Kapitel 4
Ohne es zu merken, stand ich plötzlich vor der Bushaltestelle. Ich sah mir den Fahrplan an und beschloss, die acht Minuten zu warten, bis der Bus kam. Der Fußmarsch dauerte etwa eine halbe Stunde. Julia und ich gingen meistens zu Fuß. Wir nannten das unsere Fitnessübung. Ganz selten nahmen wir den Bus, meist nur, wenn es aus Kübeln schüttete oder wenn es eiskalt war, wie jetzt.
Dass auch heute Harald fahren würde, bezweifelte ich. Nicht, wenn er gestern Abend Dienst gehabt hatte.
Der Bus bog um die Kurve, hielt vor mir und die Tür ging zischend auf. Ich hatte recht behalten. Der Fahrer, ein älterer Mann, war ebenfalls unserer Linie zugeteilt. Niemand außer mir stieg zu, im Fahrzeug selbst saßen bloß ein Typ, den ich nicht kannte, und Frau Steurer, die wahrscheinlich am Friedhof gewesen war. Sie wohnte in meinem Wohnhaus im Erdgeschoss.
»Einmal bitte«, sagte ich zu dem Fahrer, während ich in meiner Hosentasche nach Kleingeld kramte.
»Passt schon! Lass gut sein, sind ja bloß zwei Stationen«, winkte der Fahrer ab.
Ich bedankte mich und nahm gleich hinter ihm Platz. Während er ruckelnd losfuhr, schaute ich aus dem Fenster. Kleinhardstetten war ein Kaff. Es gab hier nichts außer Siedlungshäusern, einem Friseursalon, wo ich mir nicht einmal unter Todesandrohung die Haare schneiden lassen würde, einem Kiosk, einem Gasthaus, in dem meine Mutter meist rumhing, einer Kirche und einem praktischen Arzt. Vor einigen Jahren hatte es auch eine Postfiliale gegeben, doch die hatte die Schließungswelle nicht überlebt. Praktischerweise lag die Bushaltestelle in der Ortsmitte vor der Kirche. Ich wohnte in den neu gebauten Mehrfamilienhäusern am Ende des Dorfes, Julia lebte in der besseren Wohngegend. Anstatt nach Hause zu gehen, schlug ich die entgegengesetzte Richtung ein. Wenn ich schon in der Stadt nichts hatte ausrichten können, konnte ich wenigstens Julias Eltern einen Besuch abstatten.
Vor dem Haus stand ein Polizeifahrzeug. Ich spürte, wie meine Beine nachgaben. Mein Finger drückte auf den Klingelknopf. Auch als ich den Türöffner summen hörte, konnte ich ihn nicht von der Taste lösen, es war, als wäre er dort festgewachsen. Die Tür schwang auf und Herr Mechat, Julias Vater, guckte verärgert heraus. Als er mich erkannte, lief er den Gartenweg entlang, um mir zu öffnen.
»Theresa! Gut, dass du da bist.«
»Die Polizei …«, brachte ich stotternd hervor. In meinem Kopf wirbelten die Worte durcheinander. Das Einsatzfahrzeug konnte vieles bedeuten: Julia hatte einen Unfall gehabt. Oder die Beamten hatten sie gefunden und nach Hause gebracht, oder …
»Sie nehmen die Vermisstenanzeige auf.«
Ich erkannte Herrn Mechats Stimme kaum wieder, sie war brüchig und er stockte beim Reden. Während er voranging und mir die Eingangstür aufhielt, klang es im Takt meines Herzens ver-misst, ver-misst, ver-misst.
Er führte mich ins Wohnzimmer. Julias Mutter saß auf der riesigen weißen Ledercouch, um die ich Julia immer glühend beneidet hatte. Eines Tages würde ich mir auch so eine zulegen, hatte ich zu ihr immer gesagt. Eine Beamtin in Uniform saß ihr gegenüber auf dem Hocker, ein zweiter Polizist im Ledersessel zu ihrer Rechten. Vor ihr auf dem Tisch lagen zerknüllte, aufgeweichte Taschentücher. Frau Mechat blickte auf, als wir eintraten. Ein winziges Lächeln begrüßte mich.
»Theresa«, flüsterte sie und stand auf. Ich ging auf sie zu, ein wenig unsicher, was ich tun sollte, um sie zu trösten. Sie nahm mir die Entscheidung ab, zog mich an sich und umarmte mich, hielt mich fest.
Nach einer Weile löste sie ihre Arme von mir und zog mich an der Hand neben sich auf die Couch. Ich sah die beiden Polizisten einen fragenden Blick wechseln.
»Das ist Theresa, Julias beste Freundin. Sie gehört schon fast zur Familie. Niemand kennt Julia besser als sie«, erklärte Frau Mechat.
»Sehr schön, das wird uns helfen. Junge Mädchen erzählen ihren Eltern ja nicht mehr alles, vertrauen sich eher Freundinnen an. Verrätst du uns deinen vollen Namen?«
Automatisch antwortete ich: »Theresa Kleistner.« Die weiteren Fragen, die mir die Beamtin stellte, hörte ich nicht mehr, denn das Einzige, woran ich denken musste, waren Frau Mechats Worte: Sie gehört schon fast zur Familie. Das und die Umarmung brachten mich zum Weinen. Still flossen meine Tränen. Frau Mechat reichte mir ein Taschentuch, doch ich hielt es bloß in der Hand und benutzte es nicht. Ich hatte das Gefühl, mich hier meiner Tränen nicht schämen zu müssen.
Julias Vater sah mit einem Blick, dass es mir nicht gut ging. »Du hast Fieber, nicht wahr?«
»Ich habe was dagegen genommen«, sagte ich und fühlte mich ertappt. Doch die erwartete Standpauke blieb aus. Stattdessen sagte er: »Ich mache dir Tee.« Dann ging er in die Küche.
Die Polizistin fragte mich tausend Sachen. Auf vieles wusste ich keine Antwort. Wo könnte sie sein? Hattet ihr einen geheimen Treffpunkt, hatte sie Freunde, Verwandte, bei denen sie sich aufhalten könnte? Nahm sie Drogen? War sie in letzter Zeit anders als sonst?
Ich schüttelte auf jede der Fragen bloß den Kopf. Herr Mechat kam aus der Küche und stellte ein Tablett mit dampfenden Tassen und einem Teller belegter Brötchen auf den Couchtisch. »Hier«, sagte er und reichte mir eine der Tassen und eine Tablette. Fragend sah ich ihn an. »Hilft gegen Grippe. Und iss etwas.«
Gehorsam nahm ich die Pille in die Hand, schluckte sie aber noch nicht, weil der Tee zu heiß war, um sie damit hinunterzuspülen. Unschlüssig drehte ich sie zwischen den Fingern und legte sie schließlich auf die Untertasse.
»Wann hast du Julia zuletzt gesehen?«, fragte die Beamtin. Ich sagte ihr, das sei am Freitag in der Schule gewesen. Die Fragen gingen weiter. Ich bemühte mich, ihnen zu folgen, sie wahrheitsgemäß zu beantworten, doch ich merkte auch, dass es mir zunehmend schwerer fiel, mich zu konzentrieren.
Ich nahm ein Brötchen, weniger aus Hunger, sondern mehr aus dem Bedürfnis, Zeit zwischen all den Fragen zu gewinnen. Wenn ich kaute, konnte ich nicht sprechen.
Ich trank einen kleinen Schluck von meinem Tee, der nach Kräutern schmeckte. Er war so weit abgekühlt, dass ich nun auch die Pille in meinen Mund schob.
»Dürfen wir uns in Julias Zimmer umsehen?«, fragte der Polizist. Frau Mechat blickte ihren Mann fragend an, der nickte.
»Würdest du uns begleiten?«, fragte die Beamtin.
Ich stand auf. Auf der Treppe hielt ich mich am Handlauf fest, schleppte mich mehr, als ich ging. Vor Julias Zimmertür blieb ich stehen. Es kam mir falsch vor, in ihr Reich einzudringen, wenn sie nicht da war. Fast hätte ich angeklopft in der Hoffnung, ihre Stimme zu hören, die mich hereinbat. Doch Frau Mechat öffnete die Tür, ging einen Schritt ins Zimmer und ließ die Beamten eintreten. Natürlich war da keine Julia, die bäuchlings auf dem Bett lag und las oder Musik hörte.
Das Zimmer war ein wenig unordentlich, wie immer. Das Bett war gemacht, aber es lagen zwei Hosen und mehrere Oberteile auf der Decke. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich Hefte und Ordner für die Schule, ihr Rucksack lag offen neben dem Tisch am Boden, die Federmappe und der Taschenrechner ebenfalls, als hätte sie am Freitag nach der Schule noch Hausaufgaben gemacht.
»Können Sie uns sagen, ob etwas fehlt?«, wandte sich die Polizistin an niemand Bestimmten im Raum.
Frau Mechat trat an Julias Schrank und bat mich mit leiser Stimme, zu ihr zu kommen. »Vier Augen sehen mehr als zwei.«
Ich durchstöberte zögerlich Julias Kleidung. Dabei hatte ich das schon unzählige Male getan. Ich hatte mir häufiger Klamotten von Julia ausgeborgt. Wir waren etwa gleich groß und hatten die gleiche Figur. Während ich mir nur selten etwas Neues zum Anziehen leisten konnte, bekam Julia von ihren Eltern ein großzügiges Taschengeld.
»Was hatte sie gestern an?«, fragte die Beamtin.
Julias Mutter zuckte hilflos die Schultern. »Ich weiß nicht, ich habe sie nicht gesehen, als sie fortging. Da war ich noch geschäftlich unterwegs.« Julias Mutter war Immobilienmaklerin und musste oft auch an den Wochenenden arbeiten.
»Ihre Lieblingsjeans ist nicht da. Und der grüne Pullover«, sagte ich.
»In der Wäsche sind die Sachen auch nicht. Dann wird Julia sie wohl tragen.«
Die Polizistin kritzelte etwas in ihren Notizblock. »Und sonst? Fehlt noch mehr Kleidung? Sieht es so aus, als hätte sie etwas eingepackt?«
Ich schüttelte langsam den Kopf. Nein. Mehr denn je war ich mir sicher, dass Julia nicht einfach abgetaucht war. Ihr war etwas zugestoßen.
»Ich habe, wie Sie mir am Telefon schon geraten hatten, nachgesehen«, sagte Herr Mechat, »sowohl ihre Sparbücher als auch der Reisepass liegen im Safe.«
»Wäre Ihre Tochter da rangekommen?«
»Ja, natürlich. Sie kannte die Kombination.«
Die beiden Beamten wechselten einen sorgenvollen Blick, der mir nicht entging. Auch sie schienen überzeugt, dass Julia nicht weggelaufen war. Ihre Reaktion machte mir noch mehr Angst, als ich ohnehin hatte.
»Wir tun, was wir können. Und wenn Ihnen noch etwas auffällt, dann rufen Sie uns bitte an«, meinte die Polizistin.
»Und was tun Sie, um Julia zu finden?«, wollte Frau Mechat wissen. »Sie haben ihre Daten, Sie haben ein Foto. Geben Sie das an die Presse weiter? Schicken Sie Streifenwagen aus, um sie zu suchen? Wird es eine Suchmannschaft geben? Hunde? Hubschrauber?« Sie begann zu schluchzen. Sofort war Herr Mechat bei ihr und legte seinen Arm um ihre Schultern.
Der Beamte kam seiner Kollegin zu Hilfe. »Noch wissen wir ja gar nicht, was passiert ist. Natürlich werden wir die Dienststellen der umliegenden Polizeistationen verständigen. Alle werden die Augen offen halten. Wir geben die Vermisstenmeldung an die Krankenhäuser. Für die Presse ist es noch zu früh. Außerdem übergeben wir den Fall an die Kriminalpolizei.«
Er überreichte Herrn Mechat eine Visitenkarte. »Bitte rufen Sie an, wenn Ihnen noch etwas einfällt. Oder wenn Julia wieder auftauchen sollte.« Auch ich bekam eine Karte. Ich steckte sie, ohne sie weiter zu beachten, in meine Hosentasche.
»Kriminalpolizei?« Meine Stimme klang unnatürlich hoch in meinen Ohren. Bisher dachte ich immer, die Kriminalpolizei würde nur zugeschaltet, wenn jemand ermordet worden war. Sahen die Polizisten denn schon so wenig Hoffnung, dass Julia wieder heil auftauchen würde?
Die Polizistin lächelte mir aufmunternd zu. »Die kümmern sich üblicherweise um vermisste Personen. Sie haben damit Erfahrung. Du wirst sehen, wenn jemand deine Freundin findet, dann ist das die Kripo.«
Ihre Worte beruhigten mich nicht im Geringsten.
Wir verließen Julias Zimmer. Die beiden Polizisten verabschiedeten sich, während ich noch unschlüssig im Flur stand. Hier bei Mechats zu Hause hatte ich das Gefühl, Julia ein wenig nahe zu sein.
»Theresa, du kannst ruhig noch bleiben«, sagte Frau Mechat, als hätte sie meine Gedanken erraten.
Wie gern wäre ich ihrer Einladung gefolgt, doch ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann nicht. Ich muss nach Hause, ins Bett. Aber danke. Sie rufen mich doch an, wenn Sie etwas Neues erfahren?«
»Natürlich. Du bist die Erste.«
25. Januar 2012
Heute war der furchtbarste Tag meines Lebens. Die Meinhard, unsere Kunstlehrerin, hat mich in der Mittagspause abgepasst und mich gefragt, wann mein Videoprojekt endlich fertig wird. Bis zum Ende des Halbjahrs dauert es nicht mehr lange und wenn ich es nicht abschließe, kann sie mir bedauerlicherweise keine bessere Note als ein Befriedigend geben. Pah! Ich und Befriedigend. In Kunst!
Also beschloss ich, nach der Schule diese blöden Aufnahmen zu machen. Schnee, Natur, Bäume. Wenn ich geahnt hätte, was mich erwartet, hätte ich liebend gern die Drei genommen. Ich gehe also mit dem Camcorder aufs Feld und filme. Auf den Weg achte ich gar nicht, sehe nur durchs Objektiv die schneebedeckten Äste und denke mir noch, dass die Meinhard begeistert sein wird und mir die Zwei nun sicher ist. Da stolpere ich über etwas. Die Kamera fliegt mir aus der Hand und wird sofort vom Schnee verschluckt. Ich taste nach ihr. Meine Finger spüren etwas Hartes, also greife ich danach. Doch es ist nicht der Camcorder, den ich aus dem Schnee ziehe. Es ist eine Hand. Fast so bleich wie der Schnee, von dem sie bedeckt war.
Ich weiß nicht, ob ich geschrien habe. Selbst jetzt noch, Stunden später, kann ich mich nur daran erinnern, dass ich anfing zu buddeln. Mein einziger Gedanke war, da liegt jemand, der Hilfe braucht. Ich habe auch keine Ahnung, wie lange es gedauert hat, den Körper zu befreien. Ich weiß nur, dass mir der Schweiß über den Rücken lief, obwohl es Minusgrade hatte.
Es war Melissa, ein Mädchen, kaum älter als ich. Ihr Gesicht sah aus wie das einer Porzellanpuppe. So eine, wie meine Oma sie sammelt. Ich erkannte auf einen Blick, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Dennoch lief ich. Ich lief, so schnell ich konnte. Nur weg! Plötzlich donnerte ich in Leon rein und schmiss ihn fast um. Ich habe, glaube ich, keinen gescheiten Satz herausgebracht, als er mich fragte, was los sei. Doch irgendwann kapierte er. Ich bin so froh, dass ich ausgerechnet ihn getroffen habe. Er rief die Polizei, wartete mit mir in der Schweinekälte, beruhigte mich, und als die Beamten da waren, führte er sie mit mir zum Fundort. Er war es auch, der meine Mutter verständigte. Es kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor, bis sie endlich da war.
Mama brachte mich nach Hause und rief Papa an. »Er kümmert sich um alles Weitere«, sagte sie zu mir, während mir die Zähne klapperten. »Du nimmst jetzt erst mal ein Bad.« Ihr Patentrezept für alle Probleme: eine Badewanne voll heißes Wasser und Tee.
Eben saß ich in der Wanne, meine Haut ist noch ganz gerötet, doch in meinem Inneren fühle ich mich immer noch kalt.
Ständig sehe ich Melissa vor mir. Etwas stört mich an dem Bild, doch ich bekomme es nicht zu fassen. Kein Wunder, man findet schließlich nicht jeden Tag eine Leiche. Und ehrlich gesagt reicht es mir für den Rest meines Lebens. Jedenfalls habe ich beschlossen, alles aufzuschreiben, denn ich habe das Gefühl, ich übersehe etwas Wichtiges. Etwas, das mir keine Ruhe lässt, und bis ich herausgefunden habe, was es ist, werde ich ständig an die tote Melissa denken.