Kapitel 21
»Was?! Aber warum sollte jemand …? Vielleicht … glaubst du, es ist der gleiche Täter, der auch Julia auf dem Gewissen hat? Weil er dich zum Schweigen …?« Leon drückte meine Hand ganz fest an sich. »Wir müssen die Polizei rufen, sofort.« Leon stand auf und lief vor Aufregung neben meinem Bett auf und ab.
Ich wusste es zu schätzen, dass er nicht versuchte, mich zu beschwichtigen, oder behauptete, der Sturz hätte mein Gedächtnis umnebelt. Auch wenn ich mich nicht an alle Details erinnerte, die Hand, die mich gestoßen hatte, war keine Einbildung gewesen.
»Gib mir mein Handy bitte. Dann ruf ich Karin Zauner an. Sie weiß doch über Julias Fall Bescheid und sie hat meine Sorgen schon letztens ernst genommen. Sie wird mich nicht für verrückt halten, wenn ich ihr erzähle, was passiert ist. Hoffe ich zumindest.«
Er blieb abrupt an meinem Fußende stehen. »Nein, lass mich telefonieren. Du solltest dich möglichst schonen.«
Ich hatte immer noch ziemliche Kopfschmerzen. Leon sah mich erwartungsvoll an und wartete darauf, dass ich seinem Anruf bei Karin zustimmte. Also nickte ich vorsichtig. Er nahm mein Handy und ging auf den Flur, um Karin Zauner anzurufen.
Wenig später kam er wieder herein und gab mir das Telefon zurück. »Sie ist in einer halben Stunde hier.«
Er setzte sich auf die Bettkante und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. »Mensch, Theresa. Du bist offenbar jemandem gewaltig auf die Zehen gestiegen. Nicht auszudenken, was … kannst du dir denn gar nicht vorstellen, wer es gewesen sein könnte?«
Ich versuchte nachzudenken, doch bei diesen höllischen Kopfschmerzen war es unmöglich, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Wer hatte mich gestoßen? Jemand, mit dem ich über Melissa und Julia gesprochen hatte und der wollte, dass nie ans Licht kam, wie die beiden wirklich ums Leben gekommen waren. Aber diese Erkenntnis half mir nicht weiter. Es waren einfach zu viele gewesen.
Leon blickte mich ernst an. »Wenn ich diesen Mistkerl in die Finger kriege, dann …«
»Zuerst müssen wir ihn finden.«
»Wen müsst ihr finden?«, fragte Karin, die in diesem Moment ins Zimmer gekommen war. »Ach, sieh mal an, Leon Thalmayer. Ich habe mich schon gewundert, dass Sie mich angerufen haben. Bedrängt der Kerl dich etwa?«, wandte Karin Zauner sich an mich.
Ich blickte verschämt zur Seite. Nur zu gut konnte ich mich an meine wilden Beschuldigungen erinnern. »Nein, ich hab mich in Leon geirrt. Ziemlich gewaltig sogar. Julia wurde tatsächlich verfolgt, aber nicht von Leon.«
»Das habe ich mir gleich gedacht. Gut, dass sich nun alles aufgeklärt hat zwischen euch beiden.« Sie zwinkerte mir kaum merklich zu. »Aber Leon sagt, du wurdest die Treppe hinuntergestoßen? Wie geht es dir denn?«
»Mir geht es ganz okay, zum Glück haben sie beim CT nichts gefunden. Aber ich muss über Nacht hierbleiben. Und ich … ich kann mich zwar nicht mehr an viel erinnern, aber ich weiß ganz genau, dass ich nicht einfach so die Treppe runtergestürzt bin. Da war ein Stoß in meinem Rücken.«
»Und wahrscheinlich war das derselbe Kerl, der Julia und nun auch Theresa permanent beobachtet hat«, erklärte Leon. Ich nickte zustimmend.
Karin nahm sich einen Stuhl und setzte sich ans Bett. »Julia wurde also beobachtet und du auch, Theresa? Wie lange geht das schon?«, fragte Karin.
»Keine Ahnung, doch wie es sich herausstellte, war das zum Teil Klaus, der neue Exfreund meiner Mutter.«
»Das ist der Typ mit der Kamera, der am Friedhof war, oder?«
Ich nickte. »Er hat auch Julia nachgestellt. Aber ich glaube nicht, dass er mit ihrem Tod zu tun hatte. In der Nacht ihres Verschwindens war er mit meiner Mutter zusammen. Schade eigentlich. Das ganze Vorgehen, eine Affäre mit einem Mädchen, die ungewünschte Vaterschaft – all das hätte ganz wunderbar zu diesem Arschloch gepasst.«
»Nur dass Wunschvorstellungen als Indizien nicht ausreichen«, meinte Karin nachdenklich. »Hätte ein Fremder überhaupt die Möglichkeit gehabt, ungehindert in die Schule reinzukommen?«
»Die Eingangstür war nicht abgeschlossen. Es kommt oft vor, dass schulfremde Leute sich im Gebäude aufhalten. Da wird niemand stutzig.«
Karin schüttelte bloß den Kopf. »Ziemlich leichtsinnig. Gerade in letzter Zeit häufen sich die Zeitungsmeldungen, dass Schulen ausgeraubt wurden.«
Ich zuckte bloß mit den Schultern. Die Bewegung reichte aus, dass ein heller Schmerz meinen Nacken durchzuckte.
»Es könnte also auch Klaus gewesen sein«, überlegte Karin laut.
»Theoretisch schon. Ich habe ihn ja nicht gesehen. Aber ich glaube es nicht. Warum sollte er mich die Treppe hinunterstoßen?«
»Vielleicht weil er wütend darüber ist, dass die Beziehung zu deiner Mutter kaputtgegangen ist? Weil er seinen Job als Reporter los ist, nachdem du ihn überführt hast? Oder weil er sich für die Kratzer in seinem Gesicht rächen wollte?« Leon ging wieder im Zimmer auf und ab. Er machte mich ganz nervös. Karin hingegen schien seine Rastlosigkeit nicht zu stören. »Ich sage dir, was ich tue: Als Erstes werde ich diesen Klaus befragen und nachprüfen, wo er heute am späten Nachmittag war. Nur zur Sicherheit. Außerdem werde ich in der Schule mit den Leuten sprechen. Vielleicht hat ja doch jemand was beobachtet. Und du …«, sie zeigte mit dem Finger auf mich, »… du passt auf dich gut auf. Ich mache mir langsam Sorgen. Irgendwie scheint die Sterblichkeitsrate bei den weiblichen Teenagern in eurem Ort ziemlich hoch zu sein. Also, ich melde mich wieder. Und jetzt erst mal gute Besserung, Theresa.« Mit diesen Worten verabschiedete sie sich und ging zur Tür hinaus.
»Und jetzt?«, fragte Leon.
»Keine Ahnung. Ich kann im Moment nicht denken.«
Er grinste. »Wie gut, dass mir was einfällt, wobei du garantiert nicht denken musst.«
Meine Mutter kam natürlich doch. Sie hatte Corinna im Schlepptau, die ein mürrisches Gesicht zog, als hätte sie etwas Besseres vorgehabt, als mich zu besuchen. Doch als sie mich im Bett liegen sah, kam sie auf mich zugestürmt. »Nicht zu heftig«, warnte ich sie. Also setzte sie sich bloß auf die andere Seite des Bettes und nahm meine Hand. »Und da heißt es immer, ich soll auf mich aufpassen.«
»Ich bin über meine eigenen Füße gestolpert«, sagte ich. Leon runzelte die Stirn, ich hoffte, er verstand, dass ich auf keinen Fall Corinna und meine Mutter auch noch beunruhigen wollte.
»Es ist ja nichts passiert, außer einer Megabeule und ein paar Abschürfungen und blauen Flecken. Morgen darf ich wieder nach Hause.«
Meine Mutter setzte sich auf den Stuhl, auf dem Karin gesessen hatte. »Ich hole dich natürlich ab. Aber danach musst du bis zum Abend selbst klarkommen. Ich bin diese Woche alleine im Geschäft und …«
»Das ist nicht notwendig, Frau Kleistner. Ich kümmere mich um Theresa«, bot Leon an.
Meine Mutter zögerte, doch dann stimmte sie erleichtert zu. »Danke, Leon. Ich komme dann, so schnell es geht, nach Hause.«
Corinna legte sich zu mir aufs Bett und kuschelte sich an mich. »Hättest du heute eigentlich nicht was Besseres zu tun gehabt, als mich zu besuchen? Der erste Tag, an dem du dich wieder mit deinen Freunden treffen kannst – und stattdessen … ich finde es lieb von dir, dass du darauf verzichtet hast«, sagte ich zu ihr.
»Na ja, mir fiel ein, dass du vor ein paar Tagen gesagt hast, ich sei der wichtigste Mensch in deinem Leben – und da konnte ich halt nicht anders.«
Ich musste lächeln. Corinna machte manchmal Fehler, aber sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck, wenn es drauf ankam.
Etwa eine Stunde später war ich mit Leon wieder allein. Ich schloss die Augen. Es fiel mir schwer zuzugeben, dass ich total erledigt war und mich danach sehnte, ein wenig schlafen zu können.
Ich musste wirklich kurz eingedöst sein, denn das nächste, was ich spürte, war, dass Leon mir einen Kuss aufs Haar drückte. »Ich geh jetzt, damit du dich ausruhen kannst. Morgen bin ich wieder da.«
Sogar zum Antworten war ich zu müde. Wer glaubt, dass man sich in einem Krankenhaus ausruhen und erholen kann, der irrt gewaltig. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen – kaum war ich eingenickt, wurde mein Abendessen gebracht, die Krankenschwester kam mit dem Fieberthermometer, als ob eine Gehirnerschütterung die Körpertemperatur beeinflussen würde. Ein Arzt sah nach mir, danach noch mal die Nachtschwester, die mir eine Tablette brachte. Ich hoffte bloß, dass das zweite Bett bis morgen frei blieb.
Am nächsten Morgen hatte ich das Zimmer zwar zum Glück immer noch für mich, aber ich fühlte mich alles andere als erholt. Schon um sechs, halb sieben weckten mich Geräusche vom Flur, keine Chance, wieder einzuschlafen. Wenigstens hatten die Kopfschmerzen über Nacht weitgehend nachgelassen. Auch wenn mir der Rest des Körpers immer noch wehtat, konnte ich wieder klarer denken. Nur was nach dem Treppensturz passiert war, blieb wie in einen Schleier gehüllt. Dabei wusste ich, dass es etwas Wichtiges war. Wenn ich mich bloß daran erinnern könnte! Wieder und wieder versuchte ich mir die Abläufe des gestrigen Nachmittags ins Gedächtnis zu rufen. Doch nach dem Stoß klaffte eine Lücke in meiner Erinnerung bis zu dem Zeitpunkt, als ich im Krankenwagen aufwachte.
Bei der Visite sah ich die blonde Ärztin vom Vortag wieder. »Na, wie geht es dir heute?«, fragte sie.
»Wie durch den Fleischwolf gedreht. Aber meinem Kopf geht es besser«, sagte ich. »Ich kann mich immer noch nicht an alles erinnern, was gestern passiert ist. Gibt sich das wieder?«
Die Ärztin las in meinem Krankenblatt, schrieb etwas drauf und steckte beide Hände in ihren Kittel. »Hm, mit Sicherheit kann man das nicht sagen. Bei den meisten kommen die Erinnerungen wieder, manche erinnern sich an Fragmente und bei einigen bleibt ein schwarzer Fleck. Ansonsten sieht bei dir alles wunderbar aus. Du darfst später nach Hause. Kommt dich jemand abholen?«
»Ja, mein Freund. Er sollte schon da sein.«
Sie gab mir die Hand und wünschte mir alles Gute, bevor sie das Zimmer verließ. Ich holte meine Kleidung aus dem Schrank und zog mich langsam an. Gerade als ich versuchte, mein Haar zu bürsten, ohne an die Beule zu kommen, kam Leon herein.
»Hi du.« Er umschlang mich von hinten, hob mein Haar hoch und gab mir einen Kuss in den Nacken. Sehr kribbelig, aber nicht unangenehm. Ich drehte mich zu ihm. »Auch hi, du. Wir können übrigens gleich gehen«, sagte ich.
»Gut. Ich soll dir schöne Grüße vom Müller ausrichten.«
»Vom Müller? Du warst in der Schule?«
»Ja, ich dachte, vor der Visite kannst du eh nicht heim. Außerdem habe ich Bescheid gegeben, dass du ein paar Tage zu Hause bleiben wirst.«
»Danke. Aber ich habe gar nicht vor, zu Hause zu bleiben. Morgen geh ich wieder in die Schule.«
»Darüber reden wir noch. – Zu mir oder zu dir?«, fragte Leon und hob vielsagend die Augenbrauen. Ich brach in Gelächter aus. »Hör auf, albern zu sein. Lachen tut weh!«
»Eigentlich war es vollkommen ernst gemeint«, protestierte Leon und sah mich an. »Ich biete dir einen Rundum-Service, eine Couch, ein paar DVDs, meine Gesellschaft, meine Kochkünste … aber wenn du lieber nach Hause willst, dann fahren wir dorthin und ich bleibe bei dir, bis deine Mutter kommt.«
»Oh, dann zu dir. Ich möchte mich nur zu gern von deinen Kochkünsten überzeugen. Und deine DVDs sind bestimmt auch interessanter als meine, die ich schon tausendmal gesehen habe.«
3. März 2012
Theresa ist gestern doch in die Schule gekommen, obwohl ich auf sie eingeredet hab wie auf eine kranke Kuh, dass sie ins Bett gehört und dass es ihr nicht besser gehen wird, wenn sie in der Schule sitzt. Schließlich wirkte das Argument, sie würde in ihrem fiebrigen Zustand ohnehin nichts vom Stoff mitbekommen. Sie hat dann doch eingesehen, dass ich recht hatte. Am liebsten hätte ich sie heimbegleitet. Aber das wollte sie nicht. Sie meinte, es wäre besser, ich würde mitschreiben, was sie versäumt. Sie sagte, soooo schlecht ginge es ihr auch wieder nicht, dass sie nicht heimfände, und sie versprach, den Bus zu nehmen. Was sonst? In dem Zustand hätte ich ihr nicht geraten, zu Fuß zu gehen.
Ganz unerwartet ergab sich die Gelegenheit, gleich mit zwei Lehrern das Interview zu führen. Wennecker hatte in der Mittagspause Gangaufsicht und ich nutzte die Gelegenheit. Er meinte, die Fragen seien jedes Jahr die gleichen. Aber dann überraschte ich ihn doch. Zum Beispiel wollte ich wissen, als welches Tier er sich sehen oder in welche Romanfigur er gerne schlüpfen würde. »Hut ab«, sagte er nachher. »Da erfahre ja selbst ich noch was Neues über mich.«
Das zweite Interview führte ich mit Steinmenger, das würde sicher nett werden – dachte ich. Nachdem er mir meine Fragen beantwortet hatte, gab ich mir einen Ruck. Warum sollte ich ihm von meinem Problem denn nicht berichten? Rein hypothetisch natürlich. Immerhin ist er nur unwesentlich jünger als mein Vater und verheiratet ist er auch, also hat Steinmenger im Grunde die gleichen Voraussetzungen. Theoretisch zumindest.
Ich fiel natürlich nicht mit der Tür ins Haus. Und natürlich sagte ich ihm nicht, dass ich damit meinen Vater meine. Ich fragte nur ganz allgemein, nachdem wir mit dem Interview durch waren. Recherche für eine Kurzgeschichte, behauptete ich. Ich glaube, es war ihm ziemlich unangenehm, und er sagte, da könne er mir leider auch nicht weiterhelfen. Wie denn auch? Er war nie in solch einer Situation. Ich lächelte ihn an und argumentierte, er könne doch mal in so eine Situation geraten. Schließlich wird er von den meisten Schülerinnen umschwärmt wie das Licht von den Motten. Was müsse also passieren, dass er so einer Versuchung nachgäbe. Er meinte, das wäre absolut unvorstellbar für ihn. Es handelt sich dabei um Schutzbefohlene, für die er Verantwortung trägt. Man dürfe doch die Autorität, die man als Lehrer hätte, nicht ausnutzen.
Und dann sagte er allen Ernstes, dass es ihm leidtut, wenn ich romantische Gefühle ihm gegenüber hege!!! Na toll! Jetzt glaubt er, ich wäre in ihn verliebt. Natürlich hab ich ihm gleich gesagt, dass das nicht stimmt. Er hat meine Frage wohl falsch interpretiert. Da klopfte er mir auf die Schulter. »Dann ist ja gut!«, sagte er. Irgendwie wirkte er tatsächlich erleichtert, aber ob er mir wirklich geglaubt hat?
Na ja, jetzt bin ich genauso schlau wie zuvor. Von Steinmenger habe ich mir, ehrlich gesagt, mehr erwartet. Wahrscheinlich war es eh eine Schnapsidee, ihn damit zu behelligen. Vielleicht hätte ich doch lieber mit offenen Karten spielen sollen, schließlich ist er ja der Vertrauenslehrer. Aber ich habe Angst, die Affäre meines Vaters und all das an die große Glocke zu hängen. Was wird dann mit unserer Familie passieren, wenn die Leute erst mal Bescheid wissen?
Sobald ich mit meinem Eintrag hier fertig bin, mache ich mich auf den Weg ins Grätzel. Ich habe mir überlegt, ob ich ohne Theresa überhaupt hingehen soll. Es macht mir ein schlechtes Gewissen, dass ich mich amüsiere, während sie krank im Bett liegt. Doch das ist Blödsinn. Sie würde mir zureden auszugehen. Außerdem habe ich mir selbst versprochen, mich nicht länger zu verkriechen. Dazu gehört, auch alleine unterwegs zu sein. Ein wenig mulmig ist mir schon zumute. Mir ist klar, wie oft Theresa in letzter Zeit an meiner Seite war, wie häufig sie mich gehalten und getröstet hat, wenn ich eine Panikattacke hatte. Ihre bloße Gegenwart hat dafür gesorgt, dass ich mich sicherer fühlte. Aber nun ist es Zeit, den nächsten Schritt zu wagen.
Ob ich es schaffe? Wer weiß, aber vorgenommen habe ich es mir – und ich bin zuversichtlich. Weil die letzte Woche so gut lief und ich das Gefühl habe, dass endlich alles gut wird. Nach und nach. Und wenn ich eines Tages die Beweggründe meines Vaters verstehe, wenn ich weiß, was in ihm vorgegangen ist, warum er getan hat, was er tat, und unterlassen hat, was er unterließ – vielleicht kann ich ihm dann vergeben. Weder heute noch morgen. Aber irgendwann.
Ich habe vieles verloren: das Urvertrauen in meinen Vater; meine naive Vorstellung, dass Väter keine Fehler machen; den Glauben, dass alles Schlimme nur bösen Menschen passiert. Doch ich habe auch etwas gewonnen: Ich habe gelernt, dass Väter auch nur Menschen sind und ihre Schwächen und Fehler haben. Außerdem habe ich bemerkt, dass Zeit wirklich Wunden heilt. Ich hätte es nicht gedacht. Aber es stimmt. Und wenn schon nicht heilt, dann legt sie eine Decke über die Verletzungen, nach dem Motto: »Aus den Augen, aus dem Sinn« – und irgendwann vergisst man sie tatsächlich. Vielleicht nicht ganz. Aber sie sind nicht mehr allgegenwärtig und bestimmen alles Handeln und Denken. An diesem Punkt bin ich gerade angelangt. Wenn noch ein bisschen Zeit verstreicht, werde ich ein annähernd normales Leben führen können.