Kapitel 7

Obwohl es seine Idee gewesen war, fürchtete Graham sich ein wenig davor, Jillian seinem Bruder und Badra vorzustellen. Ihrem Reitmeister hatte er befohlen, in den Stallungen auf sie zu warten.

Nun standen sie im Salon. Jillian in ihren staubigen Reitsachen wirkte unsicher, als Kenneth und Badra sie ruhig musterten. Neben der blassen, schmalen und durch und durch englischen Jillian fielen Graham Badras dunkle Haut und ihr kugelrunder Bauch besonders auf. Überhaupt erschien der Unterschied zwischen seiner kleinen Familie und ihr hier drinnen geradezu frappierend. Noch dazu betrachtete Kenneth sie entschieden zu kritisch. Graham ahnte, was in seinem Bruder vorging.

Die Tochter eines Earls, die ihre Jungfräulichkeit in einem Bordell verkauft hatte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Jillian mit herzubringen.

Badra aber schenkte ihr ein freundliches Lächeln und reichte ihr die Hand. »Es ist mir eine Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, Lady Jillian. Ich freue mich schon darauf, Sie besser kennenzulernen, und ich hoffe, wir werden Freundinnen«, sagte sie ernst und in einem vollendeten Englisch, wenn auch mit einem leichten Akzent. Graham war angespannt. Falls Jillian seine Schwägerin nun nicht akzeptierte … Falls sie Badra einfach hochnäsig übersah wie andere …

Jillian jedoch entspannte sich sichtlich. »Ich freue mich auch darauf, Lady Tristan. Ich konnte es gar nicht erwarten, Jasmines Mutter kennenzulernen. Sie ist ein ziemlich kluges kleines Mädchen.«

Die Kleine strahlte übers ganze Gesicht. »Und ich kann einen tollen Schwinger!«

Badra sah Graham fragend an. »Was ist ein Schwinger?«

Er wurde rot. »Etwas, das Jasmine nicht wieder tun wird, wenn sie eine anständige junge englische Dame werden möchte.«

»Ich werde wohl nie eine anständige junge englische Dame, Onkel Graham«, entgegnete Jasmine fröhlich. »Aber ich werde versuchen, mehr wie Lady Jillian zu sein.«

Jillian lächelte unglücklich. »Sei du selbst, Jasmine. Man sollte sein Leben nicht damit verschwenden, jemand anders nachzueifern.«

Auf diese Bemerkung hin sah Kenneth sie nachdenklich an.

Graham gefiel diese kalte Berechnung in den Augen seines Bruders nicht. Er wurde wütend. Seine Nichte indessen neigte den Kopf leicht zur Seite und schien verwirrt.

»Ich wünschte, ich wäre ein Pferd. Das ist viel leichter, als ein Mädchen zu sein.«

Jillian lachte nervös, doch Badra verzog das Gesicht und legte ihrer Tochter eine Hand auf die Schulter. »Wenn Sie mich bitte entschuldigen, ich fürchte, ich muss mich zurückziehen.« Wieder verzog sie das Gesicht, und Kenneth eilte besorgt zu ihr.

»Geht es dir gut, meine Liebe?«

»Ja, ich habe nur seit letzter Nacht Rückenschmerzen.«

Kenneth murmelte eine Entschuldigung, und alle drei gingen hinaus. Jasmine sah Jillian mit großen Augen an. »Meine Mutter bekommt bald ein Baby. Ich kann es gar nicht erwarten, einen Bruder oder eine Schwester zu haben! Das wird bestimmt noch viel aufregender als letzten Monat, als ich zugesehen habe, wie meine Katze Junge bekam.« Sie wandte sich ernst an Graham. »Glaubst du, ich darf dabei zugucken, Onkel Graham?«

Graham hatte plötzlich das Gefühl, als wäre sein Kragen ihm zu eng. »Hmm, ich halte das für keine gute Idee, Jasmine.«

»Wieso nicht?«, fragte sie.

»Nun, solche Angelegenheiten sind nur etwas für Frauen.«

»Ich bin eine Frau«, erklärte sie.

Jetzt wurde Graham rot. In seiner Hilflosigkeit sah er zu Jillian, die ihn nur neugierig anlächelte.

»Für ältere Frauen«, erklärte er.

»Aber ich weiß, wie Babys gemacht werden. Warum kann ich dann nicht zusehen, wie sie geboren werden?« Das kleine Mädchen wandte sich an Jillian. »Wollen Sie wissen, wie Babys gemacht werden, Lady Jillian? Ich hab’s bei den Pferden gesehen. Zuerst …«

»Jasmine, junge Damen sprechen nicht über solche Dinge!«, fiel Graham ihr ins Wort.

Jillian warf ihm ein vielsagendes Grinsen zu. Dann sagte sie zu seiner Nichte: »Du wirst noch genug Zeit haben, über solche Dinge zu reden, wenn du größer bist.«

»Vielleicht wenn ich zehn bin?«

»Vielleicht wenn du vierzig bist, so wie es dein Vater wünscht«, sagte Graham und zwickte sie leicht in die Seite. Jasmine kreischte vor Lachen.

Plötzlich zerriss ein lauter Schrei die Luft, und Kenneth rief vom Flur: »Graham, Badras Fruchtblase ist gerade geplatzt! Ruf den Arzt!«

Graham wurde kreidebleich. »Lady Jillian, bleiben Sie bitte bei Jasmine!«, sagte er knapp.

Für einen kurzen Augenblick wollte er nur aus dem Haus rennen. Stattdessen rannte er zum Telefon. Mit zitternder Hand nahm er den Hörer auf und rief den Arzt an. Eine entsetzliche Angst packte ihn, als ihm die Haushälterin des Arztes erklärte, er wäre in seinem Club, sie würde aber gleich einen Dienstboten hinschicken, um ihn holen zu lassen.

»Ja, tun Sie das. Und schicken Sie ihn hierher, umgehend!«, brüllte Graham beinahe ins Telefon, bevor er auflegte.

Noch ein gellender Schrei ließ ihn zusammenfahren. Graham raste die Treppe hinauf und in Badras Zimmer, wo er abrupt in der Tür stehen blieb. Sie saß auf dem Bett, Kenneth neben ihr, und beide wirkten sehr blass und verzweifelt. Badra sah ihn mit weit aufgerissenen Augen und vollkommen verängstigt an.

»Das Baby kommt. Ich dachte, es waren nur Rückenschmerzen, aber das Fruchtwasser ist ausgelaufen.«

Graham war wie gelähmt vor Sorge. »Und jetzt? Dr. Andrews wird nicht so schnell hier sein. Er ist im Club, und sie müssen ihn erst holen!«

Die Haushälterin kam ins Zimmer gerauscht. Graham sah sie flehentlich an: »Mrs. White, können Sie bei einer Geburt helfen?«

»Das habe ich noch nie gemacht«, antwortete sie matt vor Schreck.

Badra stöhnte tief, und Kenneth, der ihre Hand hielt, wurde noch bleicher – sofern das überhaupt möglich war. »Hast du jemals bei einer Geburt geholfen?«, fragte er Graham.

»Ich habe einmal ein Kamel entbunden«, gestand Graham, dem kalter Schweiß ausbrach. »So viel anders kann das doch nicht sein, oder?«

Badra funkelte ihn wütend an. »Ich bin kein Kamel!«

»Natürlich nicht, mein Liebes«, beschwichtigte Kenneth sie.

Sie wirkte entsetzlich hilflos. »Wenn ich Dr. Andrews nicht haben kann, will ich auf die alte Weise gebären. Sieh unters Bett!«

Verwundert sah Kenneth sie an, bevor er auf die Knie fiel und unter das große Himmelbett schaute. Wenige Augenblicke später stand er wieder auf, in jeder Hand einen großen dunklen Lehmklotz. In die Seiten waren große Hieroglyphen eingeritzt. Graham erkannte sie und holte tief Luft.

»Gebärsteine«, murmelte er.

Badra blickte zu ihrem Mann auf. »Ja, Khepri«, flehte sie ihn an und benutzte seinen arabischen Namen. »Ich hocke mich auf die Steine, genau so, wie ich es bei Jasmines Geburt gemacht habe.«

Für einen Moment schien Kenneth fassungslos. Er stellte die Lehmklötze ab. »Du … du warst einverstanden, als ich sagte, dass ich einen englischen Arzt bei der Geburt dabeihaben will. Du hast mir gesagt, dass du genauso entbinden willst wie eine englische Frau.«

»Aber wenn der Doktor doch nicht da ist! Bitte, lass sie mich benutzen!«, flüsterte sie. »Ich habe solche Angst, dass ich wenigstens etwas Vertrautes brauche.« Tränen glänzten in ihren Augen. Sie verzog das Gesicht vor Schmerz und hielt sich den Bauch. Noch eine Wehe? Graham zählte langsam mit und erkannte voller Angst, wie dicht sie aufeinanderfolgten.

Kenneth blickte in seiner Verzweiflung nochmals zur Haushälterin. Diese fuchtelte hektisch mit den Armen und wich zurück. »Nein, Mylord! Das kann ich nicht. Ich kenne mich mit den heidnischen Geburten nicht aus. Ich war nur ein Mal bei einer Geburt dabei, und das war eine anständige englische Geburt, bei der die Mutter im Bett lag. Außerdem waren keine Herren anwesend. Was Eure Gattin wünscht, ist unanständig.«

Nun wurde Graham wütend. »Mrs. White, andere Kulturen pflegen andere Bräuche! Deshalb sind sie nicht gleich unanständig. Ganz im Gegenteil: Die Geburtsmethode, die Mylady beschreibt, gibt es bereits seit Jahrtausenden. Und wenn Badra es wünscht, dann wird es auch so gemacht. Ich werde sie entbinden.«

Die anderen drei sahen ihn stumm vor Staunen an. Aber er stopfte trotzig die Hände in die Hosentaschen und fügte hinzu: »Ich habe solch eine Geburt gesehen.« Badra schien Hoffnung zu schöpfen, während Kenneth eindeutig Zweifel hegte und Mrs. White vollkommen empört war.

»Ein Herzog als Hebamme!«, hauchte die Haushälterin entgeistert.

Graham versuchte, sich zu erinnern, so gut es ging. »Wir brauchen zwei Leute, einer an jeder Seite, um Badra zu stützen, wenn sie presst.«

Kenneth küsste seine Frau auf die Wange. »Ich gehe an deine rechte Seite, Liebes. Ich bleibe bei dir!« Dann blickten alle zur Haushälterin, die den Kopf schüttelte.

»Das ist schockierend unanständig! Solche Dinge sind reine Frauensache!«

Graham sah sie streng an. »Ein Mann half auch, dieses Kind zu zeugen, also ist es wohl nicht ausschließlich Frauensache. Und jetzt hören Sie auf, herumzukeifen, und helfen Sie!« Seine Stimme klang gefährlich ruhig und gelassen, was niemals seine Wirkung verfehlte. Die Haushälterin jedenfalls war sichtlich eingeschüchtert.

»Es … es tut mir leid, Euer Gnaden«, stammelte sie. »Was soll ich tun?«

Graham atmete tief durch, um seinen wilden Herzschlag zu beruhigen. »Ich werde das Baby so entbinden, wie die Viscountess es wünscht. Zwischen den Wehen legt sie sich aufs Bett, und dann kümmern Sie sich um sie. Ich will, dass sie sich zwischendurch so gut wie möglich ausruht und ihre Kraft für das Pressen spart. Sie werden tun, was ich Ihnen sage. Ach ja, und Sauberkeit, Mrs. White: Fassen Sie die Viscountess nicht an, ohne sich vorher die Hände gewaschen zu haben!«

Er fuhr sich durchs Haar. Dass er auf Mrs. White zählen konnte, bezweifelte er. Aber er brauchte sie, falls irgendetwas Unvorhergesehenes passierte. Frauen starben während der Geburt. Und sollte Badra etwas zustoßen …

Nein, daran durfte er jetzt nicht denken! Er schloss die Augen und rief sich die Szene ins Gedächtnis, die er vor Jahren im Lager der al-Hajid beobachtet hatte. »Wir brauchen frisches Stroh und sauberes Leinen. Und wir bringen Badra in mein Schlafgemach – dort ist es bequemer und abgeschiedener.«

»Dort dürfen nur die direkten Erben des Herzogs geboren werden. Das ist eine Tradition«, erwiderte Kenneth.

»Dessen bin ich mir wohl bewusst«, sagte Graham gelassen.

Die Haushälterin starrte ihn entsetzt an. »Stroh, Euer Gnaden? Die Viscountess bekommt ein Kind. Sie ist kein Tier!«

Er bedachte sie mit einem strengen Blick. »Läuten Sie nach dem Diener und lassen Sie ihn frisches Stroh in mein Gemach bringen.« Sie schluckte heftig, statt ihm zu widersprechen, und lief zum Klingelzug.

Kenneth hob seine Frau behutsam in seine Arme und folgte Graham ins herzögliche Schlafgemach. Drinnen stellte Graham die Gebärsteine auf den antiken Perserteppich statt auf den polierten Parkettboden, auf dem sie nur hin- und herrutschen würden. Badra lächelte gequält, als Kenneth sie aufs Bett legte.

Als er Mrs. White ansah, beschloss Graham, dass sie noch eine weitere Frau brauchten, die ihm assistieren konnte – eine, die nicht gleich die Nerven verlor. Jillian? Konnte er sie bitten, bei einer solch persönlichen Sache zu helfen? Sie war seine zukünftige Frau. Am besten fanden sie beide jetzt gleich heraus, ob sie in einer Krise bestand. Er sah zu Kenneth, der erstaunlich blass, aber ruhig war.

»Sprich ihr während der Wehen Mut zu, und tief durchatmen!«, riet er.

Der Viscount holte angestrengt Luft.

»Nicht du! Deine Frau«, zischte Graham. »Sie muss sich ausziehen – vollständig.«

Kenneth sah ihn verständnislos an. »Du willst, dass meine Frau nackt gebärt?«

Nein, in einem Ballkleid. Graham verdrehte die Augen. »Hilf ihr, sich auszuziehen! Ich komme gleich wieder.«

Er rannte zum Salon hinunter. In der Tür blieb er stehen. Jillian saß mit Jasmine auf dem Kanapee, hielt die Hand der Kleinen und sprach beruhigend auf sie ein. Ihre Gefasstheit machte Graham Hoffnung.

»Ich brauche Ihre Hilfe, Lady Jillian«, sagte er heiser. »Badra ist in den Wehen, und wir werden das Baby allein holen müssen, weil der Arzt nicht zu erreichen ist.«

Jasmine hüpfte aufgeregt auf und ab. »Mama kriegt meine Schwester oder meinen Bruder!«, trällerte sie erfreut.

Jillian indessen sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Ich, Euer Gnaden? Ich habe keinerlei Erfahrung mit Geburten.«

»Sie brauchen nichts weiter zu tun, als an Badras Seite zu bleiben, sie zu stützen und ihr Mut zuzureden. Sie braucht eine andere Frau.«

»Aber gewiss kann die Haushälterin …«

»Mrs. White wird mir helfen müssen, das Baby zu holen.«

Jillian vergrub die Finger in dem Kissen neben sich. »Ihr kennt mich nicht. Was ist, wenn ich die Sorte Frau bin, der so etwas zu viel wird oder die gar in Ohnmacht fällt?«

Er blickte sie vollkommen gefasst an. »Sind Sie nicht. Das sehe ich Ihnen an. Ich brauche Sie. Badra braucht Sie.«

Ein Schrei hallte durchs Haus. Jasmine hörte auf, zu hüpfen, und sah furchtbar verängstigt aus. Sorgenfalten zeigten sich auf ihrem Elfengesicht.

»Was ist mit Mama? Geht es ihr schlecht?«, flüsterte sie.

Jillian legte den Arm um die Kleine. »Es ist alles in Ordnung. Das ist normal und vollkommen natürlich. Du brauchst keine Angst um deine Mama zu haben.« Sie lächelte, tätschelte Jasmine die Hand und richtete sich wieder auf. »Sagt mir, was ich zu tun habe!«

Graham war unendlich erleichtert. »Kommen Sie mit mir!«

Alle drei gingen nach oben, denn Jasmine bestand darauf, mitzukommen.


Ihr Leben lang schon hatte Jillian sich danach gesehnt, gebraucht zu werden, am Leben teilzunehmen, statt nur eine schweigende graue Zuschauerin zu sein. Allerdings hatte sie nie damit gerechnet, bei einer Geburt helfen zu müssen.

Ihre Hände begannen zu schwitzen, als sie hinter dem Herzog her den oberen Flur entlangeilte, dessen große Schritte ihr kaum eine Chance gaben, mit ihm mitzuhalten. An der Zimmertür am Ende des Korridors drehte er den Türknauf und trat direkt ein. Jasmine huschte hinter ihm her. Jillian zögerte kurz.

Nur Mut! Sie holte tief Luft und folgte ihnen.

Die dunkelhaarige, wunderschön exotische Lady Tristan lag auf einem riesigen Bett, in dessen majestätisches Kopfteil das herzögliche Wappen geschnitzt war. Ihr Ehemann saß neben ihr und hielt ihre Hand. Sie trug nichts außer einem großen Herrenhemd, das unter ihrer Brust zusammengeknotet war. Von der Taille abwärts war sie nackt. Ihre Beine hielt sie weit gespreizt, und unter ihrem riesigen Bauch lugten dunkle Locken hervor.

Jillian wurde feuerrot. Weder hatte sie jemals eine andere Frau nackt gesehen noch erwartet, bei etwas so Persönlichem dabei zu sein. Und wie skandalös, dass hier zwei Herren zugegen waren, bei denen es sich nicht um Ärzte handelte!

Dann bemerkte sie den ängstlichen Ausdruck des Viscounts, die strenge Miene Grahams und den furchtsamen Blick der Lady. In solch einer Krise war Anstand gänzlich unerheblich.

Badra stöhnte wie ein Tier, das entsetzliche Schmerzen litt, das Gesicht verzerrt.

»Tief atmen, Badra!«, wies Graham sie an. »Sprich mit ihr, Kenneth!«

Während der Viscount den Arm um seine Frau legte und beruhigend auf sie einredete, beugte die Haushälterin sich zwischen Badras Beine. Sie steckte ihre Hand in – gütiger Gott!

»Es kommt, Euer Gnaden! Wir sollten uns lieber beeilen«, sagte Mrs. White.

Der Herzog legte in Windeseile Jacke und Weste ab, warf beides auf einen Stuhl in der Nähe und krempelte die Ärmel seines makellos weißen Hemdes hoch. Einige Diener eilten gesenkten Hauptes mit Armladungen von Stroh herein und legten es auf Anweisung des Herzogs zwischen zwei Steinen ab, die auf dem Teppich vor dem Bett lagen. Sie blickten verstohlen zu der Frau auf dem Bett und huschten wieder hinaus.

Jasmine ging zum Bett. Ihre Unterlippe bebte verdächtig. »Mama? Geht es dir gut?«

Der Herzog schob sie sanft weg. »Es ist alles gut, Kleines. Kannst du vielleicht etwas für mich tun, das deiner Mutter hilft?«

Sie sah ihn mit großen ernsten Augen an. »Was, Onkel Graham?«

»Ich möchte, dass du nach unten gehst und wartest, bis der Doktor kommt. Sobald der Butler ihn einlässt, musst du ihn hierher nach oben bringen. Ich brauche jemanden, auf den ich mich verlassen kann. Tust du das für mich?«

Jasmine blickte unsicher zu ihrer Mutter, aber Graham klopfte ihr sanft auf die Schulter. »Es ist alles in Ordnung. Dein Vater und ich sorgen dafür, dass ihr nichts geschieht, versprochen!«

Die Kleine betrachtete nachdenklich die Szene. »Als meine Katze ihre Babys bekam, haben wir sie in eine schöne Kiste mit einer Decke gelegt. Solltet ihr Mama nicht auch in eine Kiste legen?«

Jillian hätte beinahe gelacht. Der Herzog aber lächelte seine Nichte liebevoll an und antwortete: »Bei einer Katze ist es ein bisschen anders.«

»Du meinst, sie leckt meinen neuen Bruder oder meine neue Schwester nicht ab wie Cloe?«

»Nein, aber sie wird es gut überstehen, Jasmine. Und jetzt darfst du deiner Mutter noch einen Kuss geben und dann nach unten gehen. Wir brauchen dringend deine Hilfe!«

Das Kind küsste seine Mutter und ging, drehte sich in der Tür jedoch noch einmal um, skeptisch und besorgt, bevor es das Zimmer verließ. Graham verschwand nach nebenan, um sich die Hände zu schrubben.

Jillian fühlte sich in ihrer Reitkleidung etwas deplaziert, deshalb zog sie ihre Jacke aus, nahm den Hut ab und legte beides sorgsam auf eine Kommode. Ihre Unsicherheit gab sich, als Lady Tristan sie erleichtert ansah.

Als sie noch einmal tief aufstöhnte, verkündete die Haushälterin, dass das Baby kam. Der Herzog kehrte zurück, und gemeinsam halfen sie Badra auf die Steine.

Wie Graham gesagt hatte, stellte Jillian sich neben die Gebärende, die auf den Steinen hockte. Vornübergebeugt legte sie einen Arm um Badra, um sie aufrecht zu halten.

Der Herzog kniete sich vor seine Schwägerin, die Hände unter ihrem Po, und sprach ihr Mut zu. »Du machst das hervorragend, Badra. Press jetzt ganz vorsichtig!«

Jillian wusste nicht, was sie tun sollte, und kam sich schrecklich unnütz vor. Badra griff zitternd nach ihrem Arm, und ihr Schmerz wurde zu Jillians. Sie blickte zu dem Viscount, der ebenfalls zu seiner Frau hinuntergebeugt war und beruhigend auf sie einredete, während sie wimmerte und stöhnte. Lady Tristan zu stützen kostete Jillian eine unglaubliche Kraft. Ihre Beinmuskeln, die nicht an eine solche Haltung gewöhnt waren, begannen wehzutun, aber Jillian achtete gar nicht darauf. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Viscountess und gab ermutigende Laute von sich, die keinen Sinn ergaben, sich aber dennoch richtig anhörten.

Ihre Worte hatten keine sichtbare Wirkung. Badra machte ein entsetzlich gequältes Gesicht, während sie stöhnend, ächzend und schreiend ihr Kind gebar. Ihr Mann hielt sie ganz fest und sprach weiter auf sie ein. Unterdessen hockte Graham vor seiner Schwägerin, vor Konzentration angespannt. Jillian verstummte voller Ehrfurcht davor, wie Badra trotz ihrer Schmerzen Grahams Anweisungen folgte und wie beruhigend und stark er in diesem Moment erschien. Dann plötzlich griff er mit seinen großen Händen nach einem dunkelhaarigen Köpfchen, das zwischen Badras Beinen hervorkam.

Sprachlos und fasziniert sah Jillian mit an, wie der Herzog den winzigen bläulichen Körper aus seiner Mutter herauszog. Ein blutiger Wasserschwall ergoss sich über das Baby und Grahams Hände, was ihn überhaupt nicht verstörte. Sanft massierte er den Rücken des Neugeborenen und flüsterte beruhigend auf das wimmernde Etwas ein. Fast gleichzeitig hielten alle im Raum die Luft an.

Die Viscountess sank gegen Jillian, der auf einmal zum Heulen war. Doch sie tat es nicht, sondern drückte Badras Arm und lächelte. »Sie haben ein Baby«, flüsterte sie.

»Einen gesunden, kräftigen Jungen«, erklärte Mrs. White so überrascht wie zufrieden.

Graham blickte auf – nicht zu der Mutter, sondern zu Jillian, die ein freudiges Staunen in seinen Augen erkannte. Jillian lächelte durch einen Tränenschleier. Ohne Frage war er der durch und durch unkonventionellste, unvorhersehbarste und wundervollste Mann, dem sie je begegnet war.

Eventuell könnte sie sich in ihn verlieben. Gott behüte!


Sein Verstand hatte wie ein Uhrwerk funktioniert, ohne jedwede Gefühle, ganz auf die Krise ausgerichtet, die es zu meistern galt. Er hatte sich an alle Einzelheiten der Geburt erinnert, die er einst mit angesehen hatte, und das Erinnerte mit einer nüchternen Distanz angewandt. Selbst als er Badra ermutigend zugeredet hatte, war Graham seltsam distanziert gewesen – distanziert und reserviert wie immer.

Als aber das Baby in seine ausgestreckten Hände geglitten war und er das zerbrechliche neue Leben gehalten hatte, hatte sich tief in ihm etwas geregt. Er war eine Gefühlsbindung eingegangen, und das widerstrebte ihm.

Dennoch vermochte er nichts dagegen zu tun.

Graham hielt das schreiende Baby und starrte es ehrfürchtig an. Dieses winzige, unschuldige und hilflose Leben weckte eine Empfindung in ihm, gegen die er sich verzweifelt sträubte. Sosehr er sich auch bemühte, seine Gefühle zu kontrollieren und die Fassung zu wahren, konnte er nicht anders, als seinen Neffen an die Brust zu drücken. Dass die blutige Flüssigkeit auf der nunmehr roten Haut des Babys sein Hemd besudelte, war ihm gleich. Er blickte zu Jillian auf, die ihn ansah, als hätte er soeben ein Wunder vollbracht.

Wie verwandelt kam er sich vor, als würde dieses Baby einen Neubeginn einläuten, der auch ihm die Chance gab, von vorn anzufangen. Und er würde alles, einfach alles tun, um das neue Leben zu schützen.

Vorsichtig neigte Graham den Kopf und drückte seinem Neffen einen sanften Kuss auf das dunkle haarige Köpfchen. Plötzlich und gänzlich unerwünscht brannten ihm Tränen in den Augen.


Das Leben in all seiner unglaublichen, brutalen und ehrfurchteinflößenden Kraft hatte sich vor ihren Augen abgespielt. Jillian beobachtete voller Staunen, wie der Herzog seinen neugeborenen Neffen mit der Zärtlichkeit einer jungen Mutter küsste. Einen Sekundenbruchteil später war er wieder der allzeit souveräne Mann und wand mit der Haushälterin zusammen eine Schnur um das bläulich-weiße Band, welches vom Baby zur Mutter verlief. Dann durchschnitt der Herzog es mit einem merkwürdig aussehenden gebogenen Dolch, der einen besonders schön gearbeiteten Griff hatte.

Der Viscount hatte Tränen in den Augen, als er seine Frau küsste. Er sagte: »Mein Dolch, erinnerst du dich, Liebste? Der, den du letztes Jahr benutzt hast, um uns loszuschneiden, als wir in dem Geschäft zusammengebunden waren.«

»Eine passende Klinge, um deinen neugeborenen Sohn auf der Welt willkommen zu heißen«, murmelte Graham, der sich von der Haushälterin ein frisches Handtuch geben ließ und damit behutsam das Baby abwischte.

Badra stand auf, am ganzen Leib zitternd, und sank mit ausgebreiteten Armen gegen Jillian. »Bitte, lasst mich ihn sehen! Ich will ihn halten!«

»Jetzt nicht, Mylady. Er muss erst gewaschen und gewickelt werden«, sagte Mrs. White.

Jillian spürte, wie Badra erbebte. »Nein, ich muss ihn sehen. Lasst mich ihn halten! Nehmt ihn nicht weg, nein, bitte nicht!«, schrie Badra, als die Haushälterin Graham das Baby aus den Händen nahm und damit fortgehen wollte.

Sogleich eilte der Viscount auf die erschrockene Haushälterin zu und entriss ihr seinen Sohn. Er brachte den schreienden Säugling zu seiner schluchzenden Mutter. Zärtlich legte er ihr das Baby in die Arme. »Hier ist dein Baby, mein Liebes – unser Sohn!«

Badra drückte das Kind an ihre Brust und weinte. Unsicher blickte Jillian sich um. Der Herzog sah sie mit seinen leuchtenden dunklen Augen an, die ihr geradewegs in die Seele zu sehen schienen. Dann stand er auf, nahm eine Decke vom Bett und drapierte sie vorsichtig über Badras bebende Schultern.

Vom Flur drangen aufgeregte Laute. Dann flog die Tür auf, und Jasmine kam hereingestürmt. »Der Doktor ist hier!«, rief sie.

Die sichtlich verdrossene Mrs. White scheuchte Jasmine eilig aus dem Zimmer und kam dann zurück. Der Arzt sah sich kurz um, schätzte die Situation ein und wies Badra an, die Nachgeburt herauszupressen. Kenneth und Jillian nahmen wieder ihre Positionen ein, um sie zu stützen. Der Doktor nahm das Baby und machte Anstalten, es Mrs. White zu geben.

»Nein!«, schrie Badra und sah flehentlich zu Graham. »Gebt dem Herzog meinen Sohn! Er kann ihn halten.«

Der Arzt tat, wie sie sagte, und Graham hielt das Neugeborene in seinen Armen, während der Arzt Badra von der Nachgeburt entband. Danach gab er ihr das Baby wieder.

Der Herzog sah Jillian an. »Lassen wir sie jetzt allein. Wie wäre es, wenn wir uns unten im Salon treffen?«

Stattdessen folgte Jillian ihm in den Waschraum. Die Stimmung im Schlafzimmer war geradezu beklemmend geworden, als die Haushälterin versucht hatte, das Baby zum Baden mit hinauszunehmen. Und Jillian wollte wissen, warum.

Graham zog sich das blutige Hemd aus. Prompt starrte Jillian wie gebannt auf seinen breiten Rücken mit den festen Schultern. Er beugte sich über das Waschbassin und schrubbte sich energisch die Hände und Arme. Dabei bewegten die strammen Muskeln sich unter seiner Haut.

»Nach der Geburt nahm man Badra Jasmine weg, während sie schlief«, erklärte er leise. »Als sie wieder aufwachte, erzählten sie ihr, Jasmine wäre zu schwach gewesen und gestorben. Erst letztes Jahr fand sie heraus, dass ihre Tochter noch lebte und in Ägypten in die Sklaverei verkauft worden war. Sie sollte zur Hure ausgebildet werden.«

Jillian sah ihn entsetzt an. »Wer tut so etwas Grausames? Sind solche furchtbaren Dinge in Arabien üblich?«

Der Herzog spülte sich die Arme und Hände ab, bevor er sich mit einem Handtuch abtrocknete. Dann hob er seinen Kopf und betrachtete sie im Spiegel. Eisiger Zorn lag auf seinem Gesicht. »Es gibt viele grausame Menschen auf dieser Welt, Jillian – auch in diesem Land.« Er warf das Handtuch beiseite. »Manchmal sind die Menschen aus diesem Land sogar noch grausamer.«

Sturm der Leidenschaft: Er suchte einen verborgenen Schatz - und fand die Liebe seines Lebens
titlepage.xhtml
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_000.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_001.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_002.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_003.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_004.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_005.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_006.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_007.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_008.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_009.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_010.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_011.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_012.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_013.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_014.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_015.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_016.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_017.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_018.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_019.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_020.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_021.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_022.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_023.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_024.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_025.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_026.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_027.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_028.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_029.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_030.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_031.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_032.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_033.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_034.html
CR!QCHQH4CS3542B2871X6N0WDJ0E4X_split_035.html