VALERIE MINER
Am Rande des Winters
Die Kirchturmuhr schlug acht. Das Klingeln an der Haustür machte daraus neun. Pünktlich wie immer. Margaret dachte, daß er wohl nach einem Leben voller Gottesdienste so sein müsse. Ein Sonntag ohne Priester ist kein Sonntag. Sie mochte die Aufmerksamkeit, die er ihr und anderen entgegenbrachte. Sie blieb vor Großmutters Spiegel stehen und prüfte ihre Frisur. Schon wieder Zeit für eine Hennatönung - wie ärgerlich. Sie dimmte eine der Lampen herunter. Gut so. Ein schönes, sanftes Licht. Sie versuchte nicht länger, ihre Falten zu verstecken, die Krähenfüße um ihre Augen mochte sie mittlerweile sogar. Auf das dunkle Haar war sie immer noch stolz. Chrissie drängte sie, es >natürlich< zu tragen. Aber was war natürlich an grau? Schließlich hatte sie ihr ganzes Leben lang pechschwarze Haare gehabt.
Er hielt etwas in der Hand. Keine Blumen, wie Margaret bemerkte, sondern eine Flasche.
»Cognac«, sagte er verlegen. »Eine kleine Aufmerksamkeit von einer Hochzeit letzte Woche. Allein trinken macht dumm, also dachte ich mir, ich teile sie mit meiner besten Freundin.« Er küßte sie auf die Wange.
Slocum bellte scharf. Weil Margaret nicht reagierte, trollte sie sich in die Küche und ließ sich behäbig neben ihrem Körbchen niederplumpsen.
Mit anmutiger Geste nahm Margaret die Flasche, erinnerte sich an den Abend der zahlreichen Martinis und beschloß, langsam vorzugehen.
»Ich fürchte«, druckste sie, »ich kann nichts dazu Passendes anbieten.«
»Sie haben die Gläser«, grinste er, »und mich.« Sie bat ihn, sich zu setzen und ging ein wenig genervt in die Küche. Der Abend entwickelte sich für ihren Geschmack zu schnell.
Seine langen, schmalen Finger hielten das Cognacglas wie einen Meßkelch. Seine Baritonstimme klang selbstsicher. Sie konnte die Vertrautheit kaum fassen, konnte kaum glauben, daß sie nicht mehr tagträumend auf der hintersten Kirchenbank saß.
Er erzählte ihr, wie er vor vier Jahren einen Mann davon abgehalten hatte, sich aus dem St. Francis Hotel zu stürzen. Wie er zwölf lange Stunden mit diesem Mann verbracht hatte. Ja, Margaret wußte davon, sie hatte die Geschichte im Chronicle gelesen. Tatsächlich hatte dieses Ereignis sie dazu bewegt, wieder in die Kirche zu gehen. Es interessierte sie nicht besonders, was die Religion im Jenseits für sie tun könne. Es war wichtiger, zuerst die Welt, in der sie jetzt lebte, zu genießen. Und wenn Roger Bentman jemanden ins Leben zurückreden konnte, war seine Kirche richtig für sie.
Slocum schlich leise in den Raum.
Margaret machte es sich auf der Couch bequem und fuhr mit ihren bestrumpften Füßen durch Slocums Fell. Sie betrachtete Rogers Lippen. Sie atmete den süßen, fruchtigen Duft des Cognacs ein und genoß den Klang seiner Stimme.
Plötzlich rückte er näher. »Sie leben so bewußt, so aufmerksam.« Er sah sie an und nahm einen tiefen Schluck.
»Wie bitte?« Sie war gleichzeitig enttäuscht, weil er ihr meditatives Stillschweigen beendet hatte, und erregt durch seine Nähe. Sie mahnte sich, daß er ein Mann der Kirche und daß ihr Verlangen voreilig war.
»Ich betrachte häufig Ihr Gesicht, während ich predige. Sie sind mit Ihren Gedanken immer dabei. Manchmal sind Sie mir sogar voraus.«
»Voraus?« fragte Margaret und stellte ihren Cognac betrübt auf den Tisch. Sie hatte nur ein oder zwei Schlucke getrunken. Sie sah, wie Slocum wieder in die Küche tappte.
»Eine Eingebung.« Er nahm ihre Hand.
Sie empfand so viel Zärtlichkeit. Sie wußte, daß sie sich gleich küssen würden. Sehnsüchtig nahm sie das Lächeln seiner Lippen, das Grau seiner Augen in sich auf. Er setzte das Glas ab und zog sie an sich. Es war wie bei ihrem ersten Kuß, nach dem Theater, und wie bei denen, die folgten. Sanft, süß, sicher. Dennoch war noch etwas Tieferes und Drängenderes hinzugekommen. Sie nahm seinen Schweiß wahr, die Wärme seines Atems, die Entspannung ihres eigenen Körpers. Er umschlang sie fester, und sie legte ihre Arme um seinen Nacken, als sei er ein Rettungsschwimmer, der sie aus der stürmischen See zog.
Ein goldener Strand im Juli. Mom jagt Pop kilometerweit durch die Sonnenschirme, will Sand nach ihm werfen. Pop lacht. Sie und Sylvia sitzen auf ihrem gestreiften Badetuch, sehen zu und verstehen, daß sie in diesen Augenblicken beim Picknickkorb und den Badetaschen bleiben und Eltern spielen müssen, während Mom und Pop durch den Sand laufen.
»Margaret«, schreckte er sie auf. »Margaret, ich liebe dich.« Sie lehnte sich zurück und sah ihm in die Augen.
»Seit Florence dahingegangen ist«, flüsterte er, »ich meine, seit ich ihren Tod überwunden habe, bist nur du in meinen Gedanken, deine Aufmerksamkeit im Gottesdienst, deine Heiterkeit im Geschäft - ich...«
Margaret beugte sich vor und küßte ihn, zum Teil, weil sie ihn begehrte, zum Teil, weil sie Angst davor hatte, mehr zu hören. Ein Mann der Kirche. Der Körper eines Mannes.
Sie hielten sich lange umschlungen, küßten sich, wiegten sich hin und her, blickten sich schüchtern, erstaunt und hungrig an.
»Liebes«, murmelte Roger. Er nahm ihre Hand, führte sie von der Couch fort. Er schaffte es, das Wandbett so flink auszuklappen, daß sie später begriff: Er mußte diese Begegnung schon seit Wochen geplant haben.
Geschickt knöpfte er ihre gelbe Bluse auf. Sie erinnerte sich an den Sex mit sechzehn - Herumfummeln, Atemlosigkeit, Schuldgefühle, Eile -, und sie war froh, siebzig Jahre alt zu sein. Dieser Mann hatte erotische Reife, sanft ließ er seine Hand über ihr kunstseidenes Unterhemd gleiten, bis ihre Brustwarzen hart wurden; vorsichtig schob er den Rock hoch und griff zwischen ihre Schenkel, um ihre Feuchtigkeit zu finden, dann lehnte er sich zurück, damit sie sein Hemd aufknöpfen, die grauen Haare auf seiner Brust küssen, ihre Hand unter seinem Hosenbund gleiten lassen und die zärtliche Härte, die für sie gewachsen war, berühren konnte. Sie wünschte sich, es möge hier enden. Der Anfang, das Versprechen, war ihr am liebsten gewesen.
Er hörte nicht auf, sie zu überraschen, zerrte mit den Zähnen den Träger ihres Unterhemds herunter und berührte ihre Brustwarzen zuerst mit der Zunge. Sanft beißend, leckend, beißend, leckend, beißend, leckbeißleckbeiß in einem Rhythmus, der sie in jubelnde Höhen zu tragen schien. Sie reckte sich vor Wonne und kam nicht dazu, wegen der Falten an ihrem Körper in Verlegenheit zu geraten. Wieder ganz zärtlich zog er ihr das Unterhemd über den Kopf und den Slip aus. Sie griff nach unten, um ihn zu streicheln und bemerkte, daß er sich aus seinen Kleidern geschält hatte wie eine Eidechse aus der nutzlos gewordenen alten Haut. Sie lagen nebeneinander, berührten und streichelten sich.
Kreise. Runde, feuchte Kreise auf ihrem Bauch. Der Bauch von Janey und Rob und Michael. Sie vergaß oft, daß es auch ihr Bauch war. Rund und rund und rund und rund und nach unten, bis er mit seiner Zunge in ihr war, seiner nassen hungrigen Zunge, die tief in ihren Körper drang, während sein Daumen auf ihrer Klitoris musizierte. Ja, dieser Mann war voller Fürsorge. Und kühner, als sie zu hoffen gewagt hätte. Die knisternde Spannung erstaunte sie, und wie in elektrischen Stößen kamen die Erschütterungen - eins, zwei, drei -, wie das letzte Erdbeben. Er küßte sie voll auf die Schamlippen.
Sie zog ihn auf sich. Er drang in sie ein - oh, der
Genuß - und sie wiegten einander jeden zu seinem Höhepunkt.
Danach (wieviel Zeit war inzwischen vergangen? Unmöglich, es mit einem Blick nach draußen zu erraten. Die Nächte in der Stadt wurden von Neonlichtern und Autohupen gestohlen. Hatte sie geschlafen? Hatte er geschlafen?), irgendwann danach, drehte er sich zu ihr und sagte: »Ich liebe dich, Margaret.« Sie sah ihm in die Augen und nickte, sah ihn in Schlaf fallen und fragte sich, wann sie ihm würde antworten müssen.