Kapitel 1
Ich bekam die Augen kaum auf, mein Hals war trocken und schmerzte. Das T-Shirt klebte auf meiner Haut und fühlte sich klamm an. Mich fröstelte. Auf dem Nachttisch stand ein Becher. Ich griff danach, doch da merkte ich, dass er leer war.
Der Weg vom Bett hin zum Fenster war eine einzige Qual, aber trotz der Kälte musste ich lüften. Wenigstens kurz. Ich hatte das Gefühl zu ersticken – und das lag nicht an dieser blöden Grippe, die mich total außer Gefecht setzte. Wenn ich länger als ein paar Stunden zu Hause verbrachte, fühlte ich mich irgendwann, als ob ich keine Luft mehr bekäme.
Der Boden klebte unter meinen Füßen und auf den Oberschenkeln hatte ich Gänsehaut. Nur schnell in der Küche etwas zu trinken holen und dann wieder ins Bett.
Auf der Couch im Wohnzimmer saß, nein, sie lag eigentlich eher, Corinna, meine kleine Schwester. Irgendein Junge, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, lag neben ihr und hatte seine Hände scheinbar überall gleichzeitig.
Die beiden waren offensichtlich zu beschäftigt, um mich zu bemerken. Vor Wut vergaß ich, wie dreckig es mir eigentlich ging. Mit drei Schritten war ich bei den beiden ineinander verschlungenen Körpern und tippte dem Jungen hart auf den Rücken.
»Au!«, schrie er prompt und ließ von Corinna ab.
»Hast du sie nicht alle?« Er sah mich abschätzend an. »Wer ist die durchgeknallte Tussi?«, wandte er sich an Corinna, die hektisch versuchte, ihre Kleidung zu richten.
»Ich bin Theresa, Corinnas verrückte Schwester auf Klinikurlaub.«
Der Junge riss die Augen auf. Offensichtlich glaubte er mir sofort, dass ich aus der Klapse kam, in meinem Zustand sah ich vermutlich wirklich ziemlich durchgeknallt aus. Aber das war mir herzlich egal, dieser Typ sollte gefälligst meine kleine Schwester in Ruhe lassen. Sie war erst vierzehn! Zu jung, um das zu tun, wobei ich sie gerade erwischt hatte.
»Kli… Klinik?« Seine Stimme überschlug sich. Was Corinna bloß an dem Kerl fand? Er sah aus, als würde er noch Windeln brauchen.
»Leider darf ich nicht dauerhaft zu Hause bleiben. Die Ärzte meinen, ich kann erst wieder raus, wenn ich gelernt habe, Jungen, die meine kleine Schwester befummeln, nicht die Finger abzuschneiden.«
Ohne seine Antwort abzuwarten, drehte ich mich um und ging in die Küche. Die während meiner Grippe offensichtlich niemand sauber gemacht hatte. Zum Glück würde mir ein Tee fürs Erste reichen, mehr bekäme ich sowieso nicht runter. Ich füllte Wasser in den Kessel und stellte ihn auf die Herdplatte. Aus dem Wohnzimmer drangen Wortfetzen an mein Ohr, wenig später schlug die Wohnungstür zu und Corinna rauschte in die Küche. Ihre Augen blitzten vor Wut.
»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Was sollte das?«, schrie Corinna.
»Ich war im Fieberwahn. Wer weiß, was noch alles passiert wäre, wenn ich euch nicht unterbrochen hätte.«
Corinna zog einen Schmollmund. »Und? Ich liebe Timo.«
Ich seufzte. »Vorige Woche hast du Daniel geliebt und davor – wie hieß er gleich?«
»Jetzt sehe ich Timo wahrscheinlich nie wieder. Musst du immer alles kaputt machen?« Ein paar Tränen kullerten über ihre Wangen. Wenn Timo wirklich der war, für den meine Schwester ihn hielt, würde er sich schon wieder blicken lassen – verrückte Schwester hin oder her. Sie begriff einfach nur nicht, was für einen Riesengefallen ich ihr soeben getan hatte, aber irgendwann würde sie mir noch dankbar sein.
Der Wasserkessel pfiff. Ich nahm ihn von der Herdplatte und suchte nach einer Abstellmöglichkeit, doch alles war mit benutztem Geschirr, Tassen und Gläsern vollgestellt.
Plötzlich war mir, als würde alle Kraft aus meinem Körper weichen. Meine Beine zitterten, dann auch die Arme. Keinen Augenblick könnte ich länger den Teekessel halten, hastig stellte ich ihn wieder auf den Herd. Heißes Wasser platschte auf die Herdplatte.
»Mir geht’s echt nicht gut. Und du räumst die Küche auf. Ich habe es satt, eure Putzfrau zu spielen. Ich … bin … krank!« Selbst meine Stimme klang schwach. Ich musste ins Bett. Sofort. Noch bevor ich die Tür erreichte, rief Corinna mir nach: »Du hast mir gar nichts zu sagen. Du bist nicht unsere Mutter!«
Nein, war ich nicht. Nur die drei Jahre ältere Schwester, die sich Sorgen machte, dass Corinna den gleichen Weg einschlagen könnte.
Ich schreckte aus einem seichten Schlummer und wusste im ersten Moment nicht, wo ich mich befand. Da bemerkte ich Corinna, die in meinem Zimmer stand. Sie hielt einen dampfenden Becher mit Tee in der einen Hand, mit der anderen streckte sie mir eine weiße Tablette entgegen. Aspirin.
»Danke«, krächzte ich, nachdem ich mich mit einiger Anstrengung im Bett aufgesetzt hatte, um das Medikament schlucken zu können. Corinna stopfte das Kissen hinter meinen Rücken und setzte sich auf die Bettkante.
»Es tut mir leid, ich wollte dich vorhin nicht anschreien. Hier, ich hab dir Tee gemacht.« Gott sei Dank, Corinna war mir nicht mehr böse, weil ich Tim oder Tom oder wie auch immer er hieß, vergrault hatte. Ich wollte nicht immer die Vernünftige sein und doch blieb mir oft nichts anderes übrig.
»Die Küche hab ich auch aufgeräumt. Ich wollte dir was zu essen machen, aber es ist kein Brot da.«
»Im Schrank ist Knäckebrot. Im Tiefkühlschrank findest du bestimmt auch was. Aber ich habe eh keinen Hunger. Nur Durst«, sagte ich.
»Ich bin auch nicht hungrig«, meinte Corinna.
Sie legte sich zu mir und nahm mich in den Arm. Corinna streichelte über mein verschwitztes Haar, strich es aus meinem Gesicht. Ich schloss die Augen und merkte, wie ich wieder schläfrig wurde. In diesem Moment war die Welt vollkommen in Ordnung. Genau so, wie sie sein sollte.
Als ich wieder wach wurde, fühlte sich mein Kopf immer noch heiß an, aber wenigstens hatte ich das Gefühl, wieder klar denken zu können. Die Tablette hatte geholfen. Wie spät war es eigentlich? Das Fieber würde sicher wieder steigen, aber im Moment ging es mir besser. Das Kissen roch nach Essig und Krankheit. Ich auch. Ich musste das Bett neu beziehen. So, wie es jetzt war, konnte ich unmöglich darin liegen bleiben.
Ich brauchte zwei Pausen, weil sich alles um mich drehte. Wie ich es hasste, krank zu sein! Ich kam mir so hilflos vor, wie ein kleines Kind.
Das Badezimmer musste geputzt werden, auf dem Spiegel und dem Waschbecken waren Kalk- und Zahnpastaspritzer. Aber nicht jetzt. Zumindest lag noch ein einziges sauberes Handtuch im Schrank. Das nahm ich heraus und hängte es über die Duschwand. Auch um die Wäsche konnte ich mich in meinem Zustand nicht kümmern. Vielleicht morgen. Ich zog das T-Shirt über den Kopf, stieg in die Duschkabine und drehte das Wasser auf. Schön heiß. Irgendwo hatte ich mal gehört, man solle nicht heiß duschen, wenn man Fieber hat, aber was soll’s, mir tat es gut. Dampf legte sich auf den Spiegel und die Kacheln. Ich seifte mich ein und wusch auch meine Haare. Ob das so eine gute Idee war? Nasse Haare bei Grippe und Fieber? Egal. So gut es ging, rubbelte ich zuerst mein Haar trocken und wickelte das Handtuch dann um meinen Körper. Bei unserem alten Fön würde es wie immer ewig dauern, bis meine langen Haare trocken waren, aber was blieb mir anderes übrig?
Ich fönte noch, als die Wohnungstür zugeschlagen und Schuhe an die Wand gepfeffert wurden. Mein erster Gedanke galt Corinna. Sie hatte sich doch nicht, während ich schlief, aus der Wohnung geschlichen? Sie hatte mir hoch und heilig versprochen, um neun wieder zu Hause zu sein. Als ich etwas poltern hörte, wusste ich, dass es nicht meine Schwester war. Sie würde sich bemühen, leise zu sein. Also war Mutter heimgekommen.
Ich lauschte auf Stimmen oder Gekicher, aber außer einzelnen unsicheren Schritten hörte ich nichts. Wenigstens war sie allein, wenigstens das. Innerlich wappnete ich mich für das, was kommen würde. Gleichzeitig wusste ich, dass meine Erwartungen meist noch übertroffen wurden. Oder besser: untertroffen.
Mutter wankte ins Badezimmer, schob sich an mir vorbei und setzte sich auf die Klomuschel. Sie sah beschissen aus. Verbraucht, betrunken. Eher wie fünfzig und nicht wie Mitte dreißig.
An guten Tagen versuchte ich, Verständnis für sie aufzubringen. Mutter hatte es nicht leicht im Leben. Schwanger mit sechzehn, mit siebzehn das erste Kind – mich. Von meinem Vater bekam sie keine Unterstützung, ich kannte ihn nicht einmal. Ehrlich gesagt, wollte ich ihn auch nicht kennenlernen. Was musste das für ein Blödmann sein, wenn er seine schwangere Freundin im Stich ließ!
Trotzdem hatte Mutter es eine lange Zeit geschafft. Geld hatten wir nie viel, aber das hatte mich nie gestört. Damals hatten wir noch viel Zeit miteinander verbracht, waren gemeinsam in den Park und auf den Spielplatz gegangen, hatten Waffeln und Gugelhupf zusammen gebacken.
Jetzt fragte sie nicht einmal, wie es mir ging, dabei hatten wir einander seit fast zwei Tagen nicht gesehen.
Ich stellte den Fön aus. »Wir haben nichts zu essen da.« Ich hoffte, zu ihr durchzudringen, und wusste gleichzeitig, wie sinnlos mein Unterfangen war. In diesem Zustand war Mutter alles egal.
Und tatsächlich zog sie nur den Slip hoch, vergaß zu spülen und verließ wortlos und schwankend das Badezimmer.
Mir war übel, als ich den Taster für die Spülung drückte. Wütend wischte ich Tränen von meiner Wange. Ich hasste mich dafür, immer noch enttäuscht zu sein, immer noch zu hoffen. Sie hatte nicht einmal geantwortet.
Mit offenen Augen lag ich später im Bett. Das Fieber stieg wieder. Meine Zähne klapperten, ich fühlte mich elend. Mir war zum Heulen und ich fragte mich, ob es daran lag, dass ich krank war, oder daran, dass ich meine Mutter verabscheute. Vielleicht stimmte es ja doch, was ich gehört hatte, und duschen war keine gute Idee gewesen.
Ich drehte mich zur Seite und vergrub das Gesicht in das neu bezogene Kissen. Es roch nach Weichspüler. Sommerwiese und Frische. Der Schüttelfrost wurde schlimmer, meine Zähne machten jedem Trommelwirbel Konkurrenz. So fest ich konnte, wickelte ich mich in die Decke. Aspirin hatte schon vorhin geholfen. Aber jetzt aufzustehen, um mir noch eine Tablette zu holen, schien mir unmöglich. Doch es nützte nichts. In dem Zustand würde ich bestimmt nicht einschlafen, also quälte ich mich hoch. Wie schön war es gewesen, als meine Mutter mir nächtelang die Hand gehalten und Essigwickel gegen das Fieber gemacht hatte. Ich habe diese Wickel gehasst. Meine Füße waren danach verschrumpelt und das ganze Zimmer hatte nach Essig gerochen, aber nun wünschte ich mir diese Zeit herbei. Ich hätte alles ohne Widerspruch erduldet, selbst die hutzeligen Füße, wenn sie nur nach mir gesehen hätte.
Der Weg ins Bad kam mir unendlich lang vor. Ich musste mich an der Wand abstützen, weil die Beine so stark zitterten. In der Verpackung waren noch zwei Tabletten. Eine davon drückte ich aus der Hülle und steckte sie in den Mund. Mit der hohlen Hand schöpfte ich Wasser aus der Leitung, schluckte das Aspirin hinunter und hatte das Gefühl, es würde quer im Hals stecken. Ich füllte Wasser in den Zahnputzbecher, trank, um das unangenehme Kratzen im Hals loszuwerden, und nahm einen vollen Becher und das letzte Aspirin mit ins Zimmer.
Es kam mir wie eine kleine Ewigkeit vor, bis die Tablette wirkte und der Schüttelfrost nachließ. Vor Erschöpfung fielen meine Augen zu.