Kapitel 8
Über Nacht entwickelte ich einen Plan. Stundenlang lag ich wach, ich war mir nicht sicher, ob ich überhaupt ein Auge zubekommen hatte. Morgens überlegte ich, ob ich die dunklen Ringe unter den Augen überschminken sollte, doch mit den Schatten unter den Augen würde ich die richtige Wirkung aus Mitleid und Sorge erzielen – genau die Mischung, die ich für mein Vorhaben benötigte.
Das Frühstück schlang ich hinunter und war noch vor meiner Mutter außer Haus. Corinna hatte erst zur zweiten Stunde und schlief noch, als ich ging. Das konnte mir nur recht sein. Sie hätte nur Fragen gestellt, die ich nicht beantworten wollte.
Bevor ich die Tür hinter mir zuwarf, rief mir meine Mutter nach: »Ich komme heute Abend erst spät nach Hause.«
Aha! Und? Wollte sie sich jetzt schon unter der Woche zulaufen lassen? Die alte, vernünftige Theresa hätte umgedreht und nachgefragt. Sie hätte sich Sorgen gemacht, was am nächsten Tag wäre, wenn Mutter nicht zur Arbeit erscheinen würde. Sie hätte versucht, Mutter davon abzubringen. Es reichten schon die Eskapaden am Wochenende, doch die alte Theresa war irgendwo gut versteckt in mir. Deshalb zog ich einfach die Wohnungstür hinter mir zu. Ich hatte andere Sorgen, als mich auch noch um meine Mutter zu kümmern.
Auch wenn ich eine halbe Stunde zu früh dran war, standen bereits einige Jugendliche vor dem Gymnasium. Ich erkannte zwei aus der Stufe unter uns und einige viel jüngere Schüler, die hinter den Sträuchern kichernd Zigaretten rauchten. So was von unauffällig!
Unschlüssig stand ich vor dem Aufgang des Gebäudes, steckte meine Hände tief in die Jackentasche und wartete. Hoffentlich ließ er sich nicht zu lange Zeit.
Immer mehr Schüler kamen an, in Gruppen oder alleine, zu Fuß oder in Scharen mit dem Schulbus. Ich starrte stur in die Richtung, aus der Leon kommen würde. Und wenn er nicht auftauchte? Er musste einfach kommen. Mir wurde klar, dass ich so gut wie nichts über ihn wusste – aber das würde ich ändern.
Als ich schon das Gefühl hatte, mir würden Eiszapfen aus meinen Nasenlöchern wachsen, sah ich Leons hochgewachsene, schlaksige Gestalt. Diesmal war das Humpeln kaum zu sehen und ich überlegte, ob es daran lag, dass Leon ausgeruht war. Er hatte eine angenehme Nacht verbracht, im Gegensatz zu mir. Schon deshalb hasste ich ihn.
Komm schon, motivierte ich mich. Tu es!
Ich machte einen Schritt auf ihn zu und bemerkte seinen überraschten Gesichtsausdruck.
»Theresa, was willst du? Mich wieder beschimpfen?« Seine Stimme klang halb so abweisend wie die Worte, die er sagte. Ich fühlte, wie ich rot wurde, und ärgerte mich über mich selbst. Schließlich hatte ich ihm nichts getan, nur die Wahrheit gesagt. Ich setzte ein zaghaftes Lächeln auf und hoffte, dass es nicht zu gespielt wirkte. Zuerst musste ich sein Vertrauen gewinnen, sah mein Plan vor.
»Nun, also – eigentlich wollte ich mich bei dir entschuldigen«, stieß ich hervor.
Leon hob die Brauen und ich hatte das Gefühl, seine Augen würden mich auslachen, während er sonst keine Miene verzog. »Schon gut«, sagte er und schickte sich an weiterzugehen. Ich lief ihm nach und gesellte mich an seine Seite, was mir erneut einen überraschten Blick von ihm einbrachte.
»Nein, ehrlich, es tut mir leid. Es ist nur so, dass Julia und ich …«
»Ja, die Zwillinge. Ich kann mir vorstellen, dass du durch den Wind bist. Noch einmal: Ist schon okay – und wenn du wieder das Bedürfnis hast, jemanden zu beschimpfen oder anzuschreien, dann wende dich vertrauensvoll an mich. Ich halte das aus.«
Ich versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Trotz seiner Beinverletzung war er schneller als ich.
Wenn mir nicht bald etwas einfiel, wäre die Gelegenheit vorbei. »Warte«, rief ich, weil er mir schon wieder einen halben Meter voraus war.
Er blieb stehen und drehte sich zu mir um. »Ehrlich, ich habe dir alles gesagt, was ich weiß. Ich würde dir wirklich gerne helfen. Also, wenn du wen zum Reden brauchst …«
»Nein, also … vielleicht ein anderes Mal …« In dem Moment hörte ich die Glocke schrillen, die den Unterricht einläutete. »Mist! Sorry, hab den Müller in der ersten Stunde, muss los. Bis später, ja?« Ich sprintete los und drehte mich noch mal zu Leon um, der nur stumm die Hand hob.
Super! Ich musste noch zum Spind, meine Jacke einschließen und Bücher holen, und bis ich mit den Schulsachen im Klassenraum war, wäre der Müller schon da.
Ich hatte Glück. Ich flitzte gerade mit meinen Büchern durch die Klassentür, als mein Englischlehrer schnaufend die letzte Stufe zum ersten Stock, wo unser Klassenzimmer lag, erklomm.
»Good morning!«, dröhnte er gleich darauf mit sonorer Stimme. Viel mehr bekam ich von seiner Stunde nicht mit, weil ich mir darüber den Kopf zerbrach, wie ich Leon möglichst unauffällig dazu bekam, mit mir heute Nachmittag nach der Schule ins Grätzel zu gehen.
Ich überstand nach Müllers Englisch noch Geschichte, zwei Stunden Sport, bei denen ich auf der Bank saß und Menstruationsbeschwerden vortäuschte, und Biologie. Wenigstens war die letzte Stunde interessant und lenkte mich ein wenig ab, weil Steinmengers Unterricht immer total lässig ist.
Danach hatten wir Mittagspause. Schon mit Julia hatte ich die Mittagspausen nicht im Schulgebäude verbracht, die Cafeteria war grauenhaft – wenig Auswahl, ungesund und viel zu teuer. Stattdessen gingen wir meist in den nächsten Supermarkt und kauften uns was. Manchmal, wenn wir zwei Stunden freihatten, gingen wir zu Julia nach Hause. Ihre Mutter hatte dann immer etwas vorbereitet, was man aufwärmen konnte. Hin und wieder kochte ich für uns – wenigstens da hatte ich Julia gegenüber einen Vorteil. Sie konnte nämlich nicht mal die einfachsten Sachen zubereiten, ich schon. Tja, das hatte ich meiner völlig instabilen Mutter zu verdanken, die häufig zu besoffen war, um meine Schwester und mich zu versorgen, und daher musste ich was Essbares zaubern, wenn wir nicht verhungern wollten. Keine Medaille ohne zwei Seiten.
Ich würde nie wieder mit Julia zum Supermarkt gehen. Ich würde auch nie mehr bei den Mechats kochen. Hilflos lehnte ich mich an die Mauer des Schulgebäudes und versuchte, die Tränen runterzuschlucken. Nicht hier auf dem Schulhof heulen, vor allen anderen! Schon jetzt hatte ich den Eindruck, dass Claudia, die Obertusse und ihre Freundinnen, immer wieder zu mir rübersahen und über mich tuschelten. Doch ich hatte keine Kraft mehr, sollten sie doch denken, was sie wollten.
Da spürte ich, wie jemand mich leicht am Arm berührte. Ich wischte mir mit meinem Jackenärmel mein Gesicht ab und sah aus verquollenen Augen, dass Leon neben mir stand. Wortlos hielt er mir eine Packung Taschentücher hin.
»Danke«, sagte ich und meinte es ehrlich. Ich nahm ein Taschentuch aus der Verpackung und wollte ihm den Rest zurückgeben, doch er wehrte ab. »Behalt sie ruhig! Mein Angebot steht noch.« Ich sah ihn fragend an. Welches Angebot?
»Falls du wen zum Reden brauchst …«, beantwortete er mir meine unausgesprochene Frage.
Ich putzte mir meine Nase. »Schon okay. Ich komme klar.« Leon zuckte mit den Schultern. Dann ließ er mich stehen, während ich ihm nachsah, bis er aus meinem Blickfeld verschwand.
Ich ärgerte mich. Erreicht hatte ich gar nichts, außer dass alle mich beim Heulen gesehen hatten und ich Leon dankbar für die Taschentücher sein musste. Ausgerechnet ihm. Eigentlich ist er ganz nett, wagte ein ganz kleiner Teil meines Gehirns zuzugeben. Diesen Gedanken schob ich sofort ganz weit von mir. Das ist Leon. Der vielleicht sogar etwas mit Julias Tod zu tun hat! Grimmig warf ich die Taschentücher in den nächsten Mülleimer und ging ins Schulgebäude zurück. Um mich von meinem Vorhaben abzuhalten, bedurfte es mehr als ein paar Taschentücher. Leon, mach dich schon mal auf was gefasst!
Ausgerechnet die Taschentücher waren mein Vorwand, Leon nach der Schule im Grätzel anzusprechen. Ungefragt setzte ich mich an seinen Tisch und legte eine neue Packung vor ihn hin. Erst da sah er von seinem Buch auf. »Das wäre nicht notwendig gewesen.«
»Doch. Für mich schon. Ich mache nicht gern Schulden, auch wenn es bloß Taschentücher sind.« Ich deutete auf das Buch. »Was liest du da?« Leon seufzte. Er sah so aus, als wolle er sich lieber wieder in seine Lektüre vertiefen, anstatt mit mir zu reden. Tja, Pech gehabt, so schnell würde er mich jetzt nicht mehr loswerden. Nach meinen missratenen Versuchen am Vormittag musste ich mich jetzt ranhalten.
»Du liest viel, nicht wahr?«, fragte ich weiter, ohne seine Antwort auf meine erste Frage abzuwarten. Innerlich schüttelte ich mich. Wenn ich mir selbst zuhörte, klang ich wie eine nervige, aufdringliche … wie Claudia halt klingt, wenn sie sich an einen Jungen ranmacht. Aber wenn’s sein musste, dann würde ich diese Rolle spielen. Hauptsache, ich drang irgendwie zu Leon durch.
»Ja, am liebsten Krimis und Thriller. Dan Brown, Mo Hayder, Stieg Larsson, Simon Beckett …«, sagte er und drehte das Buch in meine Richtung, damit ich das Cover sehen konnte.
»Ich seh mir Krimis lieber an. CSI ist meine Lieblingssendung.«
Irgendein gescheiter Mensch hatte mal gesagt, wenn man seine Feinde nicht besiegen kann, solle man sich mit ihnen verbünden. Genau das würde ich tun. Ich würde mich mit Leon anfreunden. Irgendwann würde er mir vertrauen und dann würde ich erfahren, was ich von ihm wissen wollte. Den schalen Geschmack, der sich in meinem Mund auszubreiten drohte, spülte ich mit der Cola weg, die ich für mich und für Leon als Dankeschön für die Taschentücher bestellt hatte.
Ich gab mir einen Ruck, mit der Smalltalkmasche würde ich nicht weit kommen. Leon hatte mir ja angeboten, dass wir reden könnten. Gut, dann würden wir eben reden.
»Dir ist Julias Tod auch nicht egal, oder? Ich hatte den Eindruck, du magst sie«, fing ich an. Leon stellte sein Glas auf den Tisch und sah mich an. Mir fiel auf, dass er bernsteinfarbene Sprenkel in den ansonsten fast haselnussbraunen Augen hatte.
»Natürlich lässt mich ihr Tod nicht kalt und ja, sie war eine Freundin. Nicht so, wie du vielleicht denkst. Es ist … ich glaube, der Tod Melissas hat uns irgendwie miteinander verbunden.«
»Wie kam es überhaupt dazu, dass du gerade am Fundort warst? Ist doch ein riesengroßer Zufall gewesen.«
Leon seufzte. »Wahrscheinlich glaubst du mir eh nicht. Aber es war wirklich Zufall. Mein Bein tat weh. Da hilft Bewegung am besten, also ging ich raus, die Felder entlang. Es schneite wie verrückt, sodass man kaum was sehen konnte. Plötzlich rennt mich Julia fast um.« Leons Blick war nach innen gerichtet, als würde er alles noch einmal erleben.
»Sie war total aufgelöst. Ich musste sie erst mal beruhigen, damit ich überhaupt verstand, was los war. Ich habe dann die Polizei und später ihre Mutter angerufen. Weil sie sich nicht traute, noch einmal zu der Leiche zurückzugehen, um den Beamten den genauen Fundort zu zeigen, hab ich sie begleitet und danach hab ich auf Frau Mechat gewartet, weil ich Julia doch nicht mit zwei Fremden allein lassen konnte.«
Leon, der Ritter auf dem weißen Ross, dass ich nicht lachte! Ich nahm ihm die Geschichte nicht ab. Zumindest nicht, dass er zufällig dort gewesen war.
»Und seitdem wart ihr so was wie Freunde«, beendete ich seine Erzählung.
»Ja. So ein Erlebnis schweißt einen zusammen.«
»Dann hat sie dir vielleicht auch von ihren Ängsten erzählt? Davon, dass sie sich beobachtet fühlte?«
Beobachtet von dir, fügte ich in Gedanken hinzu.
Leon nickte. »Dass sie Angst hatte, das hat man ihr ja angemerkt. Nur wovor, wollte sie nicht sagen.« Leon nahm einen Schluck von seiner Cola und sah mich an. »Du hast mir vorgeworfen, dass ich Julia verfolgt hätte. Das stimmt nicht. Nicht so. Ich habe nur auf sie aufgepasst. Man weiß ja nie. Und ich fühlte mich irgendwie verantwortlich für sie, seit … na ja, du weißt schon.«
Ich hatte also recht gehabt! Auch wenn er mir weismachen wollte, dass er gute Gründe dafür hatte. Pah! Als ob das was ändern würde!
»Aber es hat nichts geholfen, nicht wahr? Sie ist trotzdem tot«, sagte ich.
Leons Stimme klang belegt, als er sagte. »Ja. Sie ist tot. Und das werde ich mir nie verzeihen.«
1. Februar 2012
In den letzten Tagen habe ich mich mit einigen Leuten unterhalten, die Melissa kannten. Ich fand, das sei der beste Weg, etwas über sie herauszufinden. Dafür bin ich extra mit der Bahn nach Tiezen zu Melissa nach Hause gefahren, obwohl es eine große Überwindung für mich war. Es fällt mir seit dem Tag schwer, Dinge allein zu tun. Was wäre, wenn ich wieder eine Angstattacke hätte? Wenn dann niemand da ist, der mich beruhigt, so wie Tessa?
Bei Melissas Eltern gab ich mich als ehemalige Schulkameradin aus, was ja nicht mal gelogen war. Ich sah mir alte Fotoalben an, trank Kaffee und schwindelte den beiden vor, ich hätte Melissa in Kleinhardstetten zufällig beim Arzt getroffen. Nun hätte ich von ihrem Tod erfahren und wollte persönlich mein Beileid aussprechen. Die beiden sahen sich überrascht an. Frau Schikol fragte: »Aber warum sollte Melissa nach Kleinhardstetten zum Arzt fahren? Wir haben doch hier in Tiezen einen. Zu dem ist sie ja sonst auch immer gegangen.« Sie hatten also keine Ahnung davon, dass Melissa bei meinem Vater gewesen war. Das bestätigte mein schlechtes Gefühl, was Melissa und meinen Vater anging, noch mehr. Genau die gleiche Frage habe ich mir auch schon gestellt. Aber weil ich darauf keine Antwort weiß, murmelte ich was von »persönlicher Sympathie« und dass Melissa wohl ihre Gründe dafür gehabt hatte.
Ich bin mir sicher, dass es ihnen guttat, über Melissa zu sprechen, und trotzdem kam ich mir so schäbig vor wie noch nie in meinem Leben. Die Schikols erzählten mir, Melissa sei eine Musterschülerin gewesen, es hätte keine großen Probleme mit ihr gegeben. Sie beschrieben ihre Tochter als sehr ernst. Auf meine Frage, ob sie denn einen Freund gehabt hätte, guckten sich die beiden an und zuckten nur ratlos die Schultern. Dann meinte Frau Schikol, Melissa sei in der Hinsicht eher zurückhaltend gewesen, hätte nie jemanden erwähnt. Wenn sie nicht mal von einem Freund wussten, hatte Melissa ihnen auch bestimmt nicht von ihrer Schwangerschaft erzählt. Ich fand es furchtbar traurig, dass die beiden erst von der Polizei davon erfahren mussten. Andererseits wunderte es mich nicht. Sie machten auf mich einen echt spießigen Eindruck. Bestimmt hatten sie von ihrer Tochter verlangt, als Jungfrau in die Ehe zu gehen. Sogar auf den Fotos sah Melissa wie eine Nonne in Zivil aus.
Immerhin konnten sie mir mit den Namen von Melissas wenigen Freundinnen weiterhelfen, die ich nach den Schikols besuchte.
Auch in der Schule fragte ich herum, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass keiner sie näher gekannt hat. Doch überall hieß es, Melissa sei eine kleine graue Maus gewesen, die sich nur für die Schule und für die Kirche interessierte, bei der sie ehrenamtlich gearbeitet hatte. Melissa, eine Heilige? Wohl eher ein gefallener Engel!
Gestern Nachmittag erzählte mir Mama, dass die Ermittlungen eingestellt werden, nachdem der Gerichtsmediziner als Todesursache »Erfrieren« festgestellt hat. Melissa hatte ihr Handy dabei. Sie hätte jederzeit Hilfe rufen können, doch das hatte sie nicht getan. Es gab auch sonst keine Anzeichen für eine Verletzung, die sie daran gehindert hätte, vom eiskalten Boden aufzustehen, keine Krankheit, die der Arzt feststellen konnte. Jetzt, wenn ich mir ihr Bild heraufbeschwöre, fällt mir auf, dass sie dagelegen war, als schliefe sie. Als hätte sie sich einfach in den Schnee gelegt wie in ein Bett – nur dass sie aus ihrem Schlaf nie wieder erwacht war.
Ein Unfall war es nicht, so viel steht fest. Im Grunde hat sie sich und ihr ungeborenes Kind getötet – so viel zu ihrer religiösen Haltung.
Gestern Abend sprach ich Papa auf Melissa an. Vorsichtig, versteht sich. Ehrlich, er zeigte nicht mal den Anflug eines schlechten Gewissens, als er meinte, er könne mit mir grundsätzlich nicht über seine Patienten sprechen. Also hab ich was Neues über meinen Vater erfahren: Er ist ein richtig guter Schauspieler! Später hörte ich, wie er zu meiner Mutter sagte, er sei erleichtert, dass ich nun anfing, über Melissa zu reden, das sei der erste Schritt, mein Trauma zu verarbeiten. Er klang etwas besorgt, aber auch ehrlich erleichtert. Wann hat er gelernt, sich so zu verstellen? Oder ist sein ganzes Leben mit Mama und mir eine einzige Lüge gewesen?
Ja, ich habe ein Trauma. Nicht, weil ich über eine Leiche gestolpert bin. Auch nicht, weil die Tote ein Mädchen war, das ich kannte – sondern, weil ich jemand viel Wichtigeren verloren habe: meinen Vater, dem ich vertraut hatte, bis er meine Mutter betrog. Eine Zeit lang, nach dem großen Streit zwischen ihm und meiner Mutter, sah es so aus, als wäre alles wie früher. Hatte er es wieder getan? War er ein Ehebrecher? Hatte sich Melissa seinetwegen das Leben genommen?
Wie gut ich plötzlich Tessa verstehe, die nicht mal den Namen ihres Vaters weiß. Und ich frage mich, ob sie es nicht sogar besser erwischt hat. Wenn man etwas nicht kennt, hat man auch keine Ahnung, was man versäumt. Ich fühle eine große Leere in mir. Egal wie die Sache ausgeht, es wird nie mehr wie früher sein, bevor ich Melissa mit Papa gesehen, ehe ich seine Handschuhe entdeckt habe.