Kapitel 14
Mit der Jacke in der Hand flüchtete ich aus Leons Wohnung. Fast wäre ich über meine eigenen Füße gestolpert. Gerade noch fing ich mich. Erst jetzt bemerkte ich die Tränen auf meinen Wangen. Kein Wunder, dass ich halb blind durch die Gegend stolperte. Kälte drang durch meinen dünnen Pulli. Doch selbst nachdem ich in die Jacke geschlüpft und meine Schuhe ordentlich zugebunden hatte, wurde mir nicht wärmer.
Planlos stapfte ich durch die Gegend, einfach um in Bewegung zu bleiben. Wie konnte ich so dumm sein? Gerade, als Leon anfing, mich zu mögen. Mir zu vertrauen.
Das Laufen brachte mich wieder ein wenig runter. Ich ärgerte mich, weil ich nicht cool geblieben war. Warum hatte ich auch weglaufen müssen? Schließlich hatte ich keinen Grund für ein schlechtes Gewissen. Es war richtig gewesen, Karin Zauner zu bitten, ihm auf den Zahn zu fühlen. Es war aber nicht richtig gewesen, ihm was vorzumachen, flüsterte eine leise Stimme in mir. Widerwillig gestand ich mir ein, dass die Stimme recht hatte. Wenn ich ehrlich war, hatte Leon jeden Grund, sauer auf mich zu sein. Was hatte ich dumme Kuh denn erwartet? Dass er zu mir sagte: »Kein Problem, dass du mich verdächtigst, mir die Polizei auf den Hals hetzt und dich unter einem Vorwand in meine Wohnung schleichst«?
Sein verletzter Gesichtsausdruck fiel mir ein. Auch wenn Jungs für mich ein Buch nicht mit sieben, sondern eher doppelt so vielen Siegeln waren, hatte ich neben seinem Ärger noch etwas anderes erkannt: Leon war enttäuscht. Furchtbar enttäuscht. Von mir.
Ich wischte mir über die Augen. Saublöde Kälte.
Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, etwas zu tun, das ich noch nie getan hatte: Ich schrie. Die wenigen Passanten drehten sich nach mir um und schüttelten den Kopf, doch das war mir egal. Seltsamerweise fühlte ich mich dadurch ein kleines bisschen besser. Gleichzeitig wusste ich, dass dieser Zustand nur kurz anhalten würde. Ich wollte nur noch nach Hause. Vielleicht würde laute Musik helfen, Leons Gesichtsausdruck aus meinem Kopf zu fegen.
Meine Mutter war zu Hause und hatte es sich mit einem Buch auf dem Sofa bequem gemacht. Ich war zu Fuß gegangen und meine Wangen und Finger begannen zu brennen, als ich in unsere geheizte Wohnung kam.
»Schon zurück?«, fragte meine Mutter überflüssigerweise. Schließlich sah sie doch, dass ich da war. Ich nickte nur. Sie legte das Buch aufgeschlagen zur Seite und setzte sich auf. »Wie war’s denn? Wie geht es Julias Eltern?«
»Wie soll es ihnen schon gehen«, antwortete ich patzig, aber sofort regte sich mein schlechtes Gewissen. »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich bin nur … durcheinander.« Mit einem Seufzer ließ ich mich neben meine Mutter auf die Couch sinken. »Die Mechats sind so nett zu mir. Ich meine, das waren sie vorher auch, aber da war ich Julias Freundin. Doch jetzt? Sie haben keinen Grund, überhaupt mit mir zu reden, geschweige denn, mich einzuladen. Trotzdem tun sie es. Ich habe Fotos auf Julias Rechner gefunden. Von mir. Alte Fotos. Von manchen wusste ich gar nicht, dass es sie gibt und wann Julia sie gemacht hat.«
»Willst du sie mir zeigen?«
Ja, das wollte ich tatsächlich. Ich stand auf, um sie aus meiner Jackentasche zu holen.
Als ich mich das zweite Mal neben meine Mutter setzte, schien es mir ganz selbstverständlich, mich an ihre Schulter zu lehnen. Sie zögerte nur kurz, bevor sie ihren Arm um mich legte. Gemeinsam sahen wir uns die Bilder an.
»Das Fahrrad. Weißt du noch, wie sehnsüchtig du dir es gewünscht hast? Ich bin dafür einen ganzen Monat putzen gewesen, um es dir kaufen zu können.«
Nein, das hatte ich nicht gewusst. Sie hatte es mir bis jetzt nie erzählt.
»Ach und hier. Euer Versteck.«
»Ja, ich habe regelmäßig die Keksdose gemopst, damit Julia und ich im Baumhaus picknicken konnten.«
Meine Mutter lachte. »Glaub nur nicht, das hätte ich nicht gemerkt!«
»Du hast aber nie was gesagt.«
Sie wurde ernst. »Nein, natürlich nicht. Warum hätte ich euch den Spaß verderben sollen? Klar, ich hätte dir die Keksdose auch einfach in die Hand drücken können, aber wäre es dann nicht nur halb so aufregend gewesen?«
»Mama? Ich frage mich, warum Julia an diesem Tag alleine nach Hause gegangen ist. Weil es aufregender war, als sich abholen zu lassen?«
Meine Mutter dachte nach. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, sie war doch so vernünftig. Es wäre ganz und gar unklug gewesen, um diese Uhrzeit in der Kälte zu Fuß zu gehen, noch dazu allein. Sie muss entweder einen guten Grund gehabt haben oder jemand hat sie mitgenommen.«
Endlich sah noch jemand die Dinge so wie ich. Danke, danke, Mama. Ich hatte schon befürchtet, ich würde spinnen.
»Aber wer? Ich überlege schon die ganze Zeit, was genau passiert ist – und warum sie auf dieser Brücke war.«
Meine Mutter tippte mit dem Zeigefinger auf ihre Lippen, wie immer, wenn sie nachdachte. »Keine Ahnung. Was hätte sie getan, wenn sie den letzten Bus verpasst hätte? Wäre sie per Anhalter gefahren?«
»Niemals. Außerdem hätte sie bloß Frau Mechat anrufen müssen. Die hätte sie jederzeit abgeholt. Das hat sie doch seit«, ich stockte, »seit Julia diese Tote gefunden hat, immer getan.«
Meine Mutter drückte mich ein wenig fester an sich und legte ihr Kinn auf mein Haar. »Versprich mir, dass du auf dich aufpasst«, sagte sie.
Das tat ich doch sowieso immer. Schon lange.
Ich legte das Bild aus meiner Hand beiseite und betrachtete das nächste Foto. Es zeigte den tief verschneiten Garten, in dem »unser« Baumhaus stand. Das Grundstück gehörte Julias Tante, aber die hatte es nie für irgendetwas genutzt. Für uns war es ein wunderbares Paradies gewesen, wo wir als Kinder auf Bäume geklettert sind und nach Herzenslust in der Erde herumgebuddelt haben. Das letzte Mal waren wir vor fast zwei Jahren dort gewesen. Wir hatten zu Julias 16. Geburtstag eine riesige Fete geplant und die halbe Schule dazu eingeladen. Eine Woche vorher brachten wir alles auf Vordermann. Herr Mechat mähte das hüfthohe Gras mit der Sense. Julia und ich dekorierten die Bäume mit Lampions und organisierten eine Musikanlage. Für Essen und Trinken war gesorgt, meine Mutter hatte Aufstriche und eine Bowle gemacht. Schließlich erschienen annähernd fünfzig Leute, bei Weitem nicht so viele, wie wir eingeladen hatten, aber immer noch genug, um ordentlich zu feiern. Manche der Gäste kannten wir nicht einmal.
Jemand hatte Alkohol mitgebracht und die Bowle damit verfeinert, obwohl Julias Eltern absolutes Alkoholverbot erteilt hatten. Bis zehn lief alles gut, doch dann passierten gleich mehrere Sachen gleichzeitig. Wer die Pillen mitgenommen hatte, wusste hinterher keiner mehr. Jeder erzählte was anderes und keiner wollte etwas gewusst oder bemerkt haben. Tatsache war, dass nicht nur Alkohol, sondern auch Ecstasy durch die Runde ging. Julia und ich waren zu sehr mit unserer Gastgeberrolle beschäftigt, als dass es uns aufgefallen wäre. Erst als Nadine zusammenbrach, jemand schrie und ein anderer die Musik abdrehte, sahen wir, was los war.
Ein paar Sekunden war es unheimlich still, dann reagierte Julia als Erste. Sie kniete sich neben die bewusstlose Nadine und überprüfte den Puls. Gleichzeitig rief sie mir zu, ich solle einen Krankenwagen rufen und ihren Vater verständigen. Es war unglaublich, wie schnell die meisten Gäste verschwanden. Dabei warf einer von ihnen eine brennende Zigarette auf eine Papiergirlande, die dann auch noch Feuer fing. Ich trampelte wie verrückt auf der brennenden Girlande herum, um die Flammen zu ersticken. Eine schöne Party, dachte ich verbittert. Sie hätte perfekt werden sollen und nun war alles schiefgelaufen. Julias Vater kam. Obwohl es ziemlich finster war, konnte ich seinen Gesichtsausdruck erkennen. Er hatte die Lippen zusammengepresst. »Wo ist sie?«, fragte er.
Ich deutete mit dem Finger über meine Schulter, weil ich immer noch damit beschäftigt war, die Glut auszutreten. »Dahinten. Julia ist bei ihr.«
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass das Feuer tatsächlich aus war, ging ich ebenfalls zu den anderen hinüber.
Es waren noch etwa fünf Gäste geblieben, die einen Halbkreis um Nadine bildeten. Ich stellte mich neben Julia. Sie nahm meine Hand. Während wir dabei zusahen, wie Herr Mechat sich um Nadine kümmerte, fragte ich mich, wie alles bloß so hatte eskalieren können.
Julias Vater hielt uns eine Standpauke. Aber er beruhigte sich wieder, als wir ihm versicherten, dass wir keine Ahnung von den Drogen gehabt hatten.
Den ganzen nächsten Tag verbrachten wir damit, aufzuräumen. Zu zweit. Keiner von unseren Freunden war gekommen, um mitzuhelfen. Nadine überlebte nur knapp.
Danach trafen wir uns meist im Grätzel, bei Julia zu Hause oder ganz selten bei mir. Wir mieden den Garten, zumindest ich.
Ich schaute auf das Foto in meiner Hand. Es passte irgendwie nicht zu den anderen. Auf allen neueren Bildern waren die Orte zu sehen, an denen wir im letzten halben Jahr regelmäßig gewesen waren. Oder es waren Fotos von früher. Diese Aufnahme vom verschneiten Garten mit dem Baumhaus war aber mit Sicherheit erst nach der Party entstanden, denn nicht mal die Schneedecke verbarg die wuchernden Stauden und das hohe Gras. Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, warum Julia ausgerechnet dieses Bild in den Dateiordner abgelegt hatte, auf dem mein Name stand.
Noch einmal blätterte ich die Fotos durch und legte sie nebeneinander auf den Tisch. Aus einem Augenwinkel bemerkte ich, dass meine Mutter sich wieder in ihr Buch vertieft hatte. Und plötzlich fiel es mir auf. Ich schnappte nach Luft und fragte mich, wie ich so blind hatte sein können. Die Aufnahmen waren Erinnerungen an unsere Kindheit – und an unser Baumhaus, unseren Schlupfwinkel. Was wollte Julia mir damit sagen?
Das würde sich leicht herausfinden lassen. Abrupt stand ich auf und raffte die Fotos zusammen. »Ich muss noch mal weg«, sagte ich. Meine Mutter hob nicht mal den Kopf von ihrer Lektüre. »Ist gut.«
Ich rannte die Stufen hinunter. Endlich hatte ich das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein. Irgendetwas würde ich finden, davon war ich überzeugt. Irgendetwas, das mir sagte, was Julia vorgehabt hatte, als sie in der Nacht zu der Brücke gegangen war. Irgendetwas, das sie die Wochen nach Melissas Tod mit sich herumgeschleppt, wovon sie selbst mir nichts erzählen wollte. Obwohl mir vom Laufen warm geworden war, kroch Gänsehaut über meinen Rücken. Ich wickelte den Schal enger um meinen Hals. Julia hatte normalerweise vor ihren Eltern keine Geheimnisse gehabt – und vor mir auch nicht. Wenn sie tatsächlich eines gehabt hat, musste es sich dann nicht um etwas Schreckliches handeln? In mir sträubte sich alles, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Was erwartete mich, wenn ich herausfand, was mir Julia nie erzählt hatte, als sie noch lebte?
20. Februar 2012
Puh, das erste Wochenende der Ferien habe ich hinter mich gebracht. Mehr oder weniger gut. Ich fühle mich heute fast wie ein Mensch, nicht so zombiemäßig wie in letzter Zeit, was daran liegt, dass ich länger schlafen konnte. Wenn man wochenlang nicht mehr als drei, vier Stunden an einem Stück durchschläft, kommen einem sechs, sieben Stunden Schlaf wie Luxus vor. Jedenfalls habe ich das erste Mal seit Langem das Gefühl, nicht schon in der Früh wie ferngesteuert zu sein. Außerdem war keiner da, als ich aufgestanden bin. Sie sind in irgendein Möbelhaus gefahren. Mamas Büro soll renoviert werden. Sie wollten mich nicht wecken, stand auf dem Zettel, den sie mir auf den Küchentisch gelegt hatten.
Gleich nach dem Frühstück – gut, es war wohl mehr ein Brunch, immerhin war es fast elf – rief ich Tessa an. Wir machten aus, dass wir uns gegen sechs im Grätzel treffen. Jetzt bin ich noch schnell im Baumhaus und schreibe. Ich überlege, ob ich vorher noch mal heimgehen und mich in die Badewanne legen soll. Im Moment fühlt sich mein Hintern an, als wäre er eingefroren. Deshalb fasse ich mich kurz. Diesen Nachmittag hatte ich ein wenig länger Zeit, um das Arbeitszimmer meines Vaters zu durchsuchen. Gefunden habe ich nichts. Weder etwas, was auf seine Schuld deutet, noch etwas, was ihn entlastet. Aber ich habe in einer Schublade, unter ziemlich viel Papierkram, die Ersatzschlüssel für die Praxis entdeckt. Wahrscheinlich weiß er gar nicht, dass er sie überhaupt noch hat. Ich dachte mir, ich könnte sie nachmachen lassen, aber im Grunde reicht es, wenn ich sie später wieder zurücklege. Es wird ihm mit Sicherheit nicht auffallen, dass sie weg sind.
Das ist also mein Plan für morgen: Ich werde in den Praxisräumen meines Vaters herumschnüffeln. Wenn was dort ist, finde ich es. Wo sonst, wenn nicht dort, wo er keine Angst haben muss, dass ich oder Mama auf einen Hinweis stoßen und wo sie sich ja immerhin auch mal getroffen haben. Ich werde behaupten, ich würde den Tag bei Theresa verbringen oder noch besser mit ihr. Irgendein Ausflug. Ich könnte sagen, wir fahren nach Graz zum Shoppen, dann vermisst mich zu Hause keiner. Nur muss ich Tessa einweihen, damit sie sich nicht verplappert. In Kleinhardstetten trifft man immer wen, der wieder wen trifft – und ehe man es sich versieht, weiß A von B, dass C nicht in der Schule war, weil D erzählt hat … so läuft es hier bei uns.
So, aber jetzt schnell nach Hause und einen Tee und ein heißes Bad. … Ich kling schon wie meine Mutter!