Kapitel 20

Schweigend ritten sie durch die Wüste, wobei Jillian ihrem Ehemann immer wieder verstohlene Seitenblicke zuwarf. Der Mann bestand aus einer Vielzahl unergründlicher Facetten und Geheimnisse, welche durch die Art, wie er sich kleidete, und die Kälte in seinen Augen, als er von der Khamsin-Schlacht erzählte, nur verstärkt wurden.

Als er schließlich anhielt, lenkte sie ihr Kamel direkt neben ihn. Er blickte suchend in die Ferne. »Wir müssen einen Rastplatz für die Nacht finden.«

Jillian zeigte auf eine Felsgruppe weit hinten am Horizont. »Wir sollten dorthin reiten. Vielleicht gibt es dort sogar eine Quelle. Ich fürchte nämlich, dass unsere Vorräte reichlich versandet sind.« Er nickte ihr anerkennend zu.

Bis sie die Felsgruppe erreichten, ging die Sonne bereits unter und tauchte alles in ein rötliches Licht. Leider fand sich bei den Felsen keine Quelle. Jillian half Graham, ihre Ausrüstung abzuladen und im böigen Wind das Zelt aufzubauen.

Er holte ein weißes Leinentuch aus einer der Taschen und reichte es ihr. »Zum Waschen«, sagte er knapp. »Du kannst ein wenig von dem Wasser benutzen, aber nicht zu viel.«

Statt das Handtuch zu nehmen, betrachtete sie ihren Mann. Er hatte dunkle Schatten unter den Augen, und sein Turban betonte das strenge staubverkrustete Gesicht.

Jillian selbst hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nicht schmutziger gefühlt. Der Sand war bis in ihre Stiefel gedrungen und scheuerte in ihrem Nacken. Selbst im Mund schien sie nichts als Sand zu haben. Sie sah auf das blütenweise Leinen, das Graham vor dem Sandstaub geschützt hatte, indem er es fest zusammengewickelt tief in der Tasche vergraben hatte. Dann blickte sie wieder zu ihrem Mann.

»Ich habe eine bessere Idee«, sagte sie, legte das Leinentuch vorsichtig hinunter auf die Decke und streckte die Hand nach Grahams Turban aus.

Er fuhr kaum merklich zurück, die Stirn gerunzelt. »Was machst du da?«

»Setz dich!«, befahl sie ihm. Er wollte widersprechen, doch sie bedachte ihn mit einem sehr strengen Blick, der jeder Gouvernante Ehre gemacht hätte. »Sofort!«

Er setzte sich. Dann begann sie, seinen dunkelblauen Turban abzuwickeln, und legte ihn beiseite. Als Nächstes nahm sie ihm mit zitternden Händen den langen Umhang ab. Graham starrte sie verwundert an, wehrte sich jedoch nicht – nicht einmal, als sie ihm das Hemd darunter auch noch auszog. Seine breite Brust war beinahe staubfrei, sein Hals hingegen komplett damit bedeckt.

Jillian kniete sich neben ihn und nahm den Wasserbeutel auf. Nachdem sie eine Ecke des Leinentuchs befeuchtet hatte, fing sie an, ihrem Mann den Staub von den Händen zu reiben. Wieder wollte Graham protestieren. Sie brachte ihn zum Schweigen, indem sie ihm den Finger auf die Lippen legte.

»Ich möchte es. Schließlich hast du viel für mich getan.«

Stumm ließ er sich von ihr mit dem Tuch säubern, und ein leiser Seufzer entfuhr ihm, als ihn das kühlende Leinen erfrischte.

»Danke«, sagte er sanft. Fasziniert beobachtete er sie.

Schließlich hielt sie das mittlerweile schmutzige Leinen lächelnd in die Höhe. »Jetzt bin ich dran. Ich wasche mir das Gesicht ein bisschen. Wahrscheinlich sehe ich schlimmer aus als das Hinterteil deines Kamels.«

Er lächelte nicht, sondern blickte sie auf die ihm eigene durchdringende Weise an. »Ganz im Gegenteil, Mylady«, erwiderte er leise. »Ich habe dich noch nie schöner gesehen.«

Mit diesen Worten beugte er sich vor, schmiegte seine Hände an ihre Wangen und küsste sie. Es war ein langsamer, sinnlicher Kuss, bei dem sie dahinschmolz. Graham schmeckte nach dem Zimt, den sie in ihren Tee gestreut hatten. Sehnsüchtig stöhnend, lehnte Jillian sich gegen ihn. Sie wollte ihn.

Doch er wich zurück. »Wir müssen uns ausruhen.« Dann streckte er sich auf seiner Schlafrolle aus, den Rücken zu Jillian gewandt.

Jillian war verletzt und reichlich durcheinander. Warum verhielt Graham sich so?


Tage später, sie näherten sich bereits der Höhle mit dem versteckten Schatz, blickte Jillian sich bewundernd um. Der Karte nach befand sich die Höhle in der großen weißen Wüste, einem Ozean von Sand mit Erhebungen aus so reinem Sandstein, dass er sich blendend weiß gegen den bräunlichen Hintergrund abhob. Vor Ehrfurcht hielt sie die Luft an, als sie die wind- und sandgemeißelten Steinskulpturen erreichten, deren untere Enden schmal geschliffen waren, während die Spitzen sich groß und rund wölbten.

»Hier schlagen wir unser Lager für die Nacht auf«, entschied Graham.

»Sie sehen wie große Pilze mitten in der Wüste aus!«, rief Jillian begeistert.

Graham grinste und begann, ihre Vorräte und Ausrüstung abzuladen. »Die Khamsin haben einen Namen für sie: al-Ayir.«

Sie sprach das arabische Wort nach und sah ihn fragend an, als seine Schultern vor Lachen bebten. »Was ist so komisch daran?«

Graham ließ einen Rucksack auf den Sand fallen. »Es heißt ›der Penis‹.«

Mit weit aufgerissenen Augen sah sie noch einmal zu den aufragenden Felsen. »Oh mein Gott, sie sehen tatsächlich …«

Als sie errötete, lachte er noch mehr. »Wir bauen unser Zelt unter einem von ihnen auf.«

»Graham! Du kannst unmöglich von mir erwarten, unter einem riesigen … Penis zu liegen!«

»Daran müsstest du doch inzwischen gewöhnt sein«, entgegnete er trocken.

Jillian stöhnte.

»Die Khamsin sagen, die Felsen verleihen einem Mann die Kraft, eine ganze Nacht durchzustehen«, erklärte er mit einem amüsierten Funkeln in den Augen. »Wünschst du dir nicht, dass ich diese Kraft besitze, Habiba?«

»Mein lieber Mann, die hast du bereits. Und außerdem übersiehst du da einen geologischen Aspekt: Sandstein ist weich.«

Sein vollkommen entgeisterter Gesichtsausdruck brachte sie zum Lachen. Dann grinste er. »Tja, vielleicht irren die Khamsin sich.«

Das jungenhafte Lächeln passte nicht zu seiner Erscheinung, denn in dem Dunkelblau wirkte er wie ein erbarmungsloser ägyptischer Krieger. Verschwunden war der Duke of Caldwell. An seine Stelle war ein beängstigender Kämpfer mit einem tödlichen Krummsäbel und einem nicht minder gefährlichen Dolch am Gürtel getreten. Jillian fand es faszinierend und unheimlich zugleich.

Ohne ihn könnte sie in dieser Wüste, die sich über Meilen und Meilen erstreckte, wohl kaum überleben. Ihr Hals schmerzte von der Trockenheit, wohingegen Graham nicht im mindesten beeinträchtigt schien. Was wiederum ihren Verdacht nährte, dass er sehr viel mehr Zeit unter den Beduinen verbracht hatte, als er sagte. Möglicherweise war er bei ihnen aufgewachsen.

Aber sie würde ihn ein andermal danach fragen.

Sie errichteten ihr Lager und legten sich hin. Wenige Stunden später wachte Jillian von einem dringenden Bedürfnis auf. Ach du Schreck! Leise stand sie von ihrer Schlafrolle auf, doch Graham wurde trotzdem wach und machte Anstalten, mit ihr hinauszugehen. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich hätte zur Abwechslung gern etwas Privatsphäre«, bat sie ihn.

Er war nicht angetan. »Aber geh nicht zu weit weg! Ich habe ein Stück weiter Spuren gesehen, was bedeutet, dass Beduinen in der Nähe sind, und in dieser Gegend können es nur Wegelagerer sein.«

»Schon gut, ich bleibe hinter den Felsen und komme gleich wieder. Außerdem nehme ich den hier mit«, sagte sie und schwenkte den Kompass, den sie in Kairo gekauft hatte.

Nachdem sie alles erledigt hatte, schaute Jillian sich um. Ein fahler Mond malte die Felsen gespenstisch grau. Der Wind wehte kleine Sandwirbel auf. Ja, sie verstand, wie ein Mensch hier draußen nicht nur die Orientierung, sondern auch seine Seele verlieren konnte.

Als ihr klarwurde, dass sie schon eine ganze Weile fort war, streckte sie sich und wollte zum Zelt zurückkehren. Da vernahm sie ein leises Rascheln hinter sich. Jillian erstarrte. Wahrscheinlich war es bloß ein kleines Wüstentier. Ja, natürlich.

Sie lachte über ihre alberne Furcht, doch der Laut wurde sogleich von einer rauhen Hand erstickt, die sich von hinten über ihr Gesicht legte.


Seine Frau war verschwunden.

Graham unterdrückte die entsetzliche Angst, die ihn überkam. Keine Gefühle!, ermahnte er sich. Gefühle trübten das Urteilsvermögen, und er brauchte einen klaren Kopf. Er hockte sich hin und starrte auf den Sand, um ein Muster in den Spuren zu entdecken. Unter anderem war da eindeutig eine Schleifspur. Sie war verschleppt worden, wahrscheinlich von den Beduinen, deren Kamelhufe er tags zuvor gesehen hatte.

Er verfluchte sich, weil er sie nicht begleitet hatte. Andererseits hatte ihm die Trennung für wenige Minuten eine ungemeine Erleichterung gebracht, musste er doch dringend mit seinen Gedanken allein sein, mit der Finsternis in seinem Innern. Doch zu welchem Preis? Er kochte innerlich vor Wut, wenn er sich vorstellte, dass sie irgendwo gefangengehalten wurde. Am liebsten hätte er den gleichgültigen Mond angeheult und wäre blindlings losgerannt, um sie zu finden, zu packen und nie wieder loszulassen.

Graham strengte sich an, sich zu beruhigen und nachzudenken. Er musste sie finden – jetzt gleich! Bevor er sie für immer verlor.

Sturm der Leidenschaft: Er suchte einen verborgenen Schatz - und fand die Liebe seines Lebens
titlepage.xhtml
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_000.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_001.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_002.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_003.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_004.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_005.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_006.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_007.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_008.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_009.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_010.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_011.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_012.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_013.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_014.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_015.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_016.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_017.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_018.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_019.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_020.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_021.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_022.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_023.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_024.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_025.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_026.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_027.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_028.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_029.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_030.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_031.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_032.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_033.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_034.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_035.html