Kapitel 11
In der Mittagspause stand ich abseits und betrachtete das Treiben um mich herum. Es war kalt, aber nicht so sehr wie in den letzten Tagen. Während ich in meinen Apfel biss, beobachtete ich die Schüler aus der Unterstufe und dachte mir, wie wenig wir uns im Grunde in den paar Jahren verändert hatten. Mein Blick wanderte zu den Mitschülern meiner Stufe. Auch jetzt, nach über vier Jahren, standen die Mädchen meines Jahrgangs immer noch in Grüppchen herum und kicherten. Die Jungs taten alles, um deren Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, genauso, wie es die Unterstufenschüler machten.
Aus dem Augenwinkel sah ich rechts von mir etwas aufblitzen, als hätte jemand ein Foto gemacht. Doch keiner der Schüler hielt einen Fotoapparat in der Hand. Niemand sah aus, als würde er für ein Foto posieren. Wahrscheinlich nur die Nerven! Doch unwillkürlich dachte ich wieder an den Mann bei der Bushaltestelle.
Jemand trat von hinten auf mich zu und ich zuckte zusammen. Es war Leon. Er sprach kein Wort, stand nur neben mir. Weil er keine Anstalten machte, irgendwas von sich zu geben, sagte ich: »Julia wird am Montag beerdigt. Wir sollen um zehn am Friedhof sein.«
Er nickte. »Okay.«
Ich biss mir auf die Lippen. Jetzt frag ihn doch, schrie es in mir. Ich stieß meinen Atem aus. Die Gelegenheit, auf die ich schon seit dem Morgen gewartet hatte, war da – und ich stellte mich an wie der letzte Mensch.
»Wirst du mit dem Auto fahren?« Na bitte, ich hatte es herausgebracht, ohne Stottern, ohne Zögern.
Leon zog die Brauen hoch. »Ich? Mit dem Auto? Wie kommst du drauf?«
Mist. Ich hatte wieder nicht weitergedacht, mir nicht zurechtgelegt, was ich auf solch eine Frage antworten sollte, und jetzt musste ich improvisieren, was mir gar nicht lag und in einem Desaster enden würde, wie ich mich kannte. Aber zurück konnte ich auch nicht mehr.
»Na ja. Ich bilde mir ein, dich schon mal in einem Auto gesehen zu haben.«
»Das war tatsächlich Einbildung. Ich habe keinen Wagen.«
»Nicht? Auch keinen Führerschein? Ich mein, alle Jungs …«
Leons Blick ging mir unter die Haut. »Ich bin halt nicht wie alle. Ich dachte, das hättest du mittlerweile kapiert.« Dann drehte er sich um und ging. War er beleidigt, weil ich ihm eine harmlose Frage gestellt oder weil er was zu verbergen hatte? Und eine Antwort hatte ich auch nicht bekommen. Theresa, du bist ein Hornochse, sagte ich mir. Gleichzeitig kroch Wut auf die Polizeibeamtin in mir hoch. Für Karin Zauner wäre es ein Leichtes gewesen herauszufinden, ob Leon einen Führerschein besaß oder nicht. Wahrscheinlich hatte sie das sogar überprüft und mir nichts davon gesagt. Ich würde sie noch einmal anrufen und sie fragen müssen. Mehr als auch von ihr eine Abfuhr oder eine nichtssagende Antwort zu erhalten, konnte mir nicht passieren – und langsam gewöhnte ich mich daran. Es gab Schlimmeres.
Es gab tatsächlich Schlimmeres, wie ich herausfand, als ich um halb sechs von der Schule heimkam. Ich hätte schon ahnen müssen, dass etwas ganz und gar nicht stimmte, als ich die Wohnungstür aufschloss und meine Mutter in der Küche summen hörte. »Dancing Queen« von ABBA. Was war denn jetzt los?
»Theresa?«
»Ja, ich bin’s«, rief ich zurück. Wer sollte es sonst sein? Corinna hatte zwei Stunden vor mir ausgehabt und sollte bereits zu Hause sein.
Ich schlüpfte aus meinen Schuhen, hängte die Jacke auf und bemerkte, dass alles ordentlich verstaut und zusammengeräumt war. Hatte das Mama getan? Und wenn ja, was war plötzlich in sie gefahren? Schon in der Früh Waschen, jetzt Kochen und auch noch Aufräumen? Das passte nicht zu ihr. Nicht zu der Mutter, die sie in den letzten Jahren gewesen war. Nein, ich war unfair. Natürlich gab es immer wieder gute Zeiten, in denen sie sich um das meiste kümmerte. In denen sie versuchte, alles, was sie verbockt hatte, wiedergutzumachen. Dies war anscheinend eine solche Phase. Wie lange würde sie anhalten? Lange genug, um Corinna falsche Hoffnungen zu machen, sie glauben zu lassen, es hätte sich etwas geändert, und sie dann wieder zu enttäuschen? Da hatte ich es leichter. Ich hoffte nicht mehr.
Im Zimmer legte ich den Rucksack ab und gesellte mich zu meiner Mutter in die Küche. Ich musste zugeben, was auch immer sie kochte, es roch echt gut und mein Magen erinnerte mich knurrend daran, dass ich mittags nur einen Apfel gegessen hatte.
»Hast du Hunger? Es dauert noch ein wenig, aber du kannst ja den Tisch decken. Für vier, bitte.«
Ach, daher wehte der Wind! Sie hatte einen Kerl kennengelernt. Wieder einmal. Den nächsten auf der langen Liste der Ersatzpapas, die ich und Corinna bereits präsentiert bekommen hatten. Die meisten ergriffen allerdings die Flucht, wenn sie von uns erfuhren. Kein Mann wollte eine Frau mit Kindern. Oder es waren Perverse, die meine Mutter gerade wegen uns Mädchen ausgewählt hatten. Ich war also gewappnet und rechnete mit allem. Wir haben es schon so oft durchgestanden, wir stehen es auch ein weiteres Mal durch, sagte ich mir. Ich hatte Übung darin, Männer zu vergraulen.
Das hatte man heute ja bei Leon gesehen. Als ich in der Vitrine, in der wir das gute Geschirr aufbewahrten, mein Spiegelbild im Glas sah, streckte ich mir selbst die Zunge raus. Vielleicht sollte ich mal Nachhilfestunden bei Corinna nehmen. Die wusste, wie man mit Jungs umging.
Wenig später war der Tisch gedeckt und ich klopfte an Corinnas Tür.
Ich steckte den Kopf ins Zimmer. Corinna lag auf dem Bauch im Bett und schrieb etwas in ein Heft.
»Bist du beschäftigt?«
Sie verzog das Gesicht. »Bio-Hausaufgaben. Der Steinmenger hat echt ein Rad ab.«
Corinna setzte sich auf und zog die Beine an, um mir Platz zu machen.
Ich ging hin und legte mich zu ihr. »Der Steinmenger macht’s wenigstens interessant. Es gibt viele, die Bio als Wahlfach nehmen. Ich auch.«
Corinna zog eine Schnute. »Und das kommt sicher nicht daher, weil er gut aussieht?«
Ich lachte. »Findest du? Na ja, ich muss zugeben, dass er sich für sein Alter ganz gut hält. Dabei ist der doch uralt!« Wie alt mochte Steinmenger sein? Fünfunddreißig, vierzig?
»Doch, er sieht echt cool aus. Und das sag nicht nur ich, sondern die Hälfte der Mädchen in meiner Klasse. Außerdem ist er nicht so gruftig wie die anderen Lehrer. Bloß seine Hausaufgaben sind das Letzte. Ehrlich!«
»Tja, man kann halt nicht alles haben. Sag mal, hast du schon mitgekriegt, dass wir einen Gast zum Abendessen erwarten?« Ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Corinna verzog das Gesicht. »Ja, klar. Mama singt altes Zeug und tut so, als wäre sie wieder jung. Na egal. Es wird ohnehin nicht lange halten.«
Es kam mir irgendwie falsch vor, meine kleine Schwester wegen Leon um Rat zu fragen. Aber was sollte ich sonst tun? Ich hatte keinen Schimmer, wie ich ihn weich kriegen könnte. »Du, Corinna?«
»Hm?«
»Also, es gibt da einen Jungen …«
Meine Schwester legte das Heft weg. Sofort hatte ich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit und ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Und du stehst auf den? Oder ist er verknallt in dich?«
Ich schüttelte den Kopf und merkte, dass ich rot wurde. Corinna würde denken, das käme von meiner Verlegenheit. Aber ich wusste, dass ich deswegen Farbe aufzog, weil ich gerade im Begriff war, meine Schwester anzulügen, und das, wo ich ihr gegenüber immer predigte, die Wahrheit zu sagen. Wie sehr musste ich mich noch verbiegen, um etwas über Julias Todesumstände herauszufinden? So viel wie nötig, sagte ich mir und beruhigte mein schlechtes Gewissen.
»Nein, also es ist eher … äh … Ersteres«, brachte ich hervor.
Corinna riss die Augen auf, klatschte in die Hände und sprang und hüpfte auf dem Bett umher, während sie mit hochgehobenen Armen einen Jubelschrei ausstieß. »Theresa ist verli-hiebt, Theresa ist verli-hiebt! Na endlich!«
Ich ergriff ihre Hand und zog sie wieder zu mir herunter. »Spinnst du?«, zischte ich. »Es muss ja nicht gleich die ganze Welt wissen.«
Corinna setzte sich wieder. »Schon gut. Ich freu mich nur, dass du dich endlich auch mal in wen verguckt hast. Wer ist er, wie heißt er? Kenn ich ihn?« Sie war völlig aus dem Häuschen.
Ich seufzte. Ich würde Leons Namen bestimmt nicht nennen, aber ganz im Unklaren konnte ich sie auch nicht lassen, sonst würde sie eingeschnappt sein und mir nicht helfen wollen.
»Du kennst ihn vom Sehen. Er geht in meine Stufe«, antwortete ich ihr.
»Hm und was ist mit ihm? Mag er dich auch?«
»Na ja, ich weiß nicht. Man kann sich super mit ihm unterhalten, aber irgendwie sag ich immer was Blödes und dann lässt er mich stehen. Heute wieder. Dabei wollte ich nur wissen, ob er einen Führerschein hat, weil doch alle Jungs drauf aus sind, möglichst bald mit einem Auto durch die Gegend zu flitzen.«
»Und? Hat er?« Corinna schien es aufregend zu finden, dass mein potenzieller neuer Freund mobil war.
Ich zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Er hat’s mir nicht gesagt. Er meinte, er sei nicht wie alle – und dann ist er einfach gegangen.«
Corinna tippte mit dem Schreibstift auf ihre Lippen. »Schwieriger Fall. Normalerweise protzen Jungs gerne mit so was. Ich mein, das ist es doch, worauf Mädchen in der Regel abfahren – wenn einer einen Führerschein und ein Auto hat.«
»Ein Auto hat er aber nicht«, gab ich zu bedenken.
»Vielleicht hast du seinen wunden Punkt erwischt«, sagte Corinna. Sie hatte recht. Nur dass Leons wunder Punkt nicht das fehlende Auto war.
»Und wenn er einfach nicht gerne angibt?«, sagte ich.
»Alle Jungs tun das, glaub mir. Besonders vor ihren Freunden. Da geht es doch immer nur darum, wer das bessere Smartphone hat, wer die cooleren Klamotten trägt, wer mehr Freundinnen gehabt hat. Nur bei Timo nicht. Der ist anders als die anderen. Der liebt mich und darum lieb ich ihn auch.«
Ich holte Luft, um ihr zu antworten, doch meine Schwester hob ihren Zeigefinger. »Fang bloß nicht wieder damit an!«
»Schon gut. Nur eins: Wenn Timo anders ist als die anderen und alle Jungs nur das eine wollen, dann müsste er sich zurückhalten können, oder?«
Ich kam mir genial vor. Wenn das kein guter Schachzug war! Doch mit ihren nächsten Worten setzte mich Corinna matt. »Oh ja, Timo schon, bloß ich nicht. – Aber um auf deinen Typen zurückzukommen«, sprach meine Schwester weiter, ohne zu merken, wie sehr mich ihre Worte eben geschockt hatten. »Timo kann es auch nicht leiden, wenn er mit den anderen Jungs in den gleichen Topf geworfen wird. Vielleicht tickt deiner ja ähnlich.«
Meiner, wie sich das anhörte! Fast hätte ich laut gelacht. Aber Corinna hatte mir einen wichtigen Ansatz geliefert, mit dem ich vielleicht weiterkam. Leon war durch und durch Individualist. Wenn ich ihn nicht vergraulen wollte, dann durfte ich nicht von meinem spärlichen Wissen über Jungs ausgehen. Ich würde mich ganz auf ihn einlassen müssen, würde ihn, seine Persönlichkeit, kennenlernen müssen. Irgendwie freute ich mich darauf, Leon das nächste Mal zu sehen. Ich redete mir ein, dass ich bloß unbedingt mein neu erlangtes Wissen über die Spezies Jungs anwenden wollte.
»Timo weiß alles über mich«, sagte Corinna da gerade. »Ich habe echt keine Geheimnisse vor ihm.«
»Auch, dass du noch mit sechs ins Bett gemacht hast?«, fragte ich grinsend.
Corinna boxte mich auf den Arm. »Blödfrau! Das würde ich ihm nie verraten. Außerdem stimmt das nicht.« Ich wusste, ihre Laune würde gleich kippen, daher lenkte ich ein: »Was ich damit sagen wollte, ist, dass es immer etwas gibt, was man lieber für sich behält, oder? Auch wenn man verliebt ist.«
Corinna dachte nach. »Aber wem sollte man sonst alles erzählen, wenn nicht dem, den man liebt?«
Eine gute Frage. Für mich gab es niemanden mehr, dem ich wirklich alles erzählen konnte. Julia hatte ich viel erzählt, aber mit dem ganzen Mist mit meiner Mutter und so habe ich ihr auch nicht in den Ohren hängen wollen. Ob es umgekehrt auch so war? Hatte sie ebenfalls Geheimnisse gehabt, die sie nicht einmal mir, ihrer besten Freundin, anvertrauen wollte?
Ich dachte daran, dass ich in schwierigen Zeiten Tagebuch geführt hatte. Da hatte ich meine Gefühle, meinen Hass auf meine Mutter, meine Verzweiflung hineingeschrieben. Einfach alles. Auch jene Dinge, die ich Julia nie erzählen konnte, weil sie, in ihrer heilen Welt, meine Probleme nicht verstanden hätte.
Irgendwann, nachdem Corinna meine Tagebücher in meinem Versteck gefunden und gelesen hatte, verbrannte ich sie. Seitdem ließ ich die Finger davon, aber ich wusste, dass auch Julia mal Tagebuch geschrieben hat. Wenn sie sich schon nicht mir anvertraut hatte … vielleicht würde ich in ihrem Tagebuch etwas Hilfreiches entdecken. Auf jeden Fall war ich bereit, mich an jeden erdenklichen Strohhalm zu klammern, um die Wahrheit über Julias Tod zu finden.
Corinna schubste mich an. »Also, wem würdest du deine Geheimnisse verraten?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Und jetzt, wo Julia tot war, hatte ich nicht einmal mehr sie. Aber ich war bisher gut damit klargekommen, Dinge für mich zu behalten. Ohnehin fand ich, dass man nicht alles unbedingt herausposaunen musste.
Bevor Corinna mir noch mehr unangenehme Fragen stellen konnte, auf die ich keine Antwort wusste, stand ich auf.
»Komm«, sagte ich. »Hoffentlich ist Mamas Gast bald da, ich habe einen Bärenhunger.«
Da hörte ich auch schon die Türklingel. Ich atmete durch, wappnete mich innerlich auf das bevorstehende Abendessen und nahm mir vor, meinen Appetit von nichts und niemandem verderben zu lassen.
9. Februar 2012
So wie mein Leben zurzeit verläuft, ist es einfach nur beschissen. Ich kenne mich selbst kaum mehr, tue Dinge, die ich früher nie getan habe – und es erschreckt mich, wie leicht sie mir von der Hand gehen. Wie leicht mir Lügen über die Lippen kommen, als hätte ich Übung darin.
Mein Vater wurde zu einem Notfall gerufen und in der Eile vergaß er das Handy auf seinem Schreibtisch. Ich ging sein Telefonverzeichnis durch und fand Melissas Namen und ihre Nummer. Gut, es gab keine kompromittierende SMS, keine Liebesschwüre, aber so dumm wäre er wohl auch nicht. Schließlich tat er das ja nicht zum ersten Mal.
Ich durchsuchte die Schreibtischschubladen, fand aber nichts. Wäre ja auch ziemlich blöd von meinem Vater, wenn er seine Liebesbriefe im Haus aufbewahren würde, wo sie meine Mutter oder ich finden könnten. Doch irgendetwas musste es doch geben. Oder vielleicht war Melissa anders gestrickt als ich oder die anderen Mädchen in meinem Alter und sie legte keinen Wert auf Briefe, Fotos oder sonstige Liebesbeweise. Nur kann ich mir das ehrlich gesagt nicht vorstellen. Alle Mädels, die ich kenne, mich eingeschlossen, verzieren Hefte und Mappen mit den Initialen ihres Liebsten. Na ja, Tessa vielleicht nicht. Aber das wird sich auch noch ändern … wer weiß!
Mädels schreiben Briefchen, telefonieren, haben mindestens ein Foto von »ihm« dabei, schreiben Mails. Vielleicht hatte Melissa ja wirklich gemailt, wo sie doch so darauf bedacht war, vor ihren Eltern ihre Freunde zu verbergen. Und wenn mein Vater ihr Liebhaber war, kann ich ihre Heimlichtuerei umso besser verstehen.
Ich habe mir das Gespräch mit Melissas Eltern noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Auch wenn die Polizei ihnen bestimmt von dem Baby erzählt hatte, mir gegenüber hatten sie es mit keinem Wort erwähnt. Warum nicht? Ging es ihnen darum, den Schein zu wahren, oder verdrängten sie die Wahrheit, weil nicht sein kann, was nicht sein darf?
Wie einfach wäre es für mich, ebenfalls die Augen zu verschließen und so weiterzuleben wie bisher. Aber ich bin nicht wie die Schikols. Es wäre nicht richtig, die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Heute früh vor der Schule hatte ich schon wieder das Gefühl, beobachtet zu werden, aber Theresa lachte mich aus. Sie wirbelte herum, zeigte auf die Menge der Schüler, die jeden Morgen vor Unterrichtsbeginn vor dem Schulgebäude warten, und fragte, ob ich erst jetzt merken würde, dass ich seit dem Fund immer von allen angestarrt würde. Ehrlich gesagt, ist mir das wirklich noch nicht aufgefallen. Aber es wundert mich nicht, dass ich Dinge sehe, die es nicht gibt – oder dass mir etwas nicht auffällt, was für alle offensichtlich ist. Das kommt daher, dass ich so gut wie keine Nacht durchschlafe, seit ich Melissas Leiche gefunden habe. Heute zum Beispiel bin ich hochgeschreckt, weil ich sie vor mir sah. Sie lag im Schnee, ganz wie in Wirklichkeit, doch als ich weglaufen wollte, setzte sie sich auf, starrte mich an und öffnete den Mund, als wolle sie mir etwas Wichtiges sagen. Sie streckte ihre Hände nach mir aus. Diese Hände – mit Vaters Handschuhen. Ich erwachte von meinem eigenen Schrei.
Danach hatte ich Angst, wieder einzuschlafen. So kann es nicht mehr lange weitergehen. Ich habe mir sogar überlegt, ob ich mir von meinem Vater nicht ein leichtes Schlafmittel verschreiben lassen soll, und daran sieht man, wie verzweifelt ich bin. Nicht umsonst ist Schlafentzug bis heute noch eine beliebte Foltermethode, wie wir in Geschichte gelernt haben. Von der Idee mit dem Schlafmittel bin ich aber abgekommen, mein Vater würde mir ohnehin keins geben. Mama habe ich auch nicht erzählt, dass ich nicht schlafen kann. Sie macht sich sowieso viel zu viele Sorgen um mich und ihre Medizin kenne ich: ein heißes Bad und einen beruhigenden Tee. Nur dass bei mir beides bisher nicht geholfen hat.
Heute war Notenkonferenz – und wir hatten früher Schulschluss. Tessa und ich haben in der Stadt Leon getroffen und jetzt, nachdem ich darauf achte, bin ich mir sicher, dass er auf sie steht. Ich winkte ihm zu, er nickte, doch Theresa zog mich weiter und zischte mir ins Ohr, wie sehr Leon nerve. Man könne kaum einen Schritt tun, ohne dass er dabei sei. Dabei stimmt das erstens nicht und zweitens würde ich es sogar verstehen. Wie soll er sonst ihre Aufmerksamkeit gewinnen? Das nächste Mal frage ich ihn, ob er sich nicht zu uns setzen will, da kann Tessa sich von mir aus auf den Kopf stellen. Ich mag ihn und es wäre gelacht, wenn ich es nicht fertigbringe, dass sie ihn auch ein klein wenig nett findet.
In Kunst bekomme ich nun doch eine Zwei – auch ohne fertiges Projekt. Die Meinhard meinte, sie habe Verständnis, dass ich meinen Film »unter den gegebenen Umständen« nicht abschließen kann. Ich könne ihn im zweiten Halbjahr immer noch nachreichen. Das bezweifle ich allerdings. Nie wieder werde ich in den Wald oder übers Feld gehen können, ohne Angst zu haben. Theresa meint, das Gefühl würde irgendwann vergehen. Ich hoffe, sie hat recht! Ich hasse es, nicht ich selbst zu sein.
Nicht einmal filmen kann ich mehr. Die Polizei hat mir meinen Camcorder gebracht, weil ich ihn ja verloren hatte. Ich schaffe es nicht mal, ihn einzuschalten. Womöglich funktioniert er überhaupt nicht, seit er im Schnee gelegen hat. Ein paar Mal hatte ich ihn in der Hand, aber sie hat so gezittert, dass ich ihn wieder weggelegt habe. Niemand scheint sich zu wundern, dass ich nicht mehr alles auf Film banne – wahrscheinlich sind die meisten sogar erleichtert. Sie reagierten eh jedes Mal genervt, wenn ich sie mit der Kamera aufnahm.
Ob sich Melissa dessen bewusst war, was ihr Selbstmord bei anderen auslösen würde? Hatte sie sich überlegt, wie das Leben desjenigen, der sie fand, aussehen würde? War ihr das egal gewesen? Mir bleibt nichts anderes übrig, als damit irgendwie zurechtzukommen. Melissa, du weißt ja gar nicht, welche Folgen dein Entschluss, dir das Leben zu nehmen, hat. Leute, die Selbstmord begehen, sind totale Egoisten. Das Einzige, was sie interessiert, sind sie selbst. Klingt hart? Ja, klar. Aber das ist es für mich auch.