Kapitel 2

Als ich am nächsten Morgen aus dem Bett stieg, drehte sich alles. Mir ging es noch nicht wirklich gut, aber deutlich besser als den Abend zuvor. Vor allem war mir schlecht. Ich biss die Zähne zusammen. Bloß nicht umkippen, dachte ich, beweg dich, dann wird es besser.

Das Schwindelgefühl ließ nach. Mein Magen schmerzte vor Hunger. Klar, dass mir übel war. Seit fast zwei Tagen hatte ich nichts gegessen. Knäckebrot. Das würde reichen müssen. Vor meinem inneren Auge sah ich frische Brötchen mit Butter und Marmelade. Fast konnte ich das Gebäck riechen und das Wasser lief mir im Mund zusammen.

Ich ging in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. In der Tür blieb ich verdattert stehen. Hatte ich mir das Chaos gestern bloß eingebildet? Corinna saß am Tisch und grinste, als sie mich sah. Die Küche war aufgeräumt und sauber. Vor meiner Schwester stand der Brotkorb, fünf Brötchen lagen darin. Sie hatte für drei Personen gedeckt. Auf der Herdplatte kochten in einem Topf drei Eier, aus dem Wasserkessel dampfte es.

»Ich glaub, ich muss noch mal ins Bett. Ich träume.« Erleichtert stellte ich fest, dass meine Stimme fast normal klang.

Corinnas Grinsen wurde breiter. »Setz dich. Ich dachte, ich muss dich ein wenig aufpäppeln.«

Ich ging zu meiner Schwester, umarmte sie von hinten und drückte ihr einen Kuss aufs Haar. »Danke! Du bist die beste kleine Schwester, die ich mir wünschen kann.«

Corinna lehnte sich an mich und so blieben wir für eine Weile, bis sie ausrief: »Shit! Die Eier, sie werden hart!« Sie sprang auf und nahm den Topf vom Herd.

Ich setzte mich und schaute ihr zu. Zuneigung und Stolz durchfluteten mich. Meine Schwester konnte ein Biest sein. Sie war frühreif, dickköpfig und oft unzuverlässig. Aber in Momenten wie diesem liebte ich sie.

Die Eier waren tatsächlich schon hart, aber das machte nichts. Wir frühstückten ausgiebig. Danach räumte Corinna den ungebrauchten dritten Teller wortlos in den Schrank. Sie bemühte sich, ihre Enttäuschung nicht zu zeigen, aber ich wusste, dass es ihr genauso ging wie mir.

Nun fühlte ich mich kräftig genug, um mich um die Wäsche zu kümmern. Corinna ging in ihr Zimmer Musik hören. Bald darauf wummerte der Bass durch die geschlossene Tür. Falls Mutter davon wach werden sollte, pfft, sollte sie doch! Es war schon Ewigkeiten her, dass sie mit uns gefrühstückt hatte. Selbst am Muttertag war sie mit Kopfschmerzen bis spät am Nachmittag im Bett geblieben. Ich wusste genau, woher ihre Kopfschmerzen stammten.

Der Wäschekorb quoll über. Erst die Jeans, beim zweiten Waschgang die Kochwäsche. Ich nahm die Hosen, durchsuchte sie, bevor ich sie in die Trommel stopfte. Mutter vergaß häufig Geld in ihren Taschen. Auf diese Weise hatte ich schon einiges zusammengekratzt. Zum Glück, sonst hätte ich manchmal nicht gewusst, wovon ich einkaufen gehen sollte.

In einer Hosentasche von Corinna fand ich zwei Minitampons und einen zerfledderten Zettel mit einer Telefonnummer drauf. In zwei Jeans meiner Mutter war etwas Kleingeld und immerhin ein Zehneuroschein. Aus meiner eigenen Hose holte ich mein Handy hervor. Der Akku war leer und es war aus. Schon vorgestern Abend war es mir so dreckig gegangen, dass ich die Hose einfach auf den Boden geworfen hatte.

In meinem Zimmer steckte ich das Handy zum Aufladen an. Es dauerte ein paar Minuten, bis es sich überhaupt einschalten ließ. Der Signalton ertönte. Ich hatte mehrere Nachrichten erhalten: vier SMS und zwölf verpasste Anrufe. Einen Moment lang wusste ich nicht, zu wem die Nummer gehörte, von der ich zehnmal angerufen worden war, das letzte Mal heute Morgen, als ich mit Corinna gemütlich beim Frühstück gesessen hatte. Aber dann erkannte ich die Nummer doch. Warum hatte Julia von ihrem Festnetzanschluss angerufen, wo sie doch sonst immer von ihrem Handy aus telefonierte?

Ich wählte Julias Handynummer. Es läutete und läutete, aber sie hob nicht ab. Schließlich hinterließ ich eine Nachricht, sie solle mich zurückrufen. Danach versuchte ich es am Festnetzanschluss. Dort war besetzt.

Komisch. Julia war sonst immer erreichbar, man könnte schon fast sagen, sie war mit ihrem Handy verwachsen. Bestimmt hatte sie sich bei mir angesteckt und lag ebenfalls im Bett, wäre ja kein Wunder. Ich wählte erneut und endlich hob Frau Mechat ab.

»Theresa, Gott sei Dank! Bitte sag mir, dass Julia bei dir ist«, sagte sie atemlos.

Mein Magen zog sich zusammen, als ich die Panik in ihrer Stimme hörte.

»Nein. Hier ist sie nicht. Was ist passiert?«

»Sie ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Ich habe solche Angst, dass ihr etwas passiert ist … hätte sie doch angerufen! Das hat sie immer getan, dann hätte ich sie abholen können! Warum hat sie nicht einfach angerufen?«

»Vielleicht war der Handyakku leer. Oder sie hat wen kennengelernt«, sagte ich, um Frau Mechat zu beruhigen. Gleichzeitig wurde mir bewusst, wie bescheuert das klang. Julia war nicht so, sie übernachtete nicht einfach bei irgendwem und sagte niemandem Bescheid.

Unwillkürlich drängten sich mir die Schlagzeilen und Nachrichtenbeiträge der letzten Wochen auf: Tote am Feld gefunden! Das Mädchen war kaum älter als ich gewesen. Melissa S. erfroren! Nein, Melissa Schikol war nicht einfach erfroren, sie hatte sich umgebracht. Und außerdem gab es keine Gemeinsamkeiten zwischen ihr und Julia. Ich verdrängte die Bilder von Melissa, die sich hartnäckig in meinem Kopf einnisten wollten. Wir lebten in einem Dorf. Wie wahrscheinlich war es, dass gleich zwei Mädchen innerhalb weniger Wochen etwas zustieß? Eins zu einer Million? So gut wie unmöglich. Alles war gut.

Ich räusperte mich. »Vielleicht ist sie bei Jennifer oder Sandra?« Jennifer war Julias zweitbeste Freundin. Möglicherweise wollte Julia einfach mal in Ruhe gelassen werden. Die Überfürsorglichkeit ihrer Eltern war ihr in letzter Zeit auf den Nerv gegangen. Kein Wunder, dass sie das nicht mehr ertragen hatte. Seit dem Tag, an dem Julia im Wald auf Melissas Leiche gestoßen war, fragten alle in der Schule danach, ihre Eltern saßen ihr förmlich auf der Pelle mit ihrer Besorgnis. Und Julia zog sich mehr und mehr zurück, auch vor mir. Ich musste hart schlucken. Vielleicht wollte sie ja nur einfach mal ausbrechen?

Dennoch wusste ich tief in mir, dass Julia trotz allem Bescheid gegeben hätte, dass sie die Nacht nicht zu Hause verbringt. Bei den Mechats war das anders als bei uns. Dort sagte man, wo man hinging und wann man voraussichtlich wieder zurückkam. Dort meldete man sich, wenn es später wurde als geplant. Dort machte man sich Sorgen, wenn einer sich verspätete, ohne anzurufen.

»Ich habe schon mit beiden telefoniert. Sie haben keine Ahnung, wo sie sein könnte. Gestern Abend war sie im Grätzel. Sie hat mich angerufen, dass sie etwas später kommen würde – und dass ich sie nicht abzuholen brauche, sie würde den Bus nehmen.«

»Den Bus?« Ausgerechnet, wenn sie alleine unterwegs war? Warum um alles in der Welt hatte sie das allein durchziehen wollen, warum hat sie nicht damit gewartet, bis es mir wieder besser ging und ich sie hätte begleiten können? Ich wusste nicht, was ich tun, was ich sagen sollte. Ich wusste gar nichts mehr. Bloß, dass Julia, meine beste Freundin, seit gestern Nacht spurlos verschwunden war.

»Ja, sie meinte, der Bus fährt ja direkt vom Grätzel zu unserer Haustür. Sie hat geradezu darauf bestanden und ich …« Frau Mechat seufzte. »Fällt dir denn gar niemand ein, den ich noch fragen könnte?«

Ich gab mir einen Ruck. »Haben Sie es bei Leon Thalmayer schon probiert?«

»Leon geht in eure Stufe, oder? Ich rufe gleich einmal bei Thalmayers an. Danke, Theresa. Und wenn du was von Julia hörst, dann …«

»... dann melde ich mich sofort, na klar.«

»Danke, Theresa«, sagte Frau Mechat noch einmal und legte auf.

Leon. Wer, wenn nicht er, könnte wissen, wo Julia war? Leon war ein komischer Kauz, ein Einzelgänger. Er hatte, soweit ich wusste, keine Freunde. Zumindest in unserem Jahrgang nicht. Zwar wurde er anfangs, nachdem er vor einem Jahr zu uns gekommen war, von den meisten Mitschülern um seine eigene Wohnung beneidet, doch die Begeisterung legte sich schnell, weil Leon keinen von uns einlud und schon zu Beginn des Schuljahres unmissverständlich klargemacht hatte, dass seine Wohnung nicht für Feten zur Verfügung stand.

Leon hing nicht mit den anderen Jungs zusammen, baggerte keine Mädchen an. In den Pausen stand er immer alleine rum und betrachtete das Treiben um sich. Und beobachtete Julia.

Für Julia war das typisch, dass sie davon nichts mitbekam, schließlich war sie immer damit beschäftigt, beschäftigt zu sein. Julia merkte nicht, dass er uns auf Schritt und Tritt verfolgte. Ich schon. Als ich sie einmal darauf ansprach, lachte sie und meinte, ich solle mit der Spinnerei aufhören, er sei doch total harmlos. Und abgesehen davon habe er sie noch nie angesprochen.

»Hey, er geht in unsere Stufe. Klar, dass wir uns am Flur oder am Schulhof ständig über den Weg laufen«, hörte ich immer noch ihre Worte.

»Und wie kommt es, dass er immer dann im Grätzel auftaucht, wenn wir dort sind? Oder letztens im Einkaufszentrum, was wollte er denn da?«, fragte ich. Mir war Leon echt unheimlich. Aber Julia hatte recht. Er sprach weder sie noch mich an, im Grätzel saß er allein an seinem Tisch, nippte an einer Cola und tat so, als würde er lesen. Und natürlich begegnete man sich in einem so kleinen Kaff wie unserem überall. Schrecklich viele Möglichkeiten der Freizeitgestaltung gab es hier nicht. Trotzdem. Leon folgte uns, davon war ich überzeugt. Und vielleicht wusste er tatsächlich etwas, was Julias Mutter weiterhelfen könnte. Ich würde so einiges verwetten, dass er am Samstagabend im Grätzel war. Genau wie Julia.

Aber konnte es wirklich wahr sein? Julia war verschwunden? Die Fragen hämmerten in meinem Kopf. Was hatte sie überhaupt im Grätzel gewollt, ohne mich? Wieso hatte sie sich nicht, wie immer seit der Sache mit Melissa, abholen lassen?

Ich trat vor Wut gegen den Schrank. Verdammt, Julia! Der Schmerz in meinem Fuß tat gut. Wie konnte sie einfach ohne ein Wort verschwinden! Wenigstens mir hätte sie etwas sagen können, wenn sie wirklich hatte abhauen wollen. Ich setzte mich aufs Bett. Ich musste nachdenken. Aber die Gedanken in meinem Kopf waren wirr, als hätte jemand ein Puzzlespiel mit tausend Teilen durcheinandergeschüttelt, und ich hatte keine Ahnung, wie ich nun Ordnung in das Chaos bringen sollte.

Ich hörte, dass Corinna die Musik abdrehte. Sie sprach mit unserer Mutter, die es offensichtlich geschafft hatte aufzustehen. Die Wohnungstür schloss sich mit einem dumpfen Knall. Wer war gegangen? Egal.

Das Zuschlagen der Tür löste mich aus der Starre. Innerhalb von Minuten zog ich mich an. Wahrscheinlich, nein sicher sogar war ich im Begriff, eine Riesendummheit zu begehen. Möglicherweise würde sich aus der Grippe eine ausgewachsene Lungenentzündung entwickeln, wenn nicht sogar Schlimmeres. Aber alles war besser, als nur herumzusitzen, abzuwarten und nichts zu tun.