünftausend Pfund freizulassen. Die Kaution hatte der Marquis bezahlt. Als dieser jedoch am Nachmittag zu Strantons Haus gekommen war, um ihm zu sagen, er würde ihm die besten Anwälte beschaffen, hatte er erfahren, dass der Earl geflohen war. Er hatte allerdings einen Brief hinterlassen, adressiert an den Duke of Caldwell. Der Marquis überreichte Graham das edle Pergament. Das Papierknistern war wie Donnerhall, als er den Brief auseinanderfaltete.

Dann las er die Worte in Arabisch, bei denen ihm das Blut in den Adern gefror.

Ich kriege dich, Caldwell! Und es wird dir genauso gut gefallen wie früher. Ja, ich werde dich kriegen! Du kannst ans Ende der Welt fliehen, ich werde dich finden. Und wenn ich dich habe, zerstöre ich dich. Deine Familie wird ruiniert und mittellos sein. Vor mir kannst du nicht verstecken, wer du wirklich bist, hübscher Junge. Du mochtest, was ich mit dir tat. Du weißt, dass es dir gefiel.

Sturm der Leidenschaft: Er suchte einen verborgenen Schatz - und fand die Liebe seines Lebens
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