Kapitel 2
Ertappt. Hellwach vor Schreck, griff Jillian ängstlich in ihr Haar. Er wusste es. Er wusste, wer sie war! Flehentlich starrte sie ihn an, doch er wich zurück, als wäre sie Medusa mit dem Schlangenhaupt.
»Bitte!«, sagte sie und ärgerte sich, dass ihre Stimme so zittrig klang. »Ich kann alles erklären.«
Aber er raffte schon seine Kleidung vom Boden zusammen und streifte sich eilig seine Hose über. Als Nächstes zog er in Windeseile seine Socken und Schuhe an.
Sie ertrug es nicht, dass er einfach so davonlief – als wäre sie sein schlimmster Alptraum und alles Wunderbare, das letzte Nacht zwischen ihnen gewesen war, niemals geschehen. Falls er sie so zurückließ, würde sie mit voller Wucht empfinden müssen, was der Verkauf ihrer Unschuld aus ihr gemacht hatte: Sie war eine Hure.
»Graham«, bat sie ihn, vor lauter Angst etwas strenger, »sieh mich an!«
Er drehte sich zu ihr, während er zugleich in sein Hemd schlüpfte. Seine Augen funkelten wütend, dunkel wie Onyxe, kalt und hart. Ängstlich schrak sie zusammen, als er sprach, denn seine Stimme klang unheimlich ruhig, beherrscht und bedrohlich. Wenn er sie angeschrien hätte, wäre es weniger schlimm gewesen.
»Ich hatte ausdrücklich gesagt, dass ich keine Rothaarige will. Alles, nur keine Frau mit roten Haaren und grünen Augen.«
Ihre Verwunderung mischte sich mit Erleichterung. Demnach hatte er doch keine Ahnung, wer sie war.
»Ich weiß«, gestand sie kleinlaut.
Frostig blickte er ihr in die Augen und erstarrte. Die düstere Ruhe machte ihr noch mehr Angst als seine Wut. Nervös hüllte sie sich fester in die Bettdecke.
»Du hast mich hereingelegt!«, sagte er schließlich.
»Ich hatte keine andere Wahl. Alles war bereits vorher mit Madame arrangiert. Ich war verzweifelt.«
Er kam auf das Bett zu und fasste ihr Kinn mit einer Hand. Der zärtliche Liebhaber war fort und an seine Stelle ein gefährlicher Fremder getreten, der sie in seinem eisernen Griff festhielt. Sie erbebte innerlich, als sie daran dachte, wie liebevoll diese starken Hände sie berührt und ein süßes Feuer in ihr entfacht hatten. Furchteinflößend, wie sein Zorn war, erlaubte sie sich nicht, seinem Blick auszuweichen.
»Warum warst du verzweifelt? Wer bist du?«, fragte er.
»Ich brauchte Geld. Aber ich muss anonym bleiben, denn es wäre fatal, würde ich meine Identität preisgeben.«
Misstrauisch beäugte er sie. »Du kannst nicht verbergen, dass du eine gebildete Lady bist. Kenne ich dich?«
Jillian hoffte, er hörte nicht, wie sehr ihr Herz pochte. »Vielleicht, Mylord. Wir verkehren in denselben Kreisen. Also belassen wir es dabei, dass wir zwei Fremde sind, die eine Nacht gemeinsam verbracht haben. Es darf nichts als eine Erinnerung sein, die wir besser vergessen sollten.«
»Vergessen«, wiederholte er und kniff die Augen ein wenig zusammen. »Verdammt, ich will dich ja vergessen, aber mir ist klar, dass ich es nicht kann!«
Mit diesen Worten zog er sie zu sich und küsste sie mit einer regelrecht beängstigenden Leidenschaft. Seine Lippen forderten ihre auf, den Kuss zu erwidern, und so sehr Jillian sich dagegen sträubte, letztlich entwich ihr ein leiser Seufzer, sie schlang die Arme um ihn und schmiegte sich an ihn. Sie brauchte seine Hitze, seine Sinnlichkeit.
Als Graham den Kuss löste und zurückwich, legte Jillian erschrocken eine Hand auf ihren Mund. Sie war entsetzt ob des Verlangens, das sie erfüllte. Wie konnte ein Mann solch eine unangebrachte Lust in ihr entfachen? Noch dazu, während er ihr zugleich einen Blick zuwarf, der sie wie ein Messerstich ins Herz traf.
Er atmete tief durch und sagte: »Wir dürfen uns nie wiedersehen.« Dann griff er seinen Gehrock, drehte sich auf dem Absatz um und ging aus dem Zimmer. Er schlug die Tür so heftig hinter sich zu, dass die Angeln erbebten.
Jillian blieb allein und nackt im Bett zurück. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken. Sie war eine Hure.
In der ägyptischen Wüste hatte man ihn den Panther genannt, die lautlos schleichende Raubkatze, die ihre Beute allein jagte. Eine treffende Bezeichnung, war er doch stets ein Einzelgänger gewesen, der sich nicht zu den anderen Kriegern gesellte, nie abends mit ihnen am knisternden Lagerfeuer saß, um zu lachen oder prahlerische Geschichten über Manneskraft und Furchtlosigkeit in der Schlacht auszutauschen. Stattdessen hatte er sich stets abseits gehalten, gleich am Rande des Kreises von Feuerschein, Menschen und Wärme – eine Schattengestalt, ein Nachtwesen, das die Dunkelheit hasste und fürchtete, ihr dennoch nicht widerstehen zu können.
So wie der Panther kleiner als andere Raubtiere ist, gab es auch größere Männer als Graham, er besaß aber kräftige Muskeln, die jeden Feind mit schnellen, tödlichen Hieben niederstrecken konnten. Aus purem Überlebensinstinkt hatte er sich seinem Umfeld angepasst. Und dieselbe Anpassungsfähigkeit war ihm zugute gekommen, als er sein Erbe angetreten hatte und nach England zurückgekehrt war. Er hatte die Wüste mit ihrer sengenden Hitze und den beklemmenden Erinnerungen hinter sich gelassen und war quasi nahtlos in die Rolle des Herzogs geschlüpft.
Mittels Selbstdisziplin und eisernem Willen hatte er sich vom einfachen Wüstenkrieger in den gebildeten Duke of Caldwell verwandelt. Innerlich jedoch hatte er sich nicht verändert. Nach wie vor hielt er sich abseits, wenn auch nicht mehr abseits der Lagerfeuer, sondern nun abseits der glitzernden Londoner Bälle und Feste mit dem protzigen Kristallgeklimper und den nicht minder protzigen Unterhaltungen. Lächelnd und nickend blieb er höflich auf Distanz zum regen Treiben. Unabsichtlich sorgte sein Verhalten dafür, dass ihn eine Aura des Geheimnisvollen umgab, welche die Damen unwiderstehlich fanden. Dabei war ihr einziger Sinn der, seine inneren Qualen zu verbergen, seinen Schmerz auf dieselbe Weise zu tarnen wie die Blätter des Dornenbaums den Panther.
Von Zeit zu Zeit allerdings brach seine sorgsam kultivierte Fassade auf. Ein Gesicht in der Menge konnte beschämende Erinnerungen wecken und den Herzog von einer Sekunde zur anderen von der kraftvollen Dschungelkatze zum verwundeten Kätzchen mutieren lassen – zu jenem ängstlichen kleinen Jungen, gefangen in Ägypten, weinend um seine Eltern, deren grausame Ermordung er hatte mitansehen müssen, bevor man ihn in die Dunkelheit eines schwarzen Zeltes verschleppte, wo ihm ein brutales Raubtier auflauerte. Ihm, dem von entsetzlicher Furcht erfüllten Kind, das nur schreien und schreien wollte …
In solchen Momenten erschauderte Graham und hatte alle Mühe, den kindlichen Impuls, laut loszuschreien, zu unterdrücken. Er bekämpfte ihn, indem er sich zwang, ruhig und stetig zu atmen. Zugleich zog er sich ganz in sich zurück, auf dass niemand seine tiefe Scham bemerkte. Wer ihn von außen beobachtete, sah lediglich einen Mann mit einem leicht bitteren, gekünstelten Lächeln.
Zum Glück hatte ihn die Vergangenheit, abgesehen von den Alpträumen, seit über einem Jahr nicht mehr eingeholt – bis heute. Bis die Frau, mit der er erstmals die Hitze der Leidenschaft erlebt hatte, sich als die Verkörperung seines schlimmsten Alptraums entpuppte.
Das heftige Zittern, das ihn seit seiner Flucht aus Madame LaFontants Etablissement schüttelte, ließ auf dem Heimweg nur langsam nach. Als die Pferdedroschke vor seinem Haus in Mayfair eintraf, hatte er sich immerhin so weit gefasst, dass der steife Diener, der ihm die massive Eichentür öffnete, nichts bemerkte. Graham eilte geradewegs nach oben in seine Gemächer am Ende des Korridors, schloss die Tür hinter sich und fuhr sich mit zitternder Hand durchs feuchte Haar.
Die Rothaarige aus seinen Träumen, mit den smaragdgrünen Augen. Wie konnte das sein?
Schicksal, höhnte seine innere Stimme. Sie ist dein Schicksal, deine Bestimmung. Ja, bestätigte jener Aberglaube, den er von den Ägyptern übernommen hatte. In den prägenden Jahren seiner Kindheit erzählten sie ihm Märchen von bösen Dschinns, die in der Wüste ihr Unwesen trieben. Grahams englische Seite jedoch belächelte derlei Vorstellungen nur und verdrängte den Gedanken sogleich.
Mit großen Schritten eilte er in sein Ankleidezimmer, riss sich die Kleider vom Leib und schleuderte sie zu Boden. Splitternackt ging er ins Bad und ließ kaltes Wasser in die Waschschüssel ein. Beidhändig schleuderte er es sich ins Gesicht, bevor er den Kopf in den Nacken warf, so dass sich ein wahrer Sprühregen auf den Spiegel ergoss. Er betrachtete sein Gesicht: blass und blutleer.
Dann fiel sein Blick nach unten, und er zog eine Grimasse, als er das getrocknete Blut auf seinen Schenkeln und seinem erschlafften Glied sah. Sie hatte ihn mit ihrem Jungfernblut gezeichnet.
Einen leisen Fluch ausstoßend, befeuchtete er ein Handtuch und schrubbte sich energisch ab. Zugleich überkamen ihn Schuldgefühle, weil er ihr die Unschuld genommen und sie danach so gefühllos dort liegen gelassen hatte, allein in dem Bett. Er dachte daran, wie sie ihn mit ihren großen grünen Augen angestarrt hatte, so voller Schmerz. Und er behandelte sie, als wäre sie eine Hure.
Aber sie hat mich hintergangen!
Graham warf das Handtuch beiseite, tapste barfuß zurück ins Ankleidezimmer und nahm sich die frischen Kleider, die sein Kammerdiener ihm am Abend zuvor bereitgelegt hatte. Schnell zog er sich das frisch gestärkte weiße Hemd und die schwarzgraue Seidenhose an und band sich die schwarze Krawatte um, bevor er in die zweireihige, grau und schwarz gestreifte Weste schlüpfte. Als Letztes kamen der graue Morgen-Gehrock und die Lacklederschuhe. Der große goldgerahmte Spiegel zeigte einen dunkelhaarigen, dunkeläugigen, ausdruckslosen Aristokraten in makelloser britischer Kleidung. Was er nicht zeigte, war der Gefühlstumult, der in selbigem Aristokraten tobte.
Auf der Suche nach Essbarem und der beruhigenden Wirkung alltäglicher Verrichtungen, begab er sich wieder nach unten.
Im blassgelben Frühstückssalon war niemand. Aber auf der polierten Anrichte standen silberne Warmhalteschalen, unter deren Deckeln Graham all seine Lieblingsspeisen fand. Er nahm sich frisches Rührei, einen warmen Muffin, der vor Butter troff, und vier Streifen knusprigen Frühstücksspecks. Dann setzte er sich auf seinen Platz am Tisch, wo bereits die London Times für ihn bereitlag, und vertiefte sich in die Zeitung.
»Tee, Euer Gnaden?«
Graham blickte von der Zeitung zu dem Diener auf. Das Personal wusste, dass er morgens ausschließlich starken, bitteren arabischen Kaffee trank – eine der wenigen Gewohnheiten aus seinem ägyptischen Leben, die er nicht aufgegeben hatte.
»Ist kein Kaffee mehr da?«
»Ich bedaure sehr, Euer Gnaden, aber Euer Bruder hat den letzten getrunken. Die Köchin schickt gerade jemanden zum Markt, um frischen zu besorgen. Wenn Ihr wollt, gehe ich nach nebenan und leihe welchen …«
»Nein, schon gut.« Graham verschanzte sich wieder hinter seiner Zeitung und las die Überschriften. Wieder einmal versteigerte eine adlige Londoner Familie ihre Wertgegenstände. Ein wohlhabender Amerikaner namens Henry Flagler hatte eine Eisenbahnlinie von Jacksonville in Florida in irgendein gottverlassenes Kaff namens Biscayne Bay gebaut.
Graham las den zweiten Artikel, der ihn mehr interessierte als der erste. Amerikanische Eisenbahnen waren eine gute Investitionsmöglichkeit. Andererseits machten sich die Verluste, die ihnen die Baltimore-&-Ohio-Gesellschaft eingetragen hatte, unangenehm bemerkbar, wenngleich die finanzielle Situation der Familie nicht ernstlich bedroht war. Immerhin war Graham noch reich genug, um sich eine Jungfrau für eine Nacht höchster Wonnen zu kaufen … und mit der furchtbaren Erkenntnis zu erwachen, dass er die Hexe aus seinen Alpträumen verführt hatte. Seine Fingerspitzen, die über ihre Haut geglitten waren, weich wie Rosenblüten … Sein Herz pochte bei der Erinnerung an ihre kehligen Schreie, an die Hitze ihres Körpers, als er sie genommen hatte.
Es war nur Sex, rief er sich im Stillen zur Räson. Er mag heiß und vorzüglich gewesen sein, blieb aber doch schlichter Sex – sonst nichts. Sicher hätte er sich mit jeder anderen Frau ganz genauso angefühlt.
Wieder wandte er sich der Zeitung zu und zwang sich, konzentriert zu lesen. Ein klapperndes Geräusch veranlasste ihn, das Blatt aus der Hand zu legen. Graham sah auf und entdeckte das Stubenmädchen, das mit gesenktem Kopf und eingezogenen Schultern an ihm vorbeihuschte – schüchtern und ängstlich. Ihm fiel Kenneths Warnung wieder ein, dass er nie zu freundlich zu den Bediensteten sein durfte, doch er verwarf sie. Eine höfliche Begrüßung konnte schließlich nicht schaden.
Graham beobachtete, wie das Mädchen den Kohleneimer abstellte und begann, Kohlen in den Kamin zu schaufeln, den Kopf abgewandt wie ein scheuer Vogel.
»Guten Morgen«, begrüßte Graham sie lächelnd.
Die junge Frau starrte ihn zunächst verdutzt an, bevor sie zögernd zurücklächelte und eine ungeschickte Verbeugung machte. »Guten Morgen, Euer Gnaden. Gleich wird’s hier schön warm und mollig.«
Feuer im Sommer – ein unentbehrlicher Luxus für Menschen, die jahrelang in Ägypten gelebt hatten. Bald loderte die blaue Flamme auf, und die Kohlen begannen, zu glühen. Grahams Gedanken wanderten zu jenen fernen Tagen zurück, als er in ebendiesem Raum mit seinen Eltern beim Frühstück gesessen hatte. Wie war er damals verwöhnt worden! Er lächelte versonnen. Schon morgens durfte er Himbeertörtchen essen, die er so sehr liebte.
»Ein warmes Törtchen …«, sinnierte er laut.
Er hörte einen erschrockenen Laut, sah wieder zu dem Stubenmädchen und staunte, weil sie ihn mit großen blauen Augen anstarrte. »Mögt Ihr Törtchen, Euer Gnaden?«
»Oh ja!« Er lächelte verträumt. »An ihnen zu lecken und zu spüren, wie die köstliche Süße den Gaumen flutet …«
Das Mädchen benetzte sich die Lippen. »Ihr leckt gern an Törtchen, Euer Gnaden?«
»Ja. Vielleicht sollte ich es einmal der Köchin sagen.«
Ein Ausdruck amüsierter Ungläubigkeit trat auf die Züge des Mädchens. »Die? Ich kann Euch auch dienen, Euer Gnaden. Es wäre mir ein Vergnügen.«
Zu Grahams Verwunderung legte das Mädchen die Kohlenschaufel ab und kam zu ihm gehuscht. Ehe er sich’s versah, beugte sie sich zu ihm und erdrückte ihn beinahe mit ihren üppigen Brüsten. »Euer Gnaden sind so ein feiner, fescher Mann! Genau der Richtige, um das Bett eines Mädchens zu wärmen. Es ist so kalt oben auf dem Dachboden.«
Graham schluckte und hatte Mühe, zu atmen. »Ich könnte dir eine zusätzliche Decke geben«, sagte er hilflos.
Doch da lag ihre Hand auch schon auf seinem Schritt und tätschelte ihn. Er war entsetzt, obgleich sein Penis freudig aufzuckte.
»Ihr mögt Törtchen, ich mag Euer Würstchen«, schnurrte das Mädchen. »Habt Ihr Lust auf eine Tischnummer – ganz schnell?«
»Wie bitte?«, hauchte er perplex, während seine Erektion unter ihren geübten Liebkosungen anschwoll. Er wusste nicht, ob er sie schelten oder ihr danken sollte.
Immer noch rieb sie ihre großen Brüste an ihm, so dass sein Körper sich verspannte. Aber das war kein brennendes Verlangen, wie er es letzte Nacht verspürt hatte. Letzte Nacht war alles sanft, zärtlich und leidenschaftlich gewesen. Das hier hingegen fühlte sich lüstern, verderbt an. Und diese Erkenntnis jagte ihm eine entsetzliche Angst ein. Er musste die rothaarige Hexe vergessen, auch wenn sein Körper es anscheinend nicht konnte.
Entschlossen zog er die Hände des Stubenmädchens weg. »Das muss ein Missverständnis sein«, murmelte er.
Feste Schritte näherten sich vom Flur her. Graham blickte auf, als sein Bruder in der Tür erschien. Das Mädchen stieß einen erschrockenen Laut aus, griff sich den Kohleneimer und floh Richtung Küche. Kenneth sah ihr verwundert nach, dann zu seinem Bruder und setzte sich auf seinen Platz am Tisch.
»Was war hier los?«
»Das Stubenmädchen … hat mein Würstchen gestreichelt«, erklärte Graham fassungslos.
Kenneth warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Die Küchenhilfe? Du wirst doch nicht etwa …«
»Nein, natürlich nicht!«, fiel Graham ihm ins Wort. »Ich habe lediglich erwähnt, dass ich früher Törtchen mochte …«
»Gütiger Himmel, Graham!«, polterte Kenneth entsetzt los. »Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst nicht zu vertraut mit dem Personal werden? Weißt du denn nicht, dass Törtchen der Straßenjargon für ein leichtes Mädchen ist?«
Graham merkte, wie er rot anlief. »Offensichtlich nicht«, raunte er. »Dann dachte sie, ich wollte an ihr lecken …« Stöhnend vergrub er sein Gesicht in den Händen, linste aber durch die Finger. »Was ist eine Tischnummer?«
»Geschlechtsverkehr auf einem Tisch.«
Wieder stöhnte Graham.
Kenneth grinste. »Das kann ziemlich gut sein, ich empfehle es allerdings nicht auf einem voll gedeckten Tisch. Das Porzellangeklapper stört. Wo wir gerade beim, ähm, Thema sind: irgendwelche Neuigkeiten zu berichten?«
Graham zwang sich, die Fassung wiederzufinden, und bedachte seinen Bruder mit einem vernichtenden Blick. Als er an seinem Tee nippte, verzog er das Gesicht. Äußerlich mochte er wie ein waschechter Engländer erscheinen, aber an dieses Getränk würde er sich nie gewöhnen können. Was gäbe er für eine Tasse starken, kräftigenden Kaffees! »Die einzige Neuigkeit wäre wohl, dass du mir den ganzen Kaffee weggetrunken hast – mal wieder.«
Sein Bruder quittierte diese Bemerkung lediglich mit einem Achselzucken, nahm Grahams Muffin und biss davon ab. »Ich bin ein werdender Vater, was erwartest du? Ich muss für drei trinken: für Badra, das Baby und mich.«
»Wie es scheint, kannst du Kaffee einlagern wie ein Kamel Wasser. Und für drei essen tust du außerdem«, bemerkte Graham, entriss Kenneth den Muffin und warf ihn wieder auf seinen Teller. »Wenn du so weitermachst, wirst du noch runder als deine Frau.«
Kenneth lüpfte eine Braue und klopfte sich auf den flachen Bauch. »Da ist noch jede Menge Platz. Und was meine Frau betrifft – sobald wir mit diesem durch sind, kriegen wir gleich das nächste Baby.«
»Gönn der Ärmsten mal eine Pause!«, entgegnete Graham kopfschüttelnd. »Sie muss ja nicht alle Kinderzimmer oben auf einmal füllen.« Dann richtete er den Blick lächelnd nach oben. »Wie geht es Badra? Sie hat seit zwei Tagen nicht mehr mit uns gegessen. Ist alles in Ordnung mit ihr?«
Er kannte seinen Bruder inzwischen gut genug, um zu sehen, dass Kenneth besorgt war. »Sie ist müde – und nervös. Der Arzt meint, das Baby könne jederzeit kommen. Und sie ist bereit, mehr als bereit. Sie kann es gar nicht erwarten.« Er seufzte. »Ich auch nicht.«
Graham wusste nicht recht, wie er seinen Bruder aufmuntern konnte. Natürlich hatte Kenneth Angst, aber wie sollte ausgerechnet Graham ihm Mut zusprechen? »Es wird schon alles gut gehen«, sagte er.
»Ja, ich weiß. Aber genug davon!« Er streckte die Beine aus und trommelte mit den Fingern auf das weiße Tischtuch. »Wie ist es dir gestern Abend ergangen?«
Die beiläufige Frage vermochte Kenneths brennende Neugier nicht zu verhehlen. Graham wusste, dass sein Bruder es gar nicht abwarten konnte, möglichst viel zu erfahren. Mit einem wehmütigen Lächeln lehnte er sich zurück und dachte an den gestrigen Abend. »Mir erging es … recht gut.«
Kenneth strahlte vor Begeisterung, und eine Welle von Zuneigung erfasste Graham. Erst im vergangenen Jahr hatte er seinen Bruder wirklich kennengelernt – den Bruder, den er einst als seinen Feind betrachtet hatte und den er nie mehr wiedersehen würde, war die Tat erst vollbracht und er am Galgen aufgeknüpft …
Kenneth stieß einen Jubelruf aus und klopfte Graham auf die Schulter. »Wusste ich’s doch! Gratuliere!« Dann blickte er sich hastig um und errötete. »Entschuldige. Also, erzähl, lief alles wie geplant? Keine Pannen?«
Sein Lächeln schwand, als Graham die Hände zu Fäusten ballte und antwortete: »Nur ein oder zwei. Sie hatte rote Haare. Grüne Augen. Wie in dem Alptraum.«
Kenneth sah ihn erschrocken an. »Oh, verflucht!«
»Ja«, pflichtete ihm Graham mit einem Nicken bei, »sie … die Frau trug eine Perücke. Und in dem schummrigen Licht war ihre Augenfarbe nicht richtig zu erkennen gewesen.«
»Es tut mir leid, Graham. Ich …«
»Warum solltest du dich entschuldigen? Hättest du mich nicht dazu überredet …« Er zuckte mit den Schultern. »Das Ziel wurde jedenfalls erreicht, und das höchst angenehm, wie ich hinzufügen darf. Schade nur, dass ich morgens aufwachte und erkennen musste, dass ich betrogen worden war.«
Sein Bruder sah ihn fragend an. »Du hast dort geschlafen?«
»Die ganze Nacht«, bestätigte Graham seufzend. »Die ganze Nacht durch«, fügte er bedeutsam hinzu.
Kenneth bekam tellergroße Augen. »Keine Alpträume?«
»Kein einziger.«
Sein Bruder beharrte auf dem Thema wie der Hund auf seinem Knochen. »Vielleicht … ich meine, es hört sich an, als sei sie die Antwort auf deine Träume«, sagte er langsam und musterte Graham aufmerksam.
Der grinste verächtlich. »Mein schlimmster Alptraum?«
»Graham, Dinge geschehen aus einem Grund, glaub mir. Ich jedenfalls glaube daran. Und du tust es auch. Das ist Schicksal.«
Graham wollte widersprechen, ließ es dann aber und starrte stattdessen schweigend auf seinen Teller. Er und sein Bruder waren bei unterschiedlichen ägyptischen Stämmen aufgewachsen, nachdem ihre Eltern bei einem Überfall auf ihre Karawane getötet worden waren. Ihnen beiden war der Beduinenaberglaube von Kindheit an vermittelt worden, und er ließ sich ebenso wenig auslöschen wir ihre englischen Gene.
»Willst du immer noch zum Huntly-Ball heute Abend gehen?«
»Ja«, antwortete Graham leise, »gesellschaftliche Verpflichtungen.«
»Tja, geübt hast du ja genug. Du klingst schon fast wieder wie ein echter Brite. Du isst wie ein Engländer – und den Walzer beherrschst du sogar schon besser als ich. Keiner würde darauf kommen, dass du in Ägypten aufgewachsen bist. Und, bei Gott, diese englische Steifheit liegt dir fürwahr!«, scherzte Kenneth.
Bei ihrer Wiedervereinigung letztes Jahr in Ägypten hatte Graham eingewilligt, mit Kenneth, dessen frischangetrauter Frau Badra sowie deren Tochter Jasmine nach England zurückzukehren. Die erste Zeit lebten sie auf dem Landsitz der Familie in Yorkshire. Von dort aus verbreitete Kenneth eine ausgedachte Geschichte über Grahams Vergangenheit, damit ihn die gehobenen Kreise leichter wieder in ihrer Mitte akzeptierten. Gleichzeitig lernte Graham in der Ruhe des Landsitzes alles, was ein englischer Adliger können musste. Man brachte ihm richtiges Benehmen, Etikette und akzentfreies Englisch bei. Die ersten Bälle und Partys, die er während des vergangenen Monats in London besucht hatte, waren ein voller Erfolg gewesen. Mit Debütantinnen im Walzer übers Parkett zu schweben erwies sich als weit leichter als der Tanz mit seinen inneren Dämonen …
Kenneth musterte ihn prüfend. »Du glaubst, er wird jetzt da sein, nun, da die Saison richtig anfängt – der rothaarige Adlige … wie nannten die al-Hajid ihn noch gleich? Al-Hamra?«
»Ja. Sie nannten ihn den ›Roten‹. Ich habe eine andere Bezeichnung für ihn.«
»Er muss nicht unbedingt heute Abend dort sein.«
»Alles, was Rang und Namen hat, wird bei Huntlys Ball sein. Ich bin sicher, dass er auch dort ist. Er lebt in London, Kenneth, denn ich weiß genau, dass er es war, den ich letztes Jahr auf dem Platz gesehen habe.«
Im letzten Jahr, bevor er sein Leben als ägyptischer Krieger aufgegeben und seine wahre Identität gelüftet hatte, war Graham in London zu Besuch gewesen. Und bei einem Spaziergang im Park hatte er den rothaarigen Adligen gesehen, in dem er sicher war, al-Hamra wiederzuerkennen. An jenem Tag war er außerstande gewesen, seinem Peiniger gegenüberzutreten, und voller Angst zurück nach Ägypten geflohen, wo er sich für immer versteckt halten wollte. Damals hatte er geschworen, nie wieder nach England zu kommen. Kenneths und Badras hartnäckiger Überredung war zu verdanken, dass er seinen Schwur brach. Und ohne sie wäre er gewiss nicht hier. Viel zu schwer wogen seine Scham und seine Furcht.
Nun, da er wieder hier war und lernte, sein Leben als Engländer neu aufzunehmen, wich seine Scham zusehends einem erbitterten Zorn. Al-Hamra musste davon abgehalten werden, weitere verzweifelte, hilflose Kinder zu quälen. Und bei diesem Gedanken war ihm vor einiger Zeit plötzlich eine Idee gekommen – so kristallklar, als hätte sich ein Schleier von seinen Augen gehoben. Auf einmal bekam seine Wiedereinführung als Duke of Caldwell einen gänzlich neuen Sinn: Er würde die Bälle der Saison besuchen, dann seine Vergangenheit enthüllen und …
»Graham, alles, was Rang und Namen hat, denkt, du seist von einem exzentrischen englischen Ehepaar aufgezogen worden, das mit dir in verschiedenen arabischen Ländern lebte. Außerdem warst du erst acht Jahre alt, als … du weißt schon. Er kann dich unmöglich wiedererkennen.«
Graham sah gequält zu seinem Bruder auf. »Ich mache mir keine Sorgen, dass er mich wiedererkennen könnte. Ich mache mir Sorgen, dass …«
Beinahe hätte er es ausgesprochen. Er kniff die Lippen zusammen.
Sein Bruder lehnte sich vor und sah ihn mitfühlend an. »Fürchtest du, du könntest weglaufen wie beim letzten Mal?«
Wenngleich Kenneth gewiss nicht vorgehabt hatte, ihn zu verletzen, trafen Graham seine Worte. »Nein, ich fürchte keineswegs, dass ich weglaufen könnte. Vielmehr mache ich mir Sorgen, ich könnte, sobald ich ihn wiedererkenne …« Er lächelte so eisig, wie er sich innerlich fühlte. »Ich fürchte, ich könnte ihn töten.«
Sie war stets ein braves Mädchen gewesen – anständig, ruhig und höflich. Ja, Vater. Niemals Gefühle zeigen. Rücken gerade halten, wie Vater es will. Sie selbst war darüber zu einem Geist verkümmert. Eine rote Backsteinmauer, die das Feuer im Innern verbarg. Ja, das Feuer war da, brannte und wütete, drang jedoch nie nach außen. Niemals.
Jillian klopfte ihr Frühstücksei mit dem Messergriff auf – kleine rhythmische Schläge vollführend, so dass es sich anhörte wie das Picken eines Kükens, das sich aus seiner Schale befreite.
In Lord Strantons Haushalt gab es morgens ausschließlich hartgekochte Eier, weil ihr Vater nichts anderes zum Frühstück aß. Eines Tages, das schwor Jillian sich, würde sie morgens Rührei essen, vielleicht mit ein wenig Pfeffer und geriebenem Käse. Den ersten, weit größeren Schritt in Richtung Freiheit hatte sie allerdings in der letzten Nacht getan.
Der Earl of Stranton knurrte leise vor sich hin, während er mit gezielten Schlägen auf sein Ei eintrommelte. Sein rotes Haar ergraute zusehends und wurde lichter. Er war ein hagerer Mann mit einem teigigen Teint. Die leuchtend grünen Augen waren dieselben wie Jillians. Und ihnen entging nichts. Jillian spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte. Ahnte er, was sie gemacht hatte?
Sie dachte an das verdiente Geld, das sie sorgfältig in ihrem Zimmer versteckt hatte. So viel Geld für eine Nacht voller Leidenschaft in den Armen eines Fremden – eines Fremden, den sie nicht vergessen konnte.
Mit zusammengebissenen Zähnen und einem Anflug von Übelkeit blickte sie auf ihr Ei. Dann begann sie, in kleinen Bissen zu essen. In Gedanken war sie bei den losen Dielenbrettern oben in ihrem Zimmer, die noch mehr Geheimnisse bargen als Geld. Bald wäre sie in Amerika: Abenteuer, College, Leben! Die furchtbare Schule, auf die ihr Vater sie geschickt hatte, damit sie zur perfekten Frau für einen reichen Aristokraten geformt wurde, hatte ihren Wissensdurst nur gesteigert.
Sicher würde ihr in Amerika jemand zuhören, wenn sie über Dinge sprach, die sie wirklich interessierten, und ihre Gedanken achten. In diesem Haus hingegen fühlte Jillian sich wie ein abgedecktes Möbelstück – verborgen unter einer Hülle von Anstand, bis ihr Vater sie an den Meistbietenden verheiraten konnte.
Sie versuchte, das beklemmende Schweigen zu durchbrechen: »Wie ich hörte, haben die Amerikaner eine Eisenbahnlinie durch Florida gebaut, Vater. Mr. Flagler ließ sie in einem schrecklichen Sumpfgebiet enden, das sie Miami nennen. Es ist faszinierend, wie sie immer weiter expandieren. Glauben Sie, dort wird eine Siedlung entstehen?«
Immer noch Schweigen. Ebenso gut könnte sie mit der Tapete sprechen! Doch Jillian gab nicht auf. Sie schluckte gegen den Schmerz in ihrem Hals an. Ihr Vater hörte niemals zu …
»Mr. Dow in Amerika hat einen faszinierenden neuen Börsenindex entwickelt, den sie Dow Jones Industrial Average nennen. Ich denke, dass die amerikanische Wirtschaftskrise bald schon, mit der Präsidentenwahl, überwunden sein wird. Vater, meinen Sie, dass Vielfalt ein wichtiger Faktor bei der Investition ist? Tante Mary sagte, wenn ihr Gatte seine amerikanischen Investitionen gemischt hätte, wäre sie heute nicht in solch einer angespannten Situation …«
Nun wandte er tatsächlich den Kopf und sah sie streng an. Wieder hing eine geradezu erdrückende Stille im Raum, rasiermesserscharf und tödlich. Jillian fuhr innerlich zusammen.
»Ja, deine Tante Mary. Jillian, du hast es versäumt, meine Erlaubnis einzuholen, bevor du die Nacht bei ihr verbrachtest. Als ich gestern Abend heimkam und deine Mutter mir davon erzählte, war ich recht aufgebracht.«
Nun musste sie für die Lüge bezahlen, die sie ihrer Mutter aufgetischt hatte, indem sie ihre Lieblingstante als Alibi benutzt hatte. Sie nahm all ihren Mut zusammen und hielt dem stechenden Blick ihres Vaters stand. »Ich bin zweiundzwanzig, Vater, und kein Kind mehr. Mir sollte gestattet sein, hin und wieder das Haus zu verlassen.«
Ja, sie hatte es getan! Ihre Hände fingen an, zu schwitzen, und sie ballte sie im Schoß zu Fäusten. Nun war es vollbracht! Sie fühlte sich gleichermaßen erleichtert wie ängstlich. Zum ersten Mal hatte sie es gewagt, ihrem Vater zu widersprechen.
Lord Stranton stellte seine Kaffeetasse sehr vorsichtig ab und legte beide Hände auf den Tisch. Dann lächelte er seiner Frau am anderen Ende der riesigen Tafel zu. Jillian kannte dieses Lächeln. Der Earl of Stranton hob nie die Stimme. Stattdessen lächelte er so eisig, dass es einen bis ins Mark traf …
Jillian sah besorgt zu ihrer Mutter, die kreidebleich wurde. Guter Gott, nein, bitte nicht!
»Sylvia, du vernachlässigst in letzter Zeit den Rosengarten, der dir angeblich so sehr am Herzen liegt, ebenso wie du die Erziehung unseres Kindes in meiner Abwesenheit vernachlässigt hast. Die Büsche sind recht ausgewachsen und dornig. Gründliche Beschneidung ist bei allem unerlässlich, was gedeihen soll, sei es ein Garten oder ein starrköpfiges Kind. Nicht wahr, meine Liebe?«
»Reginald, bitte!«, flehte ihre Mutter mit zitternder Stimme.
Lord Stranton winkte den Diener herbei. »James, holen Sie die Rosenscheren, und nehmen Sie das ganze untere Personal mit in den Garten. Ich wünsche, dass jeder einzelne Rosenbusch heruntergeschnitten wird, sofort und bis auf den Stock!«
Sie durfte nicht zulassen, dass ihre Mutter derart bestraft wurde. Trotz ihres rasenden Pulses zwang Jillian sich, etwas zu sagen. »Vater, bitte, es ist mein Fehler. Ich hätte es Ihnen sagen müssen. Geben Sie Mutter nicht die Schuld, denn sie hatte nichts damit zu tun!«
Der Earl beachtete sie gar nicht, sondern wies den Diener an: »Unverzüglich, James! Schneiden Sie alle Sträucher herunter, und verbrennen Sie sie!«
»Sehr wohl, Mylord«, antwortete der Diener.
Während sie ihm hinterhersah, wie er den Frühstückssalon verließ, stieg Jillian ein Kloß in den Hals. Ihre Mutter senkte hastig den Kopf, doch zuvor hatte Jillian noch gesehen, dass sie Tränen in den Augen hatte. Lady Stranton würde allerdings nicht erlauben, dass ihr Gatte sie bemerkte.
Eine vertraute Trostlosigkeit erfüllte Jillian. Sie wandte sich wieder ihrem Essen zu, konnte jedoch nichts gegen ihre Wut und Furcht tun. Ihr wurde beinahe schwarz vor Augen, als der alte Alptraum wiederkam: eine Tür, die sich leise schloss, ein Schlüssel, der sich drehte, ein leiser Schmerzensschrei …
Jillian biss sich auf die Lippen und verdrängte die schrecklichen Bilder. Sie musste diese Tür für immer geschlossen halten, denn sie wollte nicht wissen, welche Geheimnisse dahinter lauerten.
»Nun zu deinen Terminen, Jillian. Ich befreie dich von den üblichen Besuchen am heutigen Nachmittag, da ich wünsche, dass du dich für den Ball bei Huntlys heute Abend sorgfältig herrichtest – und für Mr. Augustine.« Über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg warf ihr Vater ihr einen freundlichen Blick zu, der jedoch nicht über seinen eisernen Ton hinwegzutäuschen vermochte. Es war ein Befehl, unmissverständlich und keine Widerrede duldend.
»Ja, Vater, ich werde heute Abend zum Ball der Huntlys gehen.«
»Gut. Mr. Augustine hat in aller Form um deine Hand angehalten, und ich nahm seinen Antrag an. Ich sagte ihm, ich würde die Verlobung heute Abend bekanntgeben.«
Jillians Mund wurde unangenehm trocken. Etwas in ihr schrie auf. Sag ihm, dass du Bernard nicht heiraten kannst! Sag ein einziges Mal nein! Hilflos knüllte sie die Leinenserviette in ihren schwitzenden Händen und bewegte die Lippen. Dann hörte sie sich selbst leise sagen: »Ja, Vater.«
Ihr wurde speiübel. Angeekelt blickte sie auf ihr Ei mit der zerbrochenen Schale. Sie war kein Feuer, das im Innern brodelte, sondern ein Ei, dessen zerbrechliche Schale ein noch viel empfindlicheres Inneres umhüllte. So schwach. So entsetzlich schwach.
Deshalb muss ich fort.
Für ihre Mutter war es zu spät. Jillian blickte zur schweigenden Countess mit den dunklen Schatten unter ihren großen blauen Augen und den ausgehöhlten Wangen. Die Vorstellung, sie zu verlassen, schmerzte Jillian, aber Tante Mary hatte versprochen, auf sie achtzugeben. Tante Mary, die Schwester von Jillians Vater, hatte sie ermutigt, zu Madame LaFontant zu gehen, um sich das Geld zu verdienen, das sie für ihre Flucht brauchte. Nachdem sie abgewartet hatten, bis ihr Vater eine seiner üblichen Exkursionen unternahm, hatten sie auf dessen Anwesen in Derbyshire alle Einzelheiten besprochen.
»Sie besitzt das eleganteste Bordell in London. Dort wird man dich gut behandeln, Jillian«, versicherte Mary ihr.
Nun stand ihr nur noch ein Ball bevor, dann würde sie fortgehen.
Bis dahin allerdings musste sie sehr vorsichtig sein, damit ihr Vater nicht misstrauisch wurde. Sie würde sich so normal wie möglich verhalten und die gehorsame, unbedarfte Tochter mimen, die er in ihr sah.
Bald ist alles vorbei!, versprach sie sich im Stillen, umklammerte die Serviette in ihrem Schoß und drehte und zupfte an dem Leinen. Bald würde sie frei sein.
Als das Frühstück beendet war, entschuldigte Jillian sich höflich und floh in die ruhige Abgeschiedenheit der Bibliothek. Dort schloss sie die Tür, lehnte sich von innen dagegen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Genüsslich atmete sie den Duft der ledergebundenen Bücher ein, in denen so viel Interessantes zu finden war.
Hier herrschte Frieden. Hier wartete Wissen. Dies war ihr Zufluchtsort.
Sie machte es sich mit einem Band von Alfred Marshalls Principles of Economics in einem gepolsterten Sessel bequem. Liebevoll strich sie über den Einband des dicken Wälzers. Doch statt sich wie sonst in den Inhalt zu vertiefen, konnte sie sich heute einfach nicht konzentrieren. Stattdessen sah sie immer wieder den Mann von letzter Nacht vor sich. Graham.
Sie fühlte noch ein Brennen zwischen ihren Beinen, während ihr tausend Gedanken durch den Kopf gingen – an die Leidenschaft, die sie in den Armen des Fremden erlebt hatte, an ihre Wonneschreie, als er sie in ungeahnte Höhen katapultierte. Eine Nacht mit einem gutaussehenden Mann, der teuer für das bezahlte, was ihr Ehemann gratis bekommen sollte. Sie sah Grahams Gesicht vor sich, angespannt vor Verlangen, erinnerte sich an das Gefühl seiner zärtlichen Berührungen und an seinen festen Körper, der sich mit ihrem vereint hatte.
Wie wütend war er gewesen, als er entdeckt hatte, dass sie ihn getäuscht hatte. Etwas in Jillian krampfte sich zusammen. Wer war er? Ein Adliger mit einem Faible für Jungfrauen? Wie auch immer, auf jeden Fall war er sehr sanft und zärtlich gewesen, nicht annähernd so grob oder herablassend, wie sie erwartet hatte.
Sie dachte an seinen Samen in ihr, wo möglicherweise eine winzige verborgene Knospe in einem feuchten Garten zu sprießen begann. Aber nein. Ihre Monatsregel war gerade erst vorbei, und sie hatte die Kräutermixtur genommen, von der Madame LaFontant ihr versichert hatte, dass sie eine Empfängnis verhütete. Nein, sie hatte nichts dem Zufall überlassen!
Bald, beteuerte sie sich ein weiteres Mal. Sehr bald würde sie frei und in Amerika sein.
»Du kannst ihn nicht töten, Graham!«
Kenneth gab nicht auf. Den ganzen Tag schon stellte er Graham nach, fing ihn immer wieder ab und versuchte, mit ihm über das eine Thema zu reden, das sein Bruder unbedingt meiden wollte. Wie ärgerlich, dass ihm die Worte herausgerutscht waren!
Kenneth lehnte an der geschlossenen Tür von Grahams großzügigem Ankleidezimmer, die Stirn vor Sorge gekräuselt. Graham stand vor dem großen Spiegel und betrachtete sich stumm. Die Abendgarderobe kleidete ihn. Er sah englisch aus, auch wenn er im Innern immer noch ein Ägypter war – ein Krieger, der gelernt hatte, schnelle und wirkungsvolle Rache zu üben.
Eine beklemmende Stille legte sich schwer über den Raum, während Graham mit einem Finger innen an der strammen Krawatte entlangstrich. All die Jahre des Versteckens, die er wie ein Panther im Verborgenen gelauert hatte, um seine wahre Identität nicht zu zeigen. Der Panther war nun bereit, zuzuschlagen.
Sein Kammerdiener kam zurück und sammelte schweigend die abgelegte Kleidung ein. Kenneth wechselte zum Arabischen – jener Sprache, die beide Brüder beherrschten, das Personal aber nicht.
»Du kannst es nicht tun, Graham! Du bist kein Krieger mehr, der, seinen Krummsäbel schwingend, Gerechtigkeit übt.«
Ein bitteres Lächeln umspielte Grahams Lippen. »Ja, eine Pistole wäre passender«, sagte er nachdenklich, »wenngleich weniger schmerzhaft.«
»Du darfst ihn nicht töten, ganz gleich, wie sehr der verdammte Schuft es verdient!« Kenneths Stimme klang gefasst, doch zwei tiefe Furchen lagen auf seiner Stirn. Er schien sich große Sorgen zu machen.
»Vielleicht nicht. Kastration wäre eventuell sogar angebrachter. Gibt es rothaarige Eunuchen?« Der kleine Scherz amüsierte seinen Bruder nicht.
»Heuer jemanden an!«, platzte es aus Kenneth heraus. »Lass den Schurken besinnungslos prügeln oder sogar an irgendeiner Straßenecke umbringen, aber mach es nicht selbst!«
»Nein. Das ist eine persönliche Angelegenheit. Ich muss es selbst tun.«
»Und was dann, Graham? Verdammt nochmal, mir gefällt die Vorstellung, dass dieser Schakal frei und ungeschoren herumläuft, ebenso wenig wie dir! Aber das hier ist England, nicht Ägypten! Hier gelten Gesetze.« Kenneth schrie beinahe.
»Auch in der Wüste gibt es Gesetze«, erinnerte Graham ihn ruhig. »Die Strafen sind ein wenig primitiver, könnte man sagen, aber ziemlich wirksam.«
»Wenn man dich erwischt, wirst du verhaftet und am Galgen hängen.« Kenneths hübsches Gesicht war vor Kummer verzerrt. »Jahrelang dachte ich, du seist tot, Graham. All die verdammten, verschwendeten Jahre. Ich will dich nicht wieder verlieren – nicht so. Du bist meine Familie, und ich liebe dich genauso wie meine eigene Frau und mein Kind.«
Sein Bruder gestand ihm freimütig, wie viel ihm an Graham lag. Dabei verdiente er diese Zuneigung gar nicht. Seine Seele war so schwarz wie ein kaltes ägyptisches Grab. Er hatte vorher schon skrupellos getötet, und er würde wieder töten. Jede Frau, die wagte, ihm näherzukommen, würde sich angeekelt abwenden, wenn sie erfuhr, wer er in Wirklichkeit war. Kenneth, Badra und Jasmine indessen ließen nichts unversucht, ihn an ihrem Glück, ihrem Leben voller Liebe teilhaben zu lassen. Bisher widerstand Graham erfolgreich und gestattete ihnen höchstens, die Tür zu ihm einen Spalt breit zu öffnen, auf dass er hinaussehen konnte.
Es war besser so, denn sollte die englische Gesellschaft von Grahams Geheimnis erfahren, könnten Kenneth und seine Familie sich einzig auf ihren Wohlstand und Rang berufen, wollten sie weiterhin erhobenen Hauptes durchs Leben gehen. In dieser Gesellschaft zählte Geld mehr als Ehre, dachte Graham zynisch.
Sorge nagte an ihm. Die Familie hatte in jüngster Zeit einige schwere finanzielle Einbußen erlitten. Die Verluste bei der Baltimore & Ohio waren beträchtlich gewesen, die Preise in der Landwirtschaft waren im Keller, und die Ernte fiel schlecht aus. Dennoch schien Kenneth zuversichtlich, dass sie sich wieder erholten. Das mussten sie auch, wenn Grahams Plan aufgehen sollte. Sie mussten um seines Bruders willen.
Obschon ihm der Ehrbegriff der Beduinen nicht in die Wiege gelegt war, trug er ihn doch in sich. Er wollte seine Familie vor einem Skandal schützen. Trotzdem bestand seine einzige Chance auf Vergeltung darin, die Bestie auszulöschen. Al-Hamra würde sterben, sein liederliches Gebaren vor seinesgleichen enthüllt und sein Ansehen auf ewig vernichtet werden – selbst wenn seine Bloßstellung vor der vornehmen Gesellschaft bedeutete, dass Grahams eigene Scham zur Schau gestellt wurde.
Aber seine Scham würde mit ihm am Galgen sterben. Zwar sehnte er sich nicht nach dem Tod, doch ein Ende des Schmerzes wäre ihm durchaus willkommen.
Graham blickte in die sorgenvollen blauen Augen, die ihm in dem vergoldeten Spiegel begegneten, und schluckte das Brennen in seinem Hals hinunter. Kenneth hatte Badra und Jasmine. Sie konnten nicht verstehen, wie finster es in ihm aussah.
Er rang sich ein Lächeln ab und sagte auf Englisch: »Keine Sorge. Bei Huntlys soll ein veritabler Andrang herrschen. Wenn er dort ist, werde ich ihn wahrscheinlich gar nicht sehen.«
Doch als der Kammerdiener an seinen Manschetten zupfte, fiel Grahams Blick wieder auf das Spiegelbild seines Bruders. Sie beide wussten, dass es nur eine Frage der Zeit war.
Graham wartete, bis sowohl der Kammerdiener als auch sein Bruder gegangen waren. Dann ging er ins Schlafzimmer und drückte einen Haken in der Holzvertäfelung an der Wand gegenüber der Tür herunter. Der Mechanismus öffnete ein verstecktes Fach. In dem alten Haus gab es zahlreiche solcher Geheimnisse.
Die Wandnische enthielt einen großen Zedernholzkasten. Graham angelte einen Schlüssel aus der obersten Schublade der hohen Schlafzimmerkommode und öffnete die Kiste. Darin befanden sich wahre Reichtümer: eine halbe Papyruskarte, die zu einem vergrabenen Schatz führte, ohne die fehlende zweite Hälfte jedoch unbrauchbar war, eine vergilbte Photographie seiner Eltern, mehrere Bündel Pfundnoten. Graham hatte sich vorgenommen, nie wieder ohne Geld zu sein. Beim Anblick der Photographie überkam ihn die altbekannte Trauer. Behutsam strich er darüber. Von dem Bild blickten ihm die ernsten braunen Augen seiner Mutter entgegen.
Was für ein bezauberndes Kind, dein Graham!, hatten ihre Freundinnen früher gesagt. Er sieht genau aus wie du, liebe Miranda – so hübsch!
Was für ein hübscher Junge!, hörte er das böse, tiefe Flüstern in seinem Kopf.
Grahams Bauch krampfte sich zusammen. Die Papyruskarte führte zu einer kleinen goldenen Statue und einem unbezahlbaren Smaragd, die tief im Sand der ägyptischen Wüste verborgen waren. Al-Hamra besaß die fehlende Hälfte.
Entschlossen verdrängte Graham seine Wut und seine Reue und griff tiefer in die Kiste. Dann wickelte er einen länglichen Gegenstand aus einem blauen Stoffstück aus, legte ihn auf die Kommode und verschloss die Kiste wieder in der Wandnische. Anschließend nahm er die Lederhülle auf und betrachtete sie.
Im Gegensatz zur Jambiya, die er in Ägypten stets bei sich getragen hatte, war dieser Dolch eigens für ihn angefertigt worden. Er war klein und schmal genug, dass Graham ihn in der Manschette tragen und von dort jederzeit in seine Hand gleiten lassen konnte.
Nun steckte er die Waffe ein, ging aus dem Zimmer und den Flur hinunter, um sich zu Huntlys Ball fahren zu lassen.