Kapitel 5

Jillians Gedanken überschlugen sich, als Graham sie in die große Bibliothek brachte und die Doppeltüren hinter ihnen schloss. Er drehte sogar den Messingschlüssel um und schloss sie beide ein – oder vielmehr ihren Vater aus.

Dann betätigte er den Lichtschalter, so dass der Raum hell erleuchtet war, und lehnte sich von innen gegen die Tür. Mit vor der Brust verschränkten Armen sah er Jillian an.

»Ihr habt mich unmöglich gemacht!«, sagte sie.

Er lächelte. »Ich habe Sie gerettet, Lady Jillian – vor dem unerträglichen Geck, der entschlossen war, Sie zur Frau zu nehmen. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen. Aber ich hielt diese Lösung für die beste für uns beide.«

Zornesröte stieg ihr ins Gesicht, und sie ballte die Hände so fest, dass sie durch den Seidenhandschuh spürte, wie ihre Fingernägel sich in ihre Handflächen bohrten.

»Warum? Warum?«

»Ich brauche eine Frau. Sie wollten weglaufen. Folglich heißt die Lösung: Sie heiraten mich.«

»Ich denke nicht, dass das eine Lösung ist. Und falls Ihr, Sir, auf der Suche nach einer passablen Gattin sein solltet, könnt Ihr gewiss eine bereitwillige Kandidatin auf dem Heiratsmarkt finden, ohne gleich einen Skandal zu verursachen!«

»Vielleicht fände ich eine Braut unter diesen kichernden blassen Küken, die sich bei Anlässen wie dem heutigen tummeln, aber ich will Sie.«

»Ich bin mittellos, und Ihr kennt mich überhaupt nicht!«

»Wir hatten einen glücklicheren Auftakt als viele andere Ehen. Immerhin wissen wir schon, was dem anderen gefällt.«

»Ihr müsst von Sinnen sein!«, konterte sie empört. »Wir haben eine Nacht gemeinsam verbracht, nach der Ihr erklärtet, dass Ihr mich nie wiedersehen wolltet. Und nun bietet Ihr mir Euren Namen an?«

»Ich habe meine Meinung geändert.«

»Ich die meine nicht. Ich werde Euch nicht heiraten!«

»Ihnen dürfte kaum eine Wahl bleiben«, entgegnete er.

Es war der reine Irrsinn. Sie fühlte sich, als wäre sie von einer unaufhaltsamen Macht gefangen. »Ihr zwingt mich also in die Ehe mit Euch, indem Ihr der feinen Gesellschaft erklärt, dass ich keine Jungfrau mehr bin? Damit habt Ihr den guten Namen meines Vaters ruiniert.«

Schlagartig wechselte der Ausdruck des Herzogs. Sein Gesicht war auf einmal wie versteinert, und in seinen Augen schien es zu lodern. Jillian beobachtete ihn ängstlich und fasziniert zugleich, und ein Schauer durchfuhr sie, als sie an die gebündelte Kraft dachte, die sie für einen kurzen Moment im Bordell entfesselt erlebt hatte.

»Ruiniert? Das glaube ich nicht – ganz im Gegenteil: Er gewinnt einen Herzog als Schwiegersohn. Und vergessen wir nicht die finanziellen Vorteile, auf die Ihr Vater doch vornehmlich bedacht ist. Er erwartet, mit Ihrer Verheiratung Geld zu machen, und ich biete ihm dieselbe Regelung, die mit Mr. Augustine vereinbart war.«

Jillian war den Tränen nahe. »Und die Vorteile für Euch, Sir, wenn mein Vater erst bezahlt ist? Ich vermag nicht zu erkennen, was Ihr davon habt.«

Ein Klopfen erklang von der Tür, dann die Stimme ihres Vaters: »Jillian? Euer Gnaden?«

Der Herzog ignorierte es und sah Jillian weiter an, die sich die Hand vor den Mund hielt. Sie wollte nur weg von hier. Nervös blickte sie zu den Glasflügeltüren an der Westwand der Bibliothek.

Mit wenigen Schritten war Graham bei ihr. »Weglaufen ist keine Lösung, Jillian!«, sagte er mit tiefer, tröstender Stimme. »Ich werde sehr gut für dich sorgen. Du wirst Vermögen und Status besitzen. Was immer du dir wünschst, ich gebe es dir! Juwelen, Pelze, Kleider von den besten Pariser Couturiers – alles, was dein Herz begehrt.«

»Alles, was mein Herz begehrt?« Jillian lachte, denn ihre Situation war fast schon grotesk. Ja, er wollte ihr alles geben, bis auf das eine, was sie sich am meisten wünschte: ihre Freiheit.

»Was nützen mir feine Kleider und Rang, wenn ich in den Augen aller als gefallene Frau dastehe? Sie können es gar nicht erwarten, mich in Stücke zu reißen.«

Ihr Vater rüttelte von außen am Türknauf. »Euer Gnaden, auf ein Wort, bitte! Ich muss mit Euch sprechen«, hörte sie seine gedämpfte Stimme.

Graham sah zur Tür. »Sie werden unseren fragwürdigen Anfang vergessen, wenn wir erst verheiratet sind.«

»Vergessen? Da kennt Ihr die feine Gesellschaft schlecht, falls Ihr ernsthaft glaubt, sie würde so etwas vergessen. Nein, die gehobenen Kreise haben ein exzellentes Gedächtnis!«

Wieder sah er sie mit diesem Blick an, der so seltsam bedrohlich wirkte, als würde sich unter dem glanzvollen Äußeren ein dunkler Kern verbergen.

»Niemand wird es wagen, meine Frau zu beleidigen. Ich verspreche dir, ich werde keinen einzigen Affront hinnehmen.«

»Sie werden mich nicht beleidigen. Vielmehr werden sie mich schlicht ignorieren«, gab sie zu bedenken.

»Sie können dich nicht ignorieren, wenn du meine Herzogin bist, Jillian. Denk nach! Ich biete dir eine Alternative zu einem Leben an der Seite des unerträglichen Mr. Augustine.« Er machte eine kurze Pause und lächelte. »Wärst du nicht lieber an meiner Seite – im Bett, zum Beispiel, für lange Stunden vorzüglicher Vergnügungen?«

Unweigerlich wurde ihr heiß, auch wenn sie versuchte, es nicht zu beachten. »Woher wollt Ihr wissen, dass er unerträglich ist?«

»Sein Schnauzbart – er muss eindeutig eine Menge Zeit damit verbringen, ihn zu wachsen. Möchtest du wirklich die Gattin eines Mannes sein, der von seinem Gesichtshaar besessen ist? Seine Küsse dürften genauso ekelhaft sein wie das Macassar-Öl, das er sich ins Haar schmiert.«

»Das weiß ich nicht«, murmelte sie.

»Er hat dich noch nie geküsst?«

»Er hat es versucht, aber ich hielt ihn ab. Lieber hätte ich Bienenwachs von der Treppe geleckt.«

Sein tiefes Lachen hätte ihr um ein Haar ein Lächeln entlockt, aber Jillian unterdrückte es. »Warum wollt Ihr mich heiraten? Ich wüsste nicht einen Grund, weshalb Ihr es tun solltet.«

»Aus dem wichtigsten von allen, Jillian. Du bist eine wunderschöne Frau, und ich will dich in meinem Bett.«

Er sagte es mit einer solchen Entschlossenheit, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief. »S-sex ist eine schwache Grundlage für eine Ehe.«

»Ist er?« Er kam näher. Ein vielsagendes Funkeln lag in seinem Blick. Als er ganz sachte eine Hand an ihre Wange legte, schrak Jillian kaum merklich zurück. Sie schloss die Augen, hilflos vor Verlangen. Welche Macht er doch über sie besaß, wenn er sie nur berührte!

»Ich halte Sex für eine sehr gute Ehegrundlage, zumal er für die Erhaltung des Titels unabdingbar ist. Ich brauche einen Sohn.« Auf diese Erklärung hin riss sie die Augen auf. Grahams Blick wanderte zu ihrem Bauch, und seine warmen Hände fassten ihre verhüllten Schultern. Unwillkürlich dachte sie daran, wie er sie gestreichelt und liebkost hatte und wie wunderbar heiß ihr dabei geworden war. »Ich bin gern bereit, es mit einem Erben zu versuchen, nachdem wir verheiratet sind.«

Sein warmer Atem brachte die empfindliche Rückseite ihres Ohrs zum Kribbeln, als er den Kopf beugte und ihr zuflüsterte: »Ich fürchte, deine Wahlmöglichkeiten sind äußerst begrenzt, Lady Jillian. Dir bleibt nichts anderes übrig, als mich zu heiraten.«

Sie schluckte. Heirat war keine Lösung. England zu verlassen hingegen schon. Der Herzog aber hatte all ihre Pläne durchkreuzt. Nachdenklich biss sie sich auf die Unterlippe. Sie hatte immer noch das Geld in ihrem Zimmer versteckt. Noch könnte sie fliehen. Aber fürs Erste musste sie mitspielen, um Zeit zu schinden.

»Nun gut«, sagte sie leise, »ich werde Euch heiraten.«

Er lächelte sanft, beugte sich noch weiter vor und küsste sie ganz sachte – ein kurzer Kuss, der sinnliche Freuden versprach.

Und dennoch waren es Freuden, in deren Genuss sie nicht kommen würde, denn sie hatte nicht vor, ihn zu heiraten, falls sie vorher entkommen konnte.

Ihr Vater mochte sich mit Graham dem Herzog anstelle von Bernard dem Unerträglichen zufriedengeben, aber tief in ihrem Innern hatte sie das ungute Gefühl, dass Graham mit seiner dunklen Aura und dem gefährlichen Charme die weit tödlichere Wahl sein könnte.


Graham schaffte es, seine Gefühle im Zaum zu halten, als er Jillians Hand nahm und sich bereit machte, ihrem Vater gegenüberzutreten. Eine Stimme in seinem Kopf schrie: Bist du wahnsinnig?!

Vielleicht war er es. Sie zur Heirat zu zwingen und so seinen größten Feind zu seinem Schwiegervater zu machen mutete vollkommen wahnsinnig an.

Aber man behielt seine Feinde in der Nähe, hatte ihm sein Freund, der Khamsin-Scheich, einst geraten. Und wie könnte er Stranton näher sein als durch eine verwandtschaftliche Verbindung?

Vor langer Zeit hatte Graham geschworen, niemals zu heiraten. Trotzdem kam nur diese Lösung in Frage. Er musste für Jillian sorgen und sie schützen, wenn der weit größere Skandal losbrach. Außerdem war die Liebesnacht mit ihr höchst angenehm gewesen, und die Vorstellung, sie zu wiederholen, fand Graham überaus verlockend.

Natürlich konnte sie ihm darüber hinaus einen Erben schenken. Kinder zu bekommen war überhaupt gut, denn dann wäre sie beschäftigt und würde keine Schwierigkeiten machen. Und solange er sie von der Wüste fernhielt, bestand keine Gefahr, dass sein Alptraum wahr wurde. Die Chance, dass sie jemals mit ihm nach Ägypten reiste, war so gering wie die, dass er Khufus verlorenen Schatz fand.

Graham legte Jillians Hand in seine Ellbogenbeuge, setzte eine ernsthafte, distanzierte Miene auf und atmete tief durch, bevor er die Tür aufschloss und öffnete. Sein Feind stand davor und sah ihn wütend an.

Seit zwanzig Jahren hatte Graham ihm nicht mehr gegenübergestanden. Einmal, letztes Jahr in London, war er in schamvoller Furcht vor ihm weggerannt. Jetzt lief er nicht mehr davon.

Sein Puls rauschte in seinen Schläfen. Er wollte den Mann zerquetschen, erwürgen, wie einen Wurm zertreten. Stattdessen lächelte er ihn betont gelangweilt an.

»Guten Abend, Lord Stranton. Ihre Tochter hat meinen Antrag angenommen und eingewilligt, meine Frau zu werden.« Jillian drückte ihm warnend den Arm.

Doch das ignorierte er, denn sein Körper war für den Kampf mit dem Mann bereit, sei es ein verbaler Kampf oder was auch immer. Aber Stranton trat einfach ein und schloss die Tür hinter sich. Seine Tochter würdigte er keines Blickes.

»Ob sie annimmt oder nicht, ist unwesentlich, Euer Gnaden. Jillian wird tun, was ich ihr sage. Sie hat mich mit ihrem Verhalten entehrt, und das wird nicht wieder vorkommen.«

Die Sehnen an Strantons Hals traten hervor, als er seine Tochter mit tiefster Verachtung ansah.

»Und ich sage Ihnen, Stranton, dass ich die volle Verantwortung für das übernehme, was geschehen ist. Ich verführte sie.«

Stranton lächelte eisig. »Ich mache Euch nicht verantwortlich, Euer Gnaden. Ich erzog Jillian dazu, den fleischlichen Sünden zu entsagen und jedweder Regung in dieser Richtung zu widerstehen. Sie hat mich maßlos enttäuscht.«

Graham fühlte, wie Jillian sich neben ihm verkrampfte. Ihm war klar, dass Stranton sie angriff, weil sie ein sicheres Ziel war und sich nicht verteidigen würde. Allein dafür wollte er ihm am liebsten das Genick brechen. Es wäre so einfach!

»Wir alle sind schwache menschliche Wesen, Sir«, sagte er höflich.

»Schwäche ist keine Entschuldigung für einen moralischen Lapsus dieser Größenordnung«, entgegnete der Earl angewidert. Wieder fiel sein Blick auf seine Tochter, die den Kopf senkte und zu Boden sah.

»Und mein moralischer Lapsus?«, fragte Graham, ohne den Mann aus den Augen zu lassen.

Stranton lächelte ihn entschieden zu freundlich an. »Bei Männern ist es anders, Euer Gnaden. Deshalb ist meine Kampagne zur Kontrolle der Häuser von zweifelhaftem Ruf so wichtig. Wir müssen uns darauf konzentrieren, das Benehmen von eigensinnigen Weibsbildern in klare gesetzliche Schranken zu weisen. Vielleicht könntet Ihr Euch dafür interessieren.«

»Vielleicht.« Graham hatte nicht die Absicht, eine Karriere in der Politik anzustreben.

Ermuntert fuhr der Earl fort: »Aufgrund ihres Verhaltens habe ich heute Abend beträchtlich an Einfluss verloren. Was meine Tochter tat, war vollkommen inakzeptabel. Sie hat meinen Namen öffentlich in den Schmutz gezogen.« Der Mann hatte die emotionale Tiefe einer Rübe. Ihn kümmerte lediglich, dass er vor seinesgleichen in Verlegenheit gebracht worden war. »Und das wird sie nun wiedergutmachen, wenn Ihr sie zur Frau nehmt.«

Graham verspürte plötzlich einen unwiderstehlichen Drang, mit dem Earl zu spielen – wie eine Katze, die mit einer in die Enge getriebenen Maus spielt. »Ich könnte sie zu meiner Geliebten machen«, sagte er und musste schmunzeln, als Stranton fast einen Satz nach hinten machte.

»Ich muss meine Reputation wiedererlangen. Ihr müsst sie heiraten!«

»Ich muss gar nicht heiraten.«

Stranton zögerte. »Es ist Eure Pflicht als englischer Gentleman, sie zu heiraten, Euer Gnaden.«

»Mir liegt nicht sonderlich viel daran, ein englischer Gentleman zu sein.«

Panik spiegelte sich in den grünen Augen des Earl. »Aber Ihr … Ihr habt um ihre Hand angehalten!«

»Möglicherweise habe ich es mir anders überlegt.«

Wie fühlt es sich an, vollkommen machtlos zu sein, du Mistkerl?

Machtlos wie Graham es gewesen war.

Kein anderer Mann würde Jillian jetzt heiraten. Sie war ein reifer Pfirsich, den ihr Vater sorgsam aufbewahrt hatte, um ihn zu einem exorbitanten Preis zu verkaufen. Aber Graham hatte sich die Frucht genommen, hineingebissen und ihren köstlichen Saft genossen, bevor er sie in die Schale zurücklegte, ohne einen einzigen Penny zu bezahlen.

Er blickte kurz zu Jillian, die stocksteif wie eine hölzerne Statur dastand. Dann sah sie zu ihm auf, und er erkannte, dass sie Tränen in den Augen hatte, die sie wie Edelsteine leuchten ließen. Der Anblick versetzte ihm einen schmerzlichen Stich. Er wollte ihr nicht wehtun.

»Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr Jillian nicht heiraten werdet, Euer Gnaden?«, fragte Stranton.

Das Schweigen war bedrohlich wie die erhobene Klinge eines Krummsäbels. Graham dehnte den Moment in die Länge, während Jillian wieder den Kopf senkte und die Schultern hängen ließ.

»Ich werde sie heiraten, aber weil ich wünsche, sie zu heiraten, nicht aufgrund irgendwelcher Verpflichtungen.«

Stranton war sichtlich erleichtert. »Selbstredend, Euer Gnaden. Wollt Ihr morgen zum Tee kommen, um die Einzelheiten zu besprechen?«

Aha, der Ehevertrag. »Ja.«

Der Earl entspannte sich. Auf einmal fiel Graham ein, wie er seinem ägyptischen Entführer entkommen war. Der Mann hatte geglaubt, Graham leicht beherrschen zu können, weil er nicht als Krieger akzeptiert worden war. Er war unachtsam geworden und … in diesem Moment hatte Graham ihn getötet.

Stranton wurde bereits jetzt unachtsam, und er würde es irgendwann ganz und gar sein. Dann würde Graham zum tödlichen Schlag ausholen. Doch zuerst musste er ihn weiter entwaffnen.

»Ihre Kampagne erscheint mir reizvoll, Stranton. Ich würde gern mehr über Ihre Ideen erfahren.«

Der Earl schien angetan. »Wir könnten morgen beim Tee über meinen Antrag reden.«

»Natürlich«, murmelte Graham. Er sah zu Jillian, nahm ihre zitternde Hand und küsste sie.

»Gute Nacht«, sagte er leise, bevor er Stranton zunickte.

Als er sich umdrehte und ging, war er für einen Augenblick versucht, wieder zurückzugehen und nach seinem ursprünglichen Plan zu verfahren. Es wäre so leicht, ihn zu töten. Stranton zu seinem Schwiegervater zu machen war hingegen hart. Diese Sache wurde weit schwieriger, als er geahnt hatte.

Sehr viel schwieriger. Doch er hoffte, der Lohn würde umso süßer ausfallen.


Auf der Kutschfahrt nach Hause saß Jillian schweigend und regungslos da. Die Strafe würde schnell und treffend ausfallen. So gut kannte sie ihren Vater.

Bei ihrer Ankunft befahl der Earl, dass alle Bediensteten sich im Salon einfanden. Stumme fleißige Geister, die sie waren, standen sie kurz darauf in Reih und Glied vor ihm. Jillian hielt den Atem an, als ihr Vater sprach.

»Ich habe Sie alle hergerufen, um Ihnen mitzuteilen, dass meine Tochter von heute an nicht mehr das Haus verlässt – es sei denn, ich begleite sie, und zwar nur ich, sonst niemand –, bis sie vermählt ist. Die einzige Ausnahme sind ihre täglichen Ausritte im Park mit dem Stallknecht. Sollte ich je erfahren, dass sie ohne mich aus dem Haus gegangen ist, werde ich Sie alle ohne Empfehlung entlassen. Ist das klar?«

Nachdem sie genickt hatten, fuhr er fort: »Meine Tochter ist eine Hure. Sie hat mich heute Abend öffentlich diskreditiert. Ich kann keinen weiteren Skandal riskieren, falls sie beschließt, sich nochmals rufschädigend zu gebärden.«

Er ging auf sie zu. Im nächsten Moment fühlte sie einen kalten Luftzug, als er begann, ihr das Kleid aufzuknöpfen. Dann riss er es ihr von den Schultern. In dem stillen Raum klang das Zerreißen der Seide wie ein Donnerhall. Das ausgeblichene Korsett und abgetragene Hemdchen darunter verbargen kaum ihre vollen Brüste. Dennoch wies ihr Vater sie an, ihr Kleid abzulegen. Jillian fühlte, wie sie von Kopf bis Fuß errötete.

»Von nun an wird meiner Tochter jedwede Kleidung verweigert werden, um sicherzugehen, dass sie mein Haus nicht verlässt. Auch das gilt mit Ausnahme jener Gelegenheiten, bei denen sie mich begleitet oder zu ihrem nachmittäglichen Ausritt im Park aufbricht.« Er sah streng zum Stallmeister. »Sie, Beckett, werden mit ihr ausreiten. Sollten Sie sie aus den Augen verlieren, sind Sie entlassen.«

Der Stallmeister wurde blass und nickte eifrig. Jillian starrte stur geradeaus. Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie biss sich auf die Lippe, um sie zurückzuhalten. Ein winziger Blutstropfen rann über ihr Kinn. Sie hatte sich so fest auf die Lippe gebissen, dass sie blutete.

Ihr Vater sah sie weiter verächtlich an. »Ich will, dass ihre sämtlichen Kleider aus ihrem Zimmer entfernt werden. Aber zuerst …«

Eine entsetzliche Angst überkam sie, als er seinen nächsten Befehl ausgab und die Diener aus dem Salon huschten. Kurz darauf kamen sie wieder. Jillian stand unmittelbar vor dem Zusammenbruch. Oh Gott, bitte nicht …

Die Bediensteten trugen kleine Bücherstapel herbei. Ihre Schätze. Marshall. Eine unbezahlbare Ausgabe von Adams The Economist. Der Earl nahm sie und schritt zum Kamin.

Schließlich öffnete Jillian den Mund. »Vater, bitte nicht …«

Er warf die Bücher eines nach dem anderen hinein.

Das Anstreichen des Zündholzes hallte durch den stillen Raum. Bald züngelte ein Feuer, in dem die Ledereinbände sich zusammenzogen und die papiernen Seiten verbrannten. Genau wie die Bucheinschläge zog sich auch Jillians Herz zusammen. Stumm vor Entsetzen starrte sie ins Feuer. Ihre kostbaren Freunde, sie starben den Flammentod.

»Von nun an wirst du nichts mehr lesen!«, befahl ihr Vater.

Jillian hatte nur noch einen Gedanken. Ich werde nicht vor dem Personal weinen.

Ihr Vater betrachtete sie angeekelt. »Zieh dich in dein Zimmer zurück und denk darüber nach, wie wenig du dich eignest, irgendjemandes Braut zu sein. Und danke Gott, dass der Herzog anbot, dich zu heiraten. Du solltest Seine Gnaden lieber nicht mit deinem geistlosen Geschwätz über Wirtschaft langweilen, sonst überlegt er es sich womöglich anders. Geh! Fortan nimmst du die Mahlzeiten in deinem Zimmer ein. Dein Anblick macht mich krank!«

Jillian schaffte es, die Treppe hinaufzusteigen, auch wenn sie selbst nicht wusste, wie. In ihrem Zimmer legte sie sich in Unterwäsche aufs Bett. Lange Zeit lag sie wie benommen da, während die Bediensteten schweigend hin- und hergingen und ihre Kleider hinausbrachten. Sie weinte nicht.

Sturm der Leidenschaft: Er suchte einen verborgenen Schatz - und fand die Liebe seines Lebens
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