Kapitel 18

Mein Handy weckte mich. Ich war über Julias Tagbuch eingeschlafen. Ich sah auf das Display. Leon. Gleichzeitig registrierte ich die Uhrzeit. 8.00 Uhr. Einen Moment lang wurde ich von Panik erfasst, im Glauben, ich hätte verschlafen. Gleich darauf fiel mir ein, dass ich heute nicht in der Schule, sondern um zehn am Friedhof sein musste. Erleichtert hob ich ab. »Guten Morgen«, klang Leons Stimme an mein Ohr.

»Was soll an dem Morgen gut sein?«, grummelte ich.

»Hm, bist du morgens immer so griesgrämig? Nur damit ich in Zukunft vorbereitet bin …«

Ich gab einen Knurrlaut von mir.

»Ich wollte bloß fragen, wie es dir geht.«

»Es geht schon. Es gab bessere Tage. Ich werde es überstehen. … Leon? Kann ich dich was fragen?«

»Hm?«

»Es wird Gerede geben. Ich mein, wenn die anderen uns zusammen sehen.« Mir machte es nichts aus. Ich war es gewohnt, dass über mich geredet wurde, das heißt, eher über meine Mutter. Nur wie Leon dazu stand, wusste ich nicht. Wie so vieles, das ich noch nicht über ihn wusste.

»Das bleibt nicht aus. Möchtest du es lieber geheim halten?«

Ich dachte an unser gestriges Gespräch. Leon hatte seine Beziehung zu Melissa mehr oder weniger geheim halten müssen. Das wollte ich ihm kein zweites Mal antun.

»Nein«, sagte ich entschlossen. »Keine Heimlichkeiten. Es dürfen ruhig alle wissen, dass wir zusammen sind. Wir müssen ja nicht gleich am Schulhof rumknutschen. Das würde den Lehrern wohl auch nicht gefallen.«

»Kein Geknutsche am Schulhof? Jetzt bin ich aber enttäuscht«, antwortete Leon. Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme.

»Dann bis später, ja? Ich muss mich noch für die Beerdigung fertig machen.« Seine Stimme zu hören machte mich zwar froh. Aber ausgerechnet heute kam es mir falsch vor, glücklich zu sein.

Als ich aus meinem Zimmer kam, stand meine Mutter im Bad und fönte sich die Haare. Ihre schlanke Gestalt war ganz in Schwarz gekleidet und sie sah richtig hübsch aus. Von hinten hätte man sie für sechzehn halten können.

Sie drehte sich zu mir um, als sie mich in der Tür bemerkte. »Ich bin gleich fertig. Du solltest dich beeilen, der Bus geht in dreißig Minuten.«

»Ich weiß. Keine Sorge, das schaffe ich locker.«

»Dieser Leon, er ist nett.«

»Ja, das ist er.«

»Seid ihr …?«

Ich lehnte mich an den Türrahmen. »Ja, wir sind.« Ein Grinsen breitete sich über meinem Gesicht aus.

»Liebes, ich freue mich so für dich. Und ich geb dir einen Rat: Genieße das Hier und Jetzt.«

Mir lag schon eine patzige Entgegnung auf der Zunge. Genau das war es, was ich nicht wollte. Ich wollte nicht so sein wie sie. Nur im Hier und Jetzt leben, nicht über Konsequenzen nachdenken. Sie hatte ja zur Genüge demonstriert, wie es ausgehen konnte, wenn man nicht ein paar Schritte weiterdachte. Doch ich sagte nichts. Es hätte eine endlose Diskussion gegeben, wahrscheinlich sogar Streit. Und dafür war jetzt keine Zeit. Und auch nicht der richtige Tag.

Wir erwischten den Bus gerade so. Meine Mutter konnte sich nämlich nicht entscheiden, ob sie Stiefel oder Schuhe anziehen sollte.

Etliche Leute saßen schon drinnen, als wir zustiegen. Anhand ihrer dunklen Kleidung war es nicht schwer zu erraten, dass die meisten von ihnen ebenfalls zu Julias Beisetzung fuhren. Ich fragte mich, warum. Dass ihre Eltern, enge Verwandte, Freunde, Mitschüler sich von ihr verabschieden wollten, sah ich ein, aber all die anderen? Taten sie es aus Neugier? Langeweile? Oder weil Julias Eltern angesehen waren?

Vor dem Friedhofstor warteten etliche Schüler unserer Stufe und Herr Wennecker. Unser Stufenleiter hatte tatsächlich einen Riesenbund weiße Rosen in der Hand.

»Ich geh schon mal rein«, flüsterte meine Mutter, während ich mich zu den anderen gesellte und Ausschau nach Leon hielt. Ich sah auf mein Handy. Noch eine Viertelstunde bis zehn.

Nach und nach trudelten die restlichen meiner Mitschüler ein, nur von Leon war nichts zu sehen. Ich wurde nervös und überprüfte noch einmal die Uhrzeit. Bloß fünf Minuten noch. Hoffentlich würde er auftauchen. Mit ihm an meiner Seite würde ich mich viel sicherer fühlen.

Natürlich kam er. Natürlich ließ er mich nicht im Stich. Leon trug einen Anzug, darüber einen Mantel, den er offen gelassen hatte. Sogar eine Krawatte hatte er umgebunden. Damit sah er total anders aus. Sehr erwachsen, seriös. Aber auch andere Jungs unseres Jahrgangs waren im Anzug erschienen, sogar Jan, den ich bisher nur mit zerrissenen Jeans und T-Shirt oder Rollkragenpulli kannte, hatte sich in Stoffhose und Jackett gequält. Ich konnte mir Leon sehr gut als Banker oder Anwalt vorstellen – oder in irgendeinem anderen Beruf, bei dem man Anzüge tragen musste. Dabei hatte er ganz andere Vorstellungen von seinem Leben. Schade eigentlich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Psychologen Anzüge trugen. Mein Herz schlug einen Takt schneller, als er mir ein kleines Lächeln schenkte. Leon stand nun vor mir und umarmte mich anstelle eines Kusses. Dann nahm er meine Hand. Claudia sprangen fast die Augen raus. Sie stieß Jennifer und Sandra an, die neben ihr standen, und flüsterte mit ihnen. Jennifer schaute zu Leon und mir, fing meinen Blick auf und lächelte uns zu. Sandra winkte herüber und sagte etwas zu Claudia. Ich konnte wegen der Entfernung nicht verstehen, was, aber Claudia ließ die beiden stehen und stellte sich zu einer anderen Gruppe Mitschüler, denen sie brühwarm die Neuigkeit über Leon und mich erzählen konnte. Na ja, es würde wohl nur ein paar Minuten dauern, bis alle wussten, dass wir jetzt ein Paar waren. Claudia würde schon dafür sorgen.

Seite an Seite gingen wir nun zu Wennecker rüber, der jedem von uns eine weiße Rose in die Hand drückte. Ich schnupperte an der Blüte. Sie roch nach nichts.

Geschlossen traten wir durch das Friedhofstor und gingen zur Aufbahrungshalle. Julias Eltern und die engsten Verwandten waren schon drinnen. Frau Mechat hatte geweint, das sah man an ihren geröteten Augen, aber nun hielt sie sich tapfer, als wolle sie vor all den Leuten ihren Gefühlen nicht freien Lauf lassen. Herr Mechat erblickte mich und nickte mir zu. Sein Gesicht schien erstarrt zu sein. Keine einzige Regung konnte man an ihm ablesen.

In der Menge entdeckte ich Karin Zauner, die Polizistin, die ebenfalls gekommen war.

Der Saal füllte sich schnell. Nicht nur unsere Stufe, sondern auch viele andere Schüler waren gekommen. Unglaublich, wie viele Menschen Julias Tod berührte. Irgendwo, weiter hinten, sah ich meine Mutter, die sich mit jemandem unterhielt. Einen Augenblick später schob sich jemand vor sie und ich konzentrierte mich auf die Worte des Pfarrers, die gleichermaßen einstudiert wie austauschbar waren. Wie hätte er denn auch wissen sollen, was Julia ausgemacht hatte? Welche Träume und Wünsche sie gehabt hatte? Trotzdem schienen die anderen Trauergäste es nicht so zu empfinden, denn einige von ihnen weinten oder schluchzten leise.

Danach kamen die Sargträger und hoben den Sarg auf einen Wagen. Die Kränze und Gestecke wurden auf einen eigenen Handwagen geladen. So marschierten wir zum ausgehobenen Grab. Mit einem Flaschenzug wurde der Sarg langsam hinuntergelassen. Julias Eltern warfen als Erste mit einer Schaufel Erde auf den Sarg, danach die anderen Trauernden. In einer endlosen Kolonne schoben sich die Gäste an dem offenen Grab vorbei, Erde oder Blumen fielen auf Julias Sarg. Nur langsam bewegte sich die Menge vorwärts und ich ließ meinen Blick schweifen. Leon hielt noch immer meine Hand. Da sah ich hinter einem Grabstein etwas aufblitzen. Schon wieder. Es war nicht das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, jemand würde mich beobachten. Immer wieder hatte ich es als Hirngespinst oder als Lichtreflexion abgetan. Aber sollte ich meinem Gefühl nicht endlich trauen?

Vielleicht machte mich Leon an meiner Seite mutig. Entschlossen löste ich mich aus der Gruppe und murmelte Leon zu, ich sei gleich wieder da.

Ich bahnte mir den Weg durch die Trauergäste, was mir einige empörte Blicke einbrachte, aber das war mir egal.

Nur noch wenige Meter bis zum Grabstein, hinter dem ich meinen Beobachter vermutete. Mit einem großen letzten Schritt war ich auf der Rückseite des Marmorsteines. Verblüfft starrte ich den Mann an, der sich mit einer Kamera in der Hand dort versteckt hielt.

Ich wusste nicht, wen oder was ich erwartet hatte, aber die Überraschung verschlug mir mit einem Mal die Sprache.

Unmittelbar hinter mir hörte ich Leons Stimme. »Wer zum Teufel …?« In der Hand hielt er immer noch die weiße Rose, als er neben mir zum Stehen kam.

»Die Frage ist weniger wer, sondern was zum Teufel er hier macht«, warf ich ein.

»Kennst du ihn etwa?«

»Ja. Darf ich vorstellen? Das ist Klaus, Mamas neuer Freund.«

»Sind Sie ein Spanner, oder was?«, wollte Leon wissen. Er dachte nicht einmal daran, leise zu sein.

Klaus hob abwehrend die Hände. »Nein, nein. Das bestimmt nicht.«

»Was dann?« Leons Stimme hatte einen drohenden Unterton. Mittlerweile waren die anderen Trauergäste auf uns aufmerksam geworden. Ausgerechnet meine Mutter hatte mich entdeckt und kam zu uns herüber.

Mit hochgehobenen Brauen und offenem Mund blickte sie uns an. »Klaus?«

Erst jetzt bemerkte ich, dass Leon Klaus am Arm gepackt hatte. »Also. Ich höre. Warum verstecken Sie sich hier und was wollten Sie mit der Kamera?«

Klaus’ Blick wanderte von einem zum anderen und sagte dann mit zu Boden gerichtetem Blick. »Ich bin Reporter«, sagte er schließlich.

Immer noch verstand ich nichts. »Ja und? Warum die Heimlichkeiten?« Ich begriff nicht, warum er sich für ein paar Fotos von der Beerdigung hinter einem Grabstein versteckte, es sei denn … Moment! Es ging ihm gar nicht um die Beerdigung.

»Es ist nicht das erste Mal, dass du mich beobachtest, nicht wahr?«

Leon und meine Mutter sahen mich an. Dann stemmte meine Mutter die Arme auf die Hüften und trat einen Schritt auf Klaus zu. »Wie bitte? Du hast meine Tochter verfolgt? Wie lange geht das schon?«

Klaus seufzte, meine Mutter ignorierend. »Ich dachte, du würdest es nicht merken. Angefangen hat es nach dem Selbstmord dieses Mädchens.«

»Melissa. Sie hieß Melissa«, presste ich hervor.

»Wie auch immer, mein Chefredakteur meinte, er will ein paar Fotos von Julia Mechat, die die Leiche gefunden hatte. Schließlich sind ihre Eltern fast wie Prominente in Kleinhardstetten. Doch weder sie noch ihre Eltern waren damit einverstanden, also hab ich heimlich ein paar Fotos gemacht.«

Eine brennende Wut stieg in mir hoch. Am liebsten hätte ich ihm meine Faust in den Magen gerammt oder diese blöde Kamera auf den Boden geschmettert. Er hatte Julia in Panik versetzt, hatte ihr so viel Angst gemacht, dass sie sich kaum mehr traute, allein unterwegs zu sein. Wer weiß, vielleicht war sie vor ihm geflohen und kam deshalb so weit abseits von ihrem Heimweg bis zur Brücke. Das erschien mir sogar sehr plausibel. Wenn es sich so abgespielt hatte, dann war Klaus derjenige, der Schuld an Julias Tod hatte!

Eine rote Wolke schob sich vor meine Augen. Das Nächste, was ich wahrnahm, war Leon, der mich von Klaus wegzerrte, und meine Mutter, die einen Schrei ausstieß.

Mein Atem ging schwer. »Du Mistkerl! Schwein! Du hast Julias Tod zu verantworten!« Der Arsch hatte sich unser Vertrauen erschlichen, nur damit er ein paar Fotos bekam? Enttäuschung schmeckt bitter. Mir wurde schlecht, wenn ich daran dachte, dass ich mich von ihm hatte einwickeln lassen.

Es war mir egal, dass mittlerweile einige der Trauergäste zu uns herübergekommen waren. Ich riss mich aus Leons Umklammerung los. Tränen schossen in meine Augen. Voller Genugtuung nahm ich die Kratzer auf Klaus’ Wangen wahr. Er hatte es nicht anders verdient.

Ich drehte mich um und lief los. Noch vor dem Friedhofstor hatte mich Leon eingeholt. Er ging stumm neben mir her, die Hände in seine Jackentasche versenkt. Er musste weit ausholen, um mit mir Schritt zu halten.

Erst als ich ein bisschen langsamer wurde, weil meine Lungen brannten, hatte er mich erreicht. »Theresa, bleib stehen. Bitte.«

Ich dachte nicht daran. Aber ich drosselte mein Tempo ein wenig. Er legte seinen Arm um mich. Das reichte, um meine Fassung vollends zu verlieren. Tränen rollten über meine Wangen, ich schluchzte und konnte gar nicht mehr aufhören. Leon hielt mich fest und strich über mein Haar und meinen Rücken. Ich weiß nicht, wie lange wir so gestanden hatten, bis ich endlich ruhiger wurde und meine Tränen versiegten. »Ich weiß, es ist schwer«, murmelte er in mein Haar. »Aber es wird besser, das verspreche ich dir.«

»Wann?«

»Es braucht Zeit«, war seine Antwort. Im Gegensatz zu mir hatte er nicht einmal die Gelegenheit bekommen, sich von seinem Bruder zu verabschieden.

»Glaubst du, die Leute sind schon weg?«, fragte ich und zog die Nase hoch.

Leon kramte in seinem Mantel nach einem Taschentuch. Ich lächelte ihn schief an. »Ich sollte mir endlich angewöhnen, selber Taschentücher einzustecken. Jedes Mal musst du mir aushelfen.«

Er lächelte zurück. »Ich glaube, wir können wieder zurück. Egal, ob noch wer da ist oder nicht.«

Als wir den Friedhof wieder betraten, standen die Menschen in kleinen Grüppchen zusammen. Wenn jemand Notiz von mir nahm, ließen sie es sich nicht anmerken. Nur meine Mutter kam auf mich zu, als sie mich entdeckte. Sie hielt zwei Rosen in der Hand. Ich nahm an, sie hatte meine aufgehoben. Die zweite gehörte wahrscheinlich Leon, der ihr seine in die Hand gedrückt hatte, bevor er mir nachgegangen war. »Es tut mir so leid«, sagte sie leise.

»Du kannst doch nichts dafür«, sagte ich. Oder doch? Immerhin hatte sie Klaus mit in die Familie gebracht.

Als hätte sie meine Gedanken gelesen, fuhr sie fort: »Ich wusste nicht, woran er arbeitet. Er hat mir nur gesagt, er fotografiere für die Zeitung.« Sie raufte ihre Haare. »Wie konnte ich nur so blöd sein, war doch alles zu schön, um wahr zu sein! … Es tut mir leid, meine Kleine. Es tut mir so leid.«

Ich trat einen Schritt auf sie zu und drückte meine Mutter fest an mich. Sie schluchzte laut auf. Wenigstens in diesem kurzen Moment konnten wir füreinander da sein. Denn ich war mir sicher, sie würde ihren Kummer wie immer ertränken. Die gute Phase war vorbei. Und diesmal hatte sie verdammt kurz angehalten.

Endlich stand auch ich vor Julias Grab. Ich warf meine Rose zu den anderen Blumen. Das alles war nicht sie, dachte ich. Ein Loch in der Erde, ein Sarg, der, so schön er auch gearbeitet war, letztendlich doch nur eine Holzkiste war. Ein Haufen Blumen, die schon morgen verwelkt sein würden. Ich spürte, wie sich Leons Arm um meine Schultern legte. »Komm«, flüsterte er.

Alles, was ich wollte, war, jetzt in Ruhe gelassen werden. »Lass mich bitte eine Weile allein«, wisperte ich.

Leon nickte. »Wir sehen uns später, vielleicht in der Schule.«

Schule? Keine Ahnung, ob ich heute überhaupt noch hingehen würde. Im Moment war alles andere weit weg von mir.

»Theresa?« Meine Mutter stand jetzt unmittelbar neben mir. »Ich fahre jetzt nach Hause.«

In ihrer Stimme hörte ich, dass sie hoffte, ich würde sie begleiten. Aber ich hatte keine Lust, mir den Rest des Tages ihre Entschuldigungen wegen Klaus anzuhören. Meine Kraft war aufgebraucht.

Wie lange ich vor Julias Grab stand, wusste ich nicht. Irgendwann merkte ich, dass es ruhig am Friedhof wurde. Die Gäste waren gegangen. Alle, bis auf Herrn und Frau Mechat, die noch mit dem Priester etwas zu bereden hatten.

Der Zeitpunkt war falsch, aber gäbe es überhaupt je einen richtigen? Also konnte ich es genauso gut jetzt hinter mich bringen und Herrn Mechat von Julias Tagebuch und ihrem Verdacht erzählen. Jemand hatte Julia zur Brücke gebracht und es war total unlogisch, dass es sich dabei um Julias eigenen Vater gehandelt hatte. Blieb nur noch Klaus. Julia hatte das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden, so viel konnte ich den Tagebuchaufzeichnungen entnehmen. Klaus hatte ja zugegeben, sie seit ihrem Leichenfund beobachtet zu haben. Wahrscheinlich war es auch er bei der Bushaltestelle und später bei der Brücke gewesen, der mir auf den Fersen gewesen war. Er hatte mir eine Heidenangst eingejagt. Doch je länger ich darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher schien es mir, dass Klaus tatsächlich Schuld an Julias Tod hatte. In der Nacht, als Julia starb, war meine Mutter spät nach Hause gekommen und ich hätte wetten können, dass sie mit ihm zusammen gewesen war. Ich war krank gewesen und alles, woran ich mich erinnern konnte, war schwammig. Ich würde also meine Mutter fragen müssen, ob sie und Klaus gemeinsam unterwegs gewesen waren und ob sie noch wusste, um welche Uhrzeit sie heimgekommen war. Allerdings stand die Chance schlecht, von ihr über diesen Abend etwas zu erfahren. Auch wenn ich fiebrig gewesen war, wusste ich eines noch sehr gut: Meine Mutter war ziemlich betrunken gewesen.

»Theresa!«, wurde ich aus meinen Überlegungen gerissen. Ich hatte gedacht, alle seien schon gegangen, doch Frau Mechat stand neben mir und schenkte mir ein zaghaftes Lächeln. Einmal mehr bewunderte ich sie für ihre Stärke und die Wärme, die sie trotz des Todes ihrer Tochter anderen geben konnte.

»Wir haben ein Buffet arrangiert. Du kommst doch auch?«

Ich dachte an jede Menge Leute, die dort herumstehen und sich der Situation total unangemessen mit Essen vollstopfen würden. Darauf konnte ich gut verzichten. Wahrscheinlich wären ohnehin nur die engsten Freunde und Familienmitglieder da. Ich würde nur stören.

Als hätte sie meine Gedanken erraten, meinte sie: »Wenn jemand dabei sein sollte, dann du. Du warst ihre beste Freundin.« Herr Mechat nickte. »Natürlich kommt sie mit, nicht wahr, Theresa?«

Ich seufzte. Vor so viel geballter Überzeugungskraft konnte ich nur resignieren. »Also gut.«

Sie verabschiedeten sich von dem Geistlichen, nahmen mich in die Mitte und wir gingen gemeinsam zum Auto. Vielleicht würde sich die Gelegenheit ergeben, mit Herrn Mechat ungestört zu reden.

Die Einfahrt der Mechats war zugeparkt, als wir ankamen. »Dürfen die denn einfach so rein?«, fragte ich. Ich hatte immer gedacht, die Gastgeber müssten ihre Gäste erwarten.

»Meine Mutter und Frau Valis haben die Leute in Empfang genommen«, sagte Frau Mechat. Frau Valis war ihre Nachbarin. Sie war so etwas wie ein Großmutterersatz gewesen, da Julias eine Oma zu weit weg wohnte und die andere, Herrn Mechats Mutter, bereits gestorben war, bevor Julia auf die Welt kam.

Jemand hatte Blumen in der Diele arrangiert und ich meinte, die Handschrift meiner Mutter zu erkennen. Es wäre naheliegend gewesen, sie damit zu beauftragen.

»Hat deine Mutter das nicht schön gemacht?«

»Ja, das hat sie.«

Das Erste, was mir auffiel, als ich ins Wohnzimmer trat, waren noch mehr Blumen und Leute, die sich angeregt miteinander unterhielten. Die meisten hatten Brötchen oder Weingläser in der Hand. Nie im Leben wäre ich darauf gekommen, es könne sich hier um eine Trauerfeier handeln, hätten die Gäste nicht vorwiegend schwarze Kleidung getragen. Es sah eher nach einer langweiligen Party aus. Wie konnten sie den Anlass vergessen haben? Julia war tot und es wurde getrunken und gegessen, ja sogar hin und wieder gelacht. Ich holte mir einen Orangensaft und stellte mich abseits an eine Wand. Dort, so hoffte ich, würde mich niemand ansprechen.

Frau Mechat hatte sich zu zwei Frauen gesellt und unterhielt sich mit ihnen. Ich stellte mein Glas ab. Es war an der Zeit, Julias Vater zu suchen. Was ich ihm zu sagen hatte, wäre ein Schock für ihn. Noch einer mehr. Zuerst das Verschwinden, dann die Nachricht vom Tod seiner Tochter. Am liebsten hätte ich meinen Entschluss verworfen, hätte das Ganze für mich behalten. Doch das wäre nicht richtig gewesen. Julia hatte ihre Aufzeichnungen dort hinterlassen, wo nur ich sie finden könnte, im Wissen, dass ich dafür sorgen würde, dass ihr Vater von allem erfährt. Sie selbst hatte es nicht geschafft, ihn mit ihren Vorwürfen zu konfrontieren. Wenn ich noch etwas für sie tun wollte, dann war jetzt der Zeitpunkt gekommen.

Ich fand ihn in der Küche, wo er gerade ein Telefonat beendete. »Theresa, kann ich dir helfen?«, fragte er, als er mich sah.

Ich atmete tief ein. »Herr Mechat, ich würde gerne unter vier Augen mit Ihnen sprechen.«

Er konnte seine Überraschung über meine Bitte nicht verbergen, doch sofort sagte er: »Ja, sicher. Komm, wir gehen in mein Arbeitszimmer.«

Wenig später saß er hinter seinem Schreibtisch und sah mich abwartend und wohlwollend an. Ich setzte mich ihm gegenüber. Wahrscheinlich dachte er, ich bräuchte seinen Rat. Verdammt, ich hätte mir zuerst überlegen müssen, was ich sagen und wie ich anfangen sollte. Vielleicht wäre mein Hals dann nicht so trocken und ich würde die richtigen Worte finden.

»Also, worum geht es, Theresa? Hast du ein Problem? Kann ich etwas für dich tun?« Ich schüttelte den Kopf. Tu es, feuerte ich mich an. Sag’s ihm!

»Ich habe Julias Tagebuch gefunden«, brachte ich hervor.

Er sah mich verständnislos an.

»Sie hatte es im Baumhaus versteckt. Der Camcorder war übrigens auch da.«

Herr Mechat schüttelte den Kopf. »Ja, aber warum? Wir hätten niemals …«

Mit festem Blick sah ich Herrn Mechat an. »Das weiß ich. Aber Julia hatte dafür einen guten Grund.« Nun kamen die Worte ganz leicht über meine Lippen. »Sie hat geglaubt, Sie und Melissa hätten eine Affäre. Julia dachte, Sie wären der Vater von Melissas Baby gewesen.«

Herr Mechat riss die Augen auf und schüttelte heftig den Kopf. »Wie, um Himmels willen, ist sie auf so eine Idee gekommen? Wie kommt sie denn auf so etwas?«

»Wie sie darauf kommt? Stimmt es denn nicht, dass Sie vor zwei Jahren schon mal eine Affäre hatten? Julia hat davon geschrieben.«

Herr Mechat war aufgestanden und presste sich die Hände vor die Augen. Stockend sprach er weiter: »Ich weiß nicht, wie …« Er seufzte. »Ja. Das stimmt.« Er ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen und sackte in sich zusammen. Dann blickte er mich an. »Wir haben versucht, Julia mit unseren Problemen nicht zu belasten. Sie hat’s wohl trotzdem mitbekommen.« Herr Mechat sprach leise und fast wie zu sich selbst. »Vera und ich hatten uns auseinandergelebt. Keine Ahnung, wann das passiert ist. Wir hatten uns einfach nicht mehr viel zu sagen. Jeder von uns war mehr mit der Arbeit beschäftigt, als uns guttat. Auf einem Kongress lernte ich jemanden kennen. Sie ist ebenfalls Ärztin und auch verheiratet. Mehrere Monate lief es, wir telefonierten, dann trafen wir uns öfter. Wir beiden wollte keine geheime Beziehung, aber ich wollte auch nicht meine Familie verlassen. Also machten wir Schluss. Ich habe Vera alles erzählt und sie war verletzt, bestürzt, gekränkt. Schließlich beschlossen wir, dass wir diese Krise als Chance sehen wollten. Wir gingen zur Eheberatung. Seither verstehen wir uns besser. Vera hat mir verziehen.«

»Und Melissa?«, fragte ich. Herr Mechat schaute auf. Er wirkte, als sei er in den letzten fünf Minuten ganz woanders gewesen.

»Melissa? Sie war eine Patientin. Mehr nicht.«

»Julia hat aber geglaubt, dass Melissa mehr war als Ihre Patientin. Sie schreibt, Melissa trug Ihre Handschuhe, als Julia sie fand.

»Was? Julia dachte, ich hätte etwas mit Melissa Schikol, nur weil sie meine Handschuhe anhatte?«

Ich schlug die Beine übereinander. »Es waren nicht bloß die Handschuhe. Julia hat Sie und Melissa gemeinsam gesehen. Sie hatten die Handynummer gespeichert. Julia hat das herausgefunden und in ihrem Tagebuch dokumentiert. Außerdem hat Julia Melissas Eltern besucht. Melissa hatte seit Jahren ihren Arzt in Tiezen. Doch plötzlich tauchte sie in Ihrer Praxis auf. Das hat Julia stutzig gemacht. … So hat alles angefangen mit ihrem Verdacht.«

»Ich kann nicht viel über Melissa sagen, sie war meine Patientin. Alles, was sie mir anvertraut hat, unterliegt der Schweigepflicht. Aber es ist natürlich Blödsinn, dass ich der Vater ihres Kindes gewesen sein soll. Die ganze Geschichte ist kompletter Schwachsinn. Herrgott, sie war bloß ein Jahr älter als Julia!«

Alles, was mir Herr Mechat erzählte, klang glaubwürdig. Er war ernsthaft erschüttert, alles, was Julia sich zusammengereimt hatte, hatte sich plötzlich in Luft aufgelöst.

»Aber wie sind Ihre Handschuhe dann an Melissas Hände gekommen?«, hakte ich nach. Eine Erklärung musste es schließlich dafür geben. Melissa hatte die Handschuhe ja wohl nicht geklaut!

Herr Mechat seufzte. »Das ist eine längere Geschichte.«

»Das macht nichts. Ich will sowieso nicht da draußen bei den anderen sein«, sagte ich und deutete mit dem Kopf zur Tür.

»Irgendwie schon seltsam, nicht wahr?«, sagte er. »Da ist Julia tot und die Leute benehmen sich wie bei einem Kaffeekränzchen.«

Offensichtlich war uns beiden nicht danach, zu den anderen Leuten zurückzugehen, daher sah ich ihn erwartungsvoll an. Ich wollte jetzt endlich die Wahrheit hören. Er stieß die Luft aus und begann zu erzählen.

25. Februar 2012

Ich glaube, langsam merkt mein Vater etwas. Heute hat er mich gefragt, warum ich mich ihm gegenüber so komisch benehme.

Ich schrie ihm ins Gesicht, es sei wegen Melissa. Ich schwöre, dass er zusammengezuckt ist. Mehr Schuldeingeständnis werde ich von ihm nicht bekommen. Denn anstatt dass er mir endlich die Wahrheit gesagt hätte, meinte er nur, er habe Verständnis für meine emotionale Aufgewühltheit. Emotionale Aufgewühltheit! Genau so hat er sich ausgedrückt. Dann meinte er noch, Mama und er hätten sich darüber unterhalten, ob es nicht besser wäre, psychologische Hilfe für mich in Anspruch zu nehmen. Super! Ich werde wie eine Bekloppte behandelt und er? Wenn jemand einen Psychologen braucht, dann bin das wohl nicht ich! Wer hatte denn eine Geliebte, die seine Tochter hätte sein können? DAS finde ich krank.

Auf seine Bemerkung hin knallte ich die Tür zu und verkroch mich in meinem Zimmer. Doch nicht einmal dort hatte ich Ruhe. Mein Vater kam mir nach und wollte noch einmal wissen, was mit mir los sei. Ich habe aber kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Ich habe im Bett gelegen und an die Decke gestarrt, bis er wieder weg war. Erst später, als er das Haus verließ, lief ich zum Baumhaus. Ich zittere immer noch vor Zorn und Bitterkeit. Okay, vielleicht liegt es auch an der Kälte, aber wütend bin ich trotzdem. Dass ich meine Mutter letztens angeschrien habe, tut mir leid. Aber mein Vater hat es nicht besser verdient.

Schön langsam bin ich froh, dass die Schule wieder anfängt. Ein wenig Normalität wird mir guttun, auch wenn ich jetzt schon weiß, dass ich mir nach zwei Tagen wünsche, es könnten wieder Ferien sein. Das ist jedes Mal so. Obwohl, diesmal vielleicht doch nicht. Sandra hat mich angerufen und mich gefragt, ob ich Lust habe, an der Abizeitung mitzuarbeiten. Da sind Fotos und Anekdoten von uns Schülern und den Lehrern, die sich so im Laufe der Jahre angesammelt haben, drin. Eigentlich gäbe es ja genug Begebenheiten, um zwei Zeitungen zu füllen.

Ich glaube, das ist die richtige Ablenkung für mich. Heute Abend wollen wir uns im Grätzel treffen, um die Einzelheiten zu besprechen und Aufgaben zu verteilen. Und gleich am Montag machen wir die erste »Redaktionssitzung«, damit wir abklären können, wie wir die Zeitung aufziehen wollen. Die Ausgabe des Vorjahres war echt witzig gestaltet. Die Stufe vor uns hatte die Lehrer als Comicfiguren gezeichnet und die Lebensläufe der Schüler waren in Reimform geschrieben. Die große Lyrik war es nicht, schon klar, aber es war lustig zu lesen.

Da fällt mir ein, dass ich die Zeitung vom letzten Jahr noch irgendwo habe. Da muss ich unbedingt nachlesen, was über Melissa drinsteht. Gleich wenn ich zu Hause bin, werde ich zusehen, dass ich diese Zeitung finde. Abgesehen davon, dass ich wirklich wissen will, wie Melissa von ihren Mitschülern beschrieben wurde, hoffe ich, dass ich Sandra mit einigen Ideen zu unserer Ausgabe überraschen kann.