Kapitel 8
Das reibende Geräusch seiner heftigen Atemzüge dröhnte in Grahams Ohren, als er vor dem Haus der Strantons in Mayfair stand.
Jillian hatte sich überaus gefasst und selbstbewusst gezeigt, als sie bei der Geburt geholfen hatte. Und während er ihr die Geschichte von Jasmines unglücklicher Geburt erzählt hatte, waren ihre großen grünen Augen voller Mitgefühl gewesen. Unvergesslich aber war, was sie ihm danach gesagt hatte.
»Was Jasmine passiert ist, ist furchtbar, aber sie ist jetzt glücklich und hat ein neues Leben. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, sondern nur von Neuem anfangen und in die Zukunft blicken. Wer unglücklichen Erinnerungen nachhängt, zerstört sich die Chancen auf künftiges Glück.«
Weil er sprachlos gewesen war, hatte er sich nur förmlich bei ihr für ihre Hilfe bedankt. Darauf hatte Jillian sich damit entschuldigt, dass sie dringend nach Hause müsste.
Ihre Worte aber wollten ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Für einen kurzen Moment hatte er sich gefragt, ob er nicht einen furchtbaren Fehler beging, indem er ihren Vater unbedingt zu Fall bringen wollte. Tat er damit nicht genau das, wovor sie ihn warnte? Zerstörte er sich alle Chancen auf künftiges Glück? Und er begann, zu überlegen, ob sie wirklich sein Schicksal war, ob sie ihm geschickt worden war, um sein zerrüttetes Leben aus den Bruchstücken seiner schwierigen Vergangenheit von neuem aufzubauen.
Graham zögerte, als er nach dem Messingklopfer griff. Zwanzig Jahre lang hatte er alles in seinem Innern verborgen. Der Silbergriff des Gehstocks in seiner Linken fühlte sich wie Blei an, und seine Finger zitterten, als er den Klopfer umfasste, um den Butler herbeizurufen, der ihn einlassen sollte – einlassen in die Höhle der Bestie.
War es wirklich besser, die Vergangenheit loszulassen, wie Jillian sagte?
Er schloss die Augen. Sogleich erschien das Bild eines hämischen Stranton vor ihm, der Worte sagte, die Graham nie vergessen könnte. Sie verschlangen ihn und ließen ihn an allem zweifeln.
»Dir gefiel es doch. Du weißt, dass es dir gefiel! Vor mir kannst du nicht verheimlichen, was du wirklich bist, mein hübscher Junge.«
Diese Worte waren gelogen, dachte Graham voller Qual. Oder nicht?
Er verdrängte sie aus seinen Gedanken. Sein Plan stand fest, und er würde ihn ausführen. Trotzdem zitterte seine Hand heftig, als er zu klopfen versuchte. In seinem Innern schrie der kleine Junge, er solle umdrehen und so schnell er konnte wegrennen, weit weg. Er könnte immer noch nach Hause zurückgehen und sicher in seinen vier Wänden leben, ohne Stranton jemals gegenüberzutreten. Ohne ihn zu seinem Schwiegervater zu machen.
Beinahe hätte er es getan. Beinahe hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre davongelaufen. Dann aber sah er Jillian vor sich. Er hatte sie gesellschaftlich unmöglich gemacht. Sein Ehrgefühl verlangte, dass er sie heiratete. Ohne ebenjenes Ehrgefühl war er nichts. All die Jahre, die er bei den al-Hajid gelebt hatte, hatte er sich nach dem Ehrgefühl eines Kriegers gesehnt. Würde er nun Jillian im Stich lassen, dann verriet er damit alles, was er je wertgeschätzt hatte. Graham schlug den Klopfer energisch gegen die Eichentür.
Ein Butler in abgetragener silber-grüner Livrée öffnete ihm. Er nahm Grahams Hut, Übermantel und Gehstock und führte ihn in den Empfangssalon. Graham setzte sich auf einen abgewetzten Sessel. Seinem geübten Blick entging nicht, dass die großen freien, mit verblasster Tapete überzogenen Wandflächen einst mit Bildern behangen gewesen waren. War Stranton, wie manch ein anderer englischer Aristokrat, gezwungen gewesen, seine Kunstwerke zu verkaufen, um die laufenden Kosten zu decken?
Ein gerahmtes Stück allerdings hing da, und noch während Graham aufstand, um es genauer zu besehen, überkam ihn eine schreckliche Ahnung. Er musste es gar nicht näher betrachten, um zu begreifen, worum es sich handelte. Es war ein Payprus, so alt wie die ägyptische Wüste. Hinter dem Glas sah das Bild beängstigend zerbrechlich aus, und die Tinte aus Naturfarben war bereits größtenteils verblasst und unentzifferbar.
Die fehlende Hälfte der Karte! Jene Hälfte, die Stranton ihm abgenommen hatte, als er noch ein Kind gewesen war.
Graham ballte die Hände zu Fäusten, um das Bild nicht gleich von der Wand zu reißen. Die gehört mir! Mir! Eine unbändige Wut überkam ihn bei der Erinnerung daran, wie Stranton an diese Karte gelangt war.
Dann hörte er Schritte auf dem Korridor. Eilig setzte er sich wieder und zwang sich, zu entspannen, als der Earl hereinkam, begleitet von einer dunkelhaarigen, sehr zerbrechlich wirkenden Frau. Seine Verlobte folgte den beiden, in ein hässliches graues Kleid gehüllt, das bis zum Hals zugeknöpft war. Ihr rotflammendes Haar war zu einem strengen Knoten gebunden, und sie hielt den Blick gesenkt.
Graham betrachtete sie verwundert. Wo war die selbstsichere Frau, die ihm bei Badras Niederkunft geholfen hatte? Jillian schien gleichsam unter diesem tristen Grau verschwunden wie in einem dichten Nebel.
Der Earl stellte seine Frau mit knappen Worten vor. Graham verneigte sich und küsste Lady Stranton die schlaffe Hand. Ihr Lächeln wirkte angestrengt.
Kaum hatten sie sich alle gesetzt, wuchs Grahams Unbehagen um ein Vielfaches. Er zwang sich, über das Wetter zu plaudern, und erkundigte sich nach Strantons Gesetzesantrag. Darauf verfiel der Earl in einen ausgedehnten Monolog, während seine Frau und seine Tochter schwiegen. Es dauerte jedoch nicht lange, bis der Earl auf den Ehevertrag zu sprechen kam.
Graham unterbrach ihn und schlug vor, dass sie sich in die Bibliothek seiner Lordschaft zurückzogen, um die Einzelheiten unter vier Augen zu besprechen. Er wollte nicht, dass Jillian mitanhörte, wenn um sie verhandelt wurde wie um eine Ware. Der Earl würdigte seine Tochter keines Blickes.
»Das ist unnötig, Euer Gnaden. Hier ist es abgeschieden genug.«
Jillian servierte schweigend den Tee, während ihr Vater detailliert darlegte, welche Gegenleistungen er für die Hand seiner Tochter forderte. Graham hörte dem Earl angewidert zu, der über sein eigenes Kind verhandelte, als wäre Jillian ein Pferd, das er verkaufen wollte. Was Stranton sich vorstellte, war reichlich, und einen Augenblick lang war Graham drauf und dran, empört abzulehnen, zumal in Anbetracht der angespannten Finanzlage seiner Familie. Aber dann sah er die blasse zitternde Jillian an. Nein, sie war jeden Shilling wert! Er würde sie heiraten, und dann würde er ihren Vater zerquetschen wie weichen Muschelkalk!
Die grünen Augen des Earls waren kalt und hart, wohingegen die seiner Tochter, von derselben Farbe, vor Leben sprühten. Im Moment allerdings nicht. Jillian hielt den Blick gesenkt und ihre Gefühle unter dumpfgrauer Seide verhüllt.
»Wie habt Ihr Jillian kennengelernt, Euer Gnaden? Meine Tochter begibt sich kaum ohne unsere Erlaubnis außer Haus. Sie sagte, sie hätte jene Nacht im Hause ihrer Tante verbracht.«
Graham, der jäh aus seinen Gedanken gerissen wurde, sah kurz zu Jillian, deren Hände in ihrem Schoß zitterten.
»Mrs. Huntington lud mich zum Abendessen in ihr Haus ein. Nach dem Essen begaben Jillian und ich uns zu einem kleinen Spaziergang in den Garten.«
Strantons Augen blitzten zornig. »Meine Schwester vernachlässigte eindeutig ihre Pflicht.«
Bei dem Ball hatte die Schwester des Earls Graham beiseitegezogen, als er auf seine Kutsche gewartet hatte, und ihm die Wahrheit gesagt: dass sie diejenige gewesen war, die Jillian in das Bordell geschickt hatte. Und sie hatte Graham den Schwur abgerungen, Jillians Vater zu belügen, um sie vor ihm zu schützen.
Noch mehr Lügen. Noch mehr Täuschung. Und derweil saß Stranton mit steifem Rücken da und betrachtete ihn angeekelt.
Sie haben mich belogen! Sie versprachen, mich zu retten. Ich sollte Sie auf der Stelle töten! Es wäre so einfach, seinen Daumen in diese Vertiefung unten am Hals zu drücken und …
»Mrs. Huntington war durch ein häusliches Problem abgelenkt, als ich mit Ihrer Tochter im Garten war«, log Graham.
Jillian warf ihm einen dankbaren Blick zu.
Der Earl schnaubte kurz. »Sie ist eine überaus unzulängliche Anstandsdame. Das sagte ich auch bereits meiner Gattin.«
Lady Stranton fuhr zusammen, und Jillian wurde blass. Dieser Haushalt schien so finster, dass Graham minütlich unbehaglicher wurde. Hier war es beklemmender als in einem ägyptischen Grab.
Graham murmelte eine knappe Entschuldigung, dass er umgehend nach Hause müsste. Als er aufstand, sah er Jillian an, bevor er ihre Hand küsste. Blanker Hass brodelte in ihm, als er dem Earl die Hand schüttelte, und er wünschte, er könnte sie einfach zerquetschen. Es wäre so leicht.
Beim Verlassen des Hauses runzelte Graham die Stirn. Etwas stimmte nicht. Lady Stranton mit den rotgeränderten Augen und der lethargischen Art hatte etwas von einer Opiumabhängigen. Und Jillian war auffallend still gewesen. Sie hatte nicht ein Mal gelacht, und von dem Selbstvertrauen, das sie während der Geburt gezeigt hatte, war keine Spur mehr gewesen. Was hatte der Schurke ihr angetan?
Graham stieg in seine Kutsche und klopfte mit dem Gehstock an die Decke. Als er zu Hause war, ging er direkt in seine Bibliothek und setzte sich. Er dachte angestrengt über den Papyrus nach, den er gesehen hatte. Irgendwie musste er sich die Karte zurückholen, selbst wenn es bedeutete, in Strantons Haus einzubrechen.
Eine ganze Zeit später in derselben Nacht ging Graham in schwarzer Hose, schwarzem Hemd und schwarzem Gehrock wieder zum Stadthaus der Strantons. Vor dem Haus blieb er stehen und sah zu den Fenstern hinauf. In einem der oberen Zimmer brannte noch Licht, und er erkannte die schmale Gestalt einer Frau, die auf einem Stuhl am Fenster saß. Ihr rotgoldenes Haar leuchtete im schwachen Kerzenschein.
Graham stockte der Atem. Sie trug nichts als ein dünnes Hemd! Er blickte sich auf der Straße um und eilte über den Rasen vor dem Haus. Nachdem er den Balkon genauer angesehen hatte, warf er sein mitgebrachtes Seil hinauf. Dann verknotete er es, wie es ihm die Beduinen gezeigt hatten, und kletterte hinauf.
Geschmeidig wie eine Katze schwang er sich oben über das Geländer und landete geräuschlos auf dem Balkon. Jillian saß an der offenen Glasflügeltür. Sie erschrak, als sie ihn sah, gab jedoch keinen Laut von sich.
In Windeseile hatte er sich seinen Gehrock ausgezogen und war bei ihr. Den Papyrus zu holen, weshalb er eigentlich hergekommen war, wurde auf einmal nebensächlich. Jetzt ging es nur noch um sie.
»Warum sitzt du unbekleidet am Fenster?«, flüsterte er.
Sie wich vor ihm zurück, und er bemerkte die Gänsehaut auf ihren nackten Alabasterarmen. Behutsam legte er ihr seine Jacke über die zitternden Schultern. Dann wiederholte er seine Frage mit der ruhigen Stimme, wie er sie bei nervösen Stuten benutzte, die erstmals zu einem Hengst geführt wurden. Schließlich hob sie den Kopf und sah ihn an.
»Es ist Vaters Strafe. Ich bekomme keine Kleidung, es sei denn, ich gehe mit ihm aus oder ich reite in Begleitung des Stallmeisters. Für den Rest der Zeit muss ich in diesem Aufzug bleiben, weil er sagt, ich wäre eine«, sie schluckte, »eine Hure.«
Vor Wut krampfte sich Grahams Magen zusammen. »Es ist nach ein Uhr nachts, Habiba«, sagte er leise. »Du solltest schlafen.«
Ein Anflug von Neugier erhellte ihre Augen. »Was heißt Habiba?«
Es ist ein Kosewort. Doch er antwortete nicht, sondern nahm ihre kalten Hände in seine und begann, sie sanft zu reiben. »Und warum sitzt du am offenen Fenster?«, fragte er.
»Vater sagt, eine Hure müsse der Welt zeigen, was sie zu bieten hat«, antwortete sie matt.
Graham unterdrückte einen Fluch und konzentrierte sich auf seine zukünftige Frau. Sie saß still und stocksteif da, wie Jasmines Porzellanpuppe.
Mit wenigen Schritten ging er zur Zimmertür und klemmte einen Stuhl unter den Knauf, so dass niemand von draußen hereinkommen konnte. Dann kehrte er zu Jillian zurück und hockte sich neben sie. Er wünschte, sie würde etwas sagen und sich von ihrer Angst und ihrem Kummer befreien. Noch mehr wünschte er, er könnte ihr helfen. Doch alles, was er für sie tun konnte, war, sie zu heiraten und schnellstmöglich aus diesem schaurigen Haus zu holen.
Jillian hatte das Gefühl, sie würde jeden Moment zusammenbrechen. Eine befremdliche Taubheit erfasste sie, weil er sie in dieser beschämenden Pose sah. Der Herzog stand auf und schloss die Flügeltüren zum Balkon. Sie konnte ihn nur verschwommen erkennen, denn ein Tränenschleier lag in ihren Augen, auch wenn sie sich standhaft weigerte, zu weinen. Warum war er hergekommen? Sie senkte den Kopf und wollte vor Scham sterben.
»Komm herüber zum Bett. Da ist es wärmer«, forderte er sie leise auf. Seine Stimme hatte einen beinahe hypnotischen Ton.
Wie ein kleiner hilfloser Welpe gehorchte sie ihm und legte ihre zitternde kalte Hand in seine. Er führte sie zum Bett, das von der Zofe zurückgeschlagen war, und setzte sich mit ihr hin. Am liebsten wollte sie sich unter der Decke vergraben. Aber plötzlich zog er seine Schuhe aus und begann, seine Weste aufzuknöpfen. Erschrocken blickte sie ihn an. Als Nächstes legte er sein Hemd ab. Beim Anblick seiner breiten starken Brust mit dem dichten dunklen Haar kribbelte es leicht zwischen ihren Schenkeln. Gütiger Himmel, er wollte doch nicht …
»Wa-was tut Ihr da?«
»Da man dir die Kleidung verweigert, lege ich meine ebenfalls ab. Es ist nicht fair, wenn nur einer von uns angezogen ist. Und ich will, dass du dich wohler fühlst.«
Sie aber konnte ihn nur wortlos anstarren, erschrocken und fasziniert zugleich. Eine unstillbare Sehnsucht erfüllte sie, als sie genüsslich die Wölbung seines harten Bizeps und die schwarzen Locken auf seiner Brust betrachtete. Dann setzte er sich wieder neben sie und nahm ihre Hände.
»Schon gut«, flüsterte er. »Ich werde nicht mit dir schlafen – noch nicht. Nicht, bevor wir verheiratet sind.«
Ihre Erregung wich einer Mischung aus Enttäuschung und Scham. Verlegen wandte sie das Gesicht ab. Sie war eine Hure, genau wie ihr Vater gesagt hatte. Wie sonst konnte es sein, dass sie körperliches Begehren nach einem Mann verspürte, ohne die eheliche Erlaubnis zur Fortpflanzung für sich beanspruchen zu können? Die Litanei ihres Vaters ging ihr durch den Kopf:
»Fleischliche Lust ist dem Ehebett vorbehalten, Jillian, und auch dort einzig zum Zwecke der Erbenzeugung. Du wirst dem Herzog gegenüber eine Pflicht erfüllen und ihm einen Sohn gebären, aber vorher möge ich verdammt sein, sollte ich dir gestatten, mich ein weiteres Mal durch deine verderbte Lüsternheit beschämen zu lassen! Hast du mich verstanden?«
Er hatte sie nicht angeschrien, sondern sie lediglich eiskalt und voller Ekel angesehen.
Sie war eine Schande.
»Habiba, verschließ dich nicht vor mir! Du bist so kalt«, flüsterte Graham.
Sie zwang sich, ihm zu antworten. »Was tust du hier, Graham? Es ist fürwahr nicht der angemessene Zeitpunkt für einen höflichen Besuch. Zum Tee jedenfalls dürfte es etwas zu spät sein.«
Er lächelte nicht über ihren kleinen Scherz. »Ich wollte deinem Vater etwas stehlen.«
Jillian sah ihn erschrocken an. »Was stehlen?«
»Dich. Geh mit mir fort, Jillian – heute Nacht! Wir brennen durch und heiraten in Gretna Green. Du kannst keinen Tag länger hier bei ihm bleiben – nicht, wenn er dich so behandelt.«
Verlockend, oh ja, das war überaus verlockend! Sie mochte Graham und die Gefühle, die er in ihr weckte, aber sie wollte auch eine eigenständige Frau sein, gebildet und unabhängig. Nachzugeben und mit ihm zu gehen würde das Ende ihres Traums bedeuten. Nur noch wenige Tage, ein Dampfschiff nach Amerika, und sie wäre frei. Sie würde auch nackt zu den Docks marschieren, wenn sie musste.
»Bitte, geh! Die Bediensteten werden es herausfinden und meinem Vater erzählen.«
»Nein«, entgegnete Graham sanft und strich ihr mit dem Finger über die zusammengepressten Lippen. »Erst wenn du alles herausgelassen hast. Du bist wie Porzellan, Habiba. Und wenn du zu viel in dir verschließt, wirst du zerbrechen. Erlaube ihm nicht, dich zu zerbrechen! Lass den Schmerz raus, jetzt, solange er dich nicht sieht!«
Sie kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf und versuchte, den enormen Druck in ihrem Innern unter Kontrolle zu halten. Grahams Arme legten sich um sie. Ganz sachte küsste er sie auf die Schläfe, leise tröstende Worte murmelnd. Sein Mitgefühl war mehr, als sie verkraften konnte. Jillian spürte, wie sich eine verräterische Träne aus ihrem Augenwinkel stahl. Und wie bei einem Damm, der an einer winzigen Stelle schadhaft war, drohte auch bei Jillian eine Flut. Halbherzig drückte sie gegen die muskulösen Arme, die sie hielten. Er tat nichts anderes, als ihr das Haar zu streicheln, doch er ließ sie nicht los. Und mehr brauchte es nicht, damit sie ihre kostbare Selbstbeherrschung aufgab.
Die Tränen kamen in einem wahren Sturzbach, rannen ihre Wangen hinunter, während sie hemmungslos schluchzte. Weinend wog sie sich hin und her, die Hände vor dem Gesicht, und ließ all den Schmerz der vergangenen Jahre heraus. Graham hielt sie weiter fest und strich ihr übers Haar.
»Ja, lass es raus! Lass alles raus! Das ist gut.«
Nach einer Weile war es vorbei. Jillian fühlte sich vollkommen leer, als er ihr Augen und Nase mit dem Zipfel des Bettlakens abwischte. Nun hatte er das Schlimmste von ihr gesehen, doch es schien ihn nicht im Mindesten zu verstören. Er blickte sie einfach nur an.
»Bist du wütend?«, fragte er.
Gott, ja, und ob sie wütend war! Sie wollte etwas zerbrechen, schreien und toben, aber sie hatte jahrelang gelernt, ihr Temperament zu zügeln. Ihr Atem ging in kleinen angestrengten Stößen.
»Ich möchte auf etwas einschlagen«, hauchte sie.
Der Herzog hielt eines der großen Kopfkissen hoch. »Nur zu, schlag drauf!«, forderte er sie auf. »Es fühlt sich gut an, seiner Wut nachzugeben.«
Schockiert starrte sie das Kissen an. Ihr Bauch krampfte sich zusammen. »Das kann ich nicht – es wäre grotesk.«
»Ach was, grotesk! Schlag auf das Kissen!«, befahl er ihr. »Schlag es, bis all die Gefühle aus dir heraus sind!«
Jillian überlegte kurz, nahm das Kissen und schleuderte es fest gegen die obere Bettkante.
»Fester!«
Sie griff nach dem Kissen und schlug es mit Wucht auf das Bett. Auf einmal platzte der alte Bezug auf. Federn stoben heraus und hüllten Graham in einen weißen Regen. Entsetzt starrte Jillian ihn an. Doch Graham pustete nur, worauf eine Feder von seinen Lippen aufschwebte, und grinste sie an.
»Tja, vielleicht hast du recht. Es sieht grotesk aus.«
Jillian sank lachend neben ihm aufs Bett.
»Fühlst du dich jetzt besser?«
Sie nickte. Ja, sie fühlte sich tatsächlich besser, nun, da sie ihren Tränen und ihrer Wut freien Lauf gelassen hatte. Zugleich jedoch kam die Scham wieder. Er hatte erst ihre Erniedrigung, dann diesen Ausbruch mit angesehen …
»Warum hast du das getan?«, flüsterte sie.
»Weil ich weiß, wie es ist, wenn man gefangen ist und alles, was man in sich vergraben hat, herauslassen muss.«
Sie legten sich beide aufs Bett. Graham nahm sie in die Arme, was sich wunderbar anfühlte. Sie spürte seinen festen Körper und noch etwas Hartes weiter unten. Sogleich verkrampfte sie sich.
Graham lächelte reumütig. »Ach ja, stimmt – das. Entspann dich! Es ist eine normale männliche Reaktion, die ich jedes Mal zeige, wenn ich in deiner Nähe bin. Aber ich verspreche, dass ich dir meine, äh, Zuneigung nicht beweisen werde, bevor wir verheiratet sind.«
Er zog sie näher zu sich, und seine muskulöse Brust wurde zu ihrem Kopfkissen. Jillian fühlte das Haar, das ihre Wange kitzelte.
»Du riechst so gut«, sagte sie leise. »Was ist das für ein Duft?«
Er streichelte ihr übers Haar. »Sandelholzseife – eine übrig gebliebene Gewohnheit aus meiner Zeit in Arabien.«
Jillian sog den köstlichen Duft genüsslich ein. Ihre Anspannung wich einer wohligen Erschöpfung. »Graham, du musst gehen. Vater … er darf dich nicht hier ertappen«, warnte sie ihn schläfrig.
Er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. »Schhh«, machte er leise. »Schlaf jetzt! Alles ist gut.«
»Aber Graham …«
Doch er umarmte sie nur fester. »Fünf Minuten, nur noch fünf Minuten, dann gehe ich«, versprach er.
Graham lauschte, wie Jillians Atem tief und gleichmäßig wurde. Warum schien ihm alles so friedvoll, wenn er bei ihr war, als wäre ihm sämtliche Last von den Schultern genommen und er könnte endlich schlafen? Keine Alpträume. Keine Träume. Nichts als vollkommener Frieden.
Schließ einfach die Augen – fünf Minuten!, sagte er sich im Stillen.
Er schloss die Augen und schlief tief und fest ein.