AMBER COVERDALE SUMRALL
Der Zeitungsjunge
Jeden Donnerstag nachmittag warte ich am Fenster auf Peter, der an unserem Haus vorbeifährt. Einmal wöchentlich liefert er auf einem Fahrrad, das ihm schon seit zwei Jahren zu klein ist, den Lokalanzeiger aus. Peter ist Flüchtling aus Budapest; seine Familie floh aus Ungarn, als die Kommunisten die Macht übernahmen.
Peter trägt einen Schnurrbart, so zart wie ein Schatten, und langes kastanienbraunes Haar, das ihm auf der einen Seite ins Gesicht fällt. Alle anderen Jungs in der neunten Klasse haben einen Bürstenschnitt. Peter wirft sein Haar zurück wie ein Pferd, das seine Mähne schüttelt.
Ich will auf ihm reiten.
Ich will, daß er auf mir reitet - so wie es mein Bruder manchmal tut. Ich liege auf dem Boden, und Patrick sitzt auf mir drauf und hüpft auf und ab. Wir tun so, als spielten wir Cowboy und Pferd.
Ich will, daß Peter mich so reitet.
Meine Freundinnen finden Peter unscheinbar. Unscheinbar und merkwürdig. Ich sage ihnen nicht, wie sehr ich mir wünsche, daß er mich berührt. Sie würden mich noch merkwürdiger finden als ihn. Peter spielt Geige und ist sehr gut in der Schule. Die Normen sagen, er sei ein Genie. Er hat keine Freunde und ist meist allein.
Peter hat sechs Geschwister. Mit dem Zeitungsaustragen unterstützt er seine Familie. Sie wohnen in einem heruntergekommenen Haus mit zwei Schlafzimmern in der Nähe meiner Freundin Lynn. Ich fahre ständig mit dem Fahrrad zu ihr, weil ich hoffe, Peter zu sehen. Aber er ist nie draußen. Ich weiß, daß er für Nachbarkinder den Babysitter macht. Dies ist ein Grund, weshalb ihn alle merkwürdig finden. Besonders die Jungs: sie nennen ihn einen Waschlappen.
Wenn er in meiner Nähe ist, reißt es mich in der Mitte durch. In der Schule bringe ich es nicht fertig, mit ihm zu sprechen; die Worte kommen über meine Lippen wie eine fremde Sprache oder überhaupt nicht. Wenn er mich zufällig anschaut, kann ich kaum atmen. Manchmal starre ich so intensiv auf seinen Hinterkopf, daß ich glaube, wir müßten beide in Flammen aufgehen, zu flammenden Zungen werden wie der Heilige Geist.
Ich will seine Hand nehmen und ihn in das hohe Gras hinter dem Schulhof führen. Ich will meine Bluse aufknöpfen und ihm meinen Busen zeigen. Ich will das Gewicht seines schlanken Körpers spüren, der mich zu Boden drückt. Ich kann mich nicht mehr auf die Schule oder meine Hausaufgaben konzentrieren. Überall schreibe ich seinen Namen hin: in meinen Ordner, meine Bücher, auf meine Schuhsohlen.
Ich glaube, ich werde sterben, wenn ich ihn nicht berühren kann.
Letzten Monat bin ich donnerstags früher nach Hause gekommen, damit ich am Fenster sein konnte, wenn Peter vorbeifuhr. Den Rest des Nachmittags habe ich mit Tagträumereien (wie Ma es nennt) in meinem Zimmer verbracht. Wenn sie mich zum Tischdecken herunterruft, bewege ich mich wie in Trance.
Aber heute bin ich noch früher zu Hause. Ich habe weder ein Eis gegessen noch mit Jeanie und Sheryl die neueste Ausgabe von Seventeen angeschaut und ihnen gesagt, ich müßte im Haus helfen.
Ich ziehe meine weißen Shorts und die apricotfarbene Bluse an. Ich knöpfe die ersten beiden Knöpfe auf, aber mein BH blitzt hervor, also ziehe ich ihn aus. Das ist wahrscheinlich eine Todsünde, aber wen stört’s, solange Ma es nicht merkt. Ich bürste meine Haare, kämme sie zu einem Pferdeschwanz und binde ein Seidenband darum. Ma bleibt der Mund offen stehen, als ich sage, daß ich im Vorgarten Unkraut jäten will.
»In diesem Aufzug?« fragt sie. »Junges Fräulein, wenn du diese neuen Shorts schmutzig machst, kaufe ich dir keine neuen.« Sie sieht mich seltsam an. Ich mache einen runden Rücken und halte den Atem an.
»Ich hoffe doch, daß du nicht Butch Willies zuliebe so angezogen bist.«
Butch ist das Ekel von gegenüber. Er ist drei Jahre älter als ich und der Rabauke unseres Viertels. Am Samstag vormittag läßt er immer seine lange Büffelpeitsche auf der Straße knallen. Die jüngeren Kinder trauen sich dann nicht raus. Dauernd piesackt er meinen Bruder. Ich hasse ihn! Einmal, als er meinen Bruder zum Weinen gebracht hat, habe ich all seine Vögel, die er im Hinterhof hält, aus ihren Käfigen befreit.
»Oh, Ma, wirklich«, sage ich. »Ich kann Butch Willies nicht ausstehen. Er ist zum Kotzen.«
Sie sagt, ich soll nicht solche Wörter in den Mund nehmen.
»Nun, ihm geht es offenbar mit dir ganz anders«, bemerkt sie. »Marge glaubt, daß er in dich verliebt ist. Er schreibt deinen Namen überall in seinem Zimmer an die Wand.«
»Das ist ja widerlich, Ma. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich nur an ihn denke.« Ich schüttele mich und verschwinde aus der Küche, bevor sie wieder von meinen weißen Shorts anfängt.
Im Badezimmer schnappe ich mir ihren Lippenstift und male mir die Lippen an, bis sie aussehen wie meine Bluse. Wenn ich doch so hübsch wäre wie Ann, die zwei Stockwerke unter uns wohnt und Cheerleader ist! Sie ist zwar so alt wie ich, hat aber schon viel Busen und runde Hüften, letztes Jahr hat sie gesehen, wie ich geheult habe, als Ma mir meine langen Haare abschneiden ließ. Anns Haar fällt bis zur Taille.
Es ist nach vier, also hole ich eine Kiste und setze mich mit der Hacke in den Vorgarten. Zehn Minuten später kommt Peter um die Ecke. Sofort fange ich an zu zittern und versuche so zu tun, als wäre er mir völlig gleichgültig. Suzi sagt, daß Jungs darauf stehen. Es zieht sie an wie die Fliegen, sagt sie.
Mir ist schwindlig. Ich stehe auf, gehe zur Einfahrt und tue so, als würde ich Unkraut zupfen. Peter wirft eine Zeitung auf die Veranda der Nachbarn und dann... o mein Gott... hält er genau vor mir an.
»Oh... hallo«, sage ich so lässig wie möglich. Er gibt mir unsere Zeitung und lächelt: ein zögerndes, etwas schiefes Lächeln, das mir tief in die Knochen dringt. Ich vergesse zu atmen, hoffentlich werde ich nicht ohnmächtig, wie Beatrice Moore jeden Sonntag in der Messe. Meine sorgfältig einstudierten Worte lösen sich in Luft auf, wie Antworten vor einer Klassenarbeit, und ich platze heraus... »Ich will dich.«
Meine Hände fliegen an meinen Mund. Peter zwinkert. »Du willst mich... was fragen?« Seine Augen kleben auf meinem Gesicht.
»Ich, ich... wollte dich fragen, ob du mir nicht bei Mathe helfen kannst«, sage ich und bete, daß er mir glaubt.
»Ich bezahle auch. Meine Mutter sagt, ich brauche Nachhilfe.«
»Ich kann nicht«, sagt er freundlich. »Ich habe keine Zeit. Wenn ich nicht in der Schule bin, arbeite ich oder helfe zu Hause aus.«
»Aber das ist doch auch Arbeit.«
Ich werde vor ihm auf meine Knie fallen, ihn anflehen, seine Füße waschen, tun, was immer er befiehlt. Alles!
Er sieht mich an, als könne er in meine Seele blicken. Vielleicht ist er ein Heiliger. Das würde erklären, warum ich ihn so toll finde.
»Nein, ich kann dir wirklich nicht helfen«, sagt Peter. »Tut mir leid.«
Ich kann mich nicht bewegen, bin wie gelähmt durch seine Zurückweisung. Wie kann er mir das antun? Nicht, daß er der am besten aussehende oder beliebteste Junge unserer Klasse wäre. Weit gefehlt!
Ich will ihn verletzen.
»Spielst du eigentlich irgendwann mal, Peter?« Ich mache mich über ihn lustig, in meinem sarkastischsten Tonfall.
Er rutscht auf seinem Fahrrad hin und her; sein Gesicht wird dunkel. O mein Gott, ich habe ihm wehgetan. O Gott, mach, daß er mir vergibt.
»Ich habe keine Zeit zum Spielen«, sagt er. »Ich studiere klassische Musik und später werde ich Musiker.« Peter blickt mich an, dann streckt er plötzlich die Hand aus und berührt mein Gesicht.
»Ich muß jetzt gehen.« Er stößt sich vom Bordstein ab.
In mir brodeln so viele Gefühle, daß ich nicht weiß, was ich sagen oder machen soll. Ich kann bloß dastehen. Ich möchte hinterherlaufen und rufen: >Peter, ich liebe dich. Es tut mir leid.< Aber ich glaube, irgendwie weiß er das schon.
Ich betrachte seine Beine, die auf und ab treten. Die Zeitungen fliegen aus seiner Hand. Er dreht sich um und lächelt noch einmal. Dann ist er verschwunden.