Kapitel 20

Leon blieb bis nach dem Abendessen. Es war irgendwie schön, ihn dabeizuhaben. Ich könnte mich bestens daran gewöhnen und ich wusste nicht, ob ich das gut finden oder Angst davor haben sollte. Mein Leben wurde gerade ziemlich umgekrempelt. Zu viel Neues war über mich hereingebrochen und ich konnte nur wenig davon beeinflussen. Natürlich freute es mich, Leon zu gefallen. Es war schön, mit ihm zusammen zu sein, ihn zu küssen, zu spüren und mich auf ihn verlassen zu können. Andererseits hatte ich die Erfahrung gemacht, dass Glück ein flüchtiger Besucher bei mir war. Kaum lief etwas gut, ließ die nächste Katastrophe nicht lange auf sich warten. Wenn ich einen Fünfeuroschein fand, verlor ich eine halbe Stunde später garantiert das ganze Portemonnaie. Freute ich mich darüber, dass ich einen Zug auf den letzten Drücker erwischte, kam ich trotzdem zu spät, weil der Zug auf der Strecke Verspätung hatte. Und jedes Mal, wenn ich das Gefühl hatte, meine Mutter hätte sich endlich geändert, passierte irgendetwas und sie fiel in ihre Trinkerei zurück. So hatte ich es schon etliche Male erlebt. Auch jetzt lauerte ich darauf, dass irgendetwas passierte. Etwas Schlimmes, das alles wieder aus den Angeln heben würde. Vielleicht war ich deshalb so vorsichtig, weil es für mich immer erträglicher war, nicht zu viel zu erwarten und vorbereitet zu sein.

Als ich Leon zum Abschied küsste, nahm ich mir ganz fest vor, nicht immer so schwarz zu sehen. Wenn ich immer nur daran dachte, was passieren konnte, würde ich alles Schöne, das ich gerade erlebte, nicht richtig genießen können. Hatte Mama das gemeint, als sie sagte, ich solle mehr im Hier und Jetzt leben?

Kaum war Leon weg, vermisste ich ihn bereits. Meine Mutter sah sich irgendeine romantische Liebesschnulze im Fernseher an. Länger als fünf Minuten hielt ich den Film nicht aus. Corinna hatte sich in ihr Zimmer verzogen und die Musik aufgedreht. Einen Moment überlegte ich, zu ihr zu gehen, doch sie hatte einen Zettel an ihre Tür geklebt, dass sie nicht gestört werden wollte. Also wäre es jetzt der richtige Zeitpunkt, mich weiter mit Julias Tagebuch zu beschäftigen. Wenn ich damit durch war, konnte ich mir Gedanken um die Abizeitung machen. Ich würde Julia würdig vertreten, nahm ich mir vor. Solche Aufgaben waren ihr wichtig gewesen. Halbe Sachen gab es für sie nicht. Ich konnte mich erinnern, wie viele Gedanken sie sich gemacht und wie viel Zeit sie für die Zeitung investiert hatte. In all ihren Unterlagen, die ich durchgesehen hatte, waren keine Aufzeichnungen über die Interviews gewesen. Hatte sie überhaupt schon mit Lehrern gesprochen? Am Montag auf dem Heimweg nach der Schule hatten wir Ideen gesammelt, welche Fragen sie stellen könnte. Dienstag und Mittwoch hatten wir kaum Zeit gehabt, miteinander zu reden. Julia war an beiden Tagen nach dem Unterricht wegen der Abizeitung länger geblieben, sodass ich allein heimgegangen war. Wir hatten abends zwar kurz telefoniert, aber nur über Belangloses gesprochen. Am Donnerstag fing ich bereits an zu kränkeln. Ich fühlte mich wie erschlagen, sodass ich froh war, schnell nach Hause zu kommen, und am Freitag blieb ich nur bis nach der zweiten Stunde, weil es mir elendig ging und Julia mich eigenhändig nach Hause tragen wollte, wenn ich nicht sofort nach Hause fuhr. Seufzend nahm ich das Tagebuch aus der Schublade. Unschlüssig drehte ich es in der Hand. Es waren nur noch ein paar Seiten übrig. Ich hätte gerne noch mehr gelesen. Doch selbst tausend Seiten mehr hätten mir Julia nicht wieder zurückgebracht.

Würde ich noch etwas Wichtiges finden? Etwas, das mir helfen würde, ihren Tod zu verstehen? Etwas, das einen Hinweis darauf gab, wer dieser geheimnisvolle MTS war?

Julia schrieb von Hoffnung. Sie schrieb davon, dass sie ihre Angst in den Griff bekommen wollte. Ich war sicher, dass sie auf dem richtigen Weg gewesen war. Wie schrecklich, dass sie in dem Glauben gestorben war, ihr Vater sei ein Ehebrecher gewesen und hätte schuld an Melissas Tod gehabt.

Als Julia schließlich merkte, dass sie die ganze Zeit über den Falschen verdächtigt hatte, war es zu spät gewesen. Was musste in ihr vorgegangen sein, als sie erkannte, dass sie auf dem Holzweg war? Hatte sie es bereut, ihren Vater beschuldigt zu haben? Mit Sicherheit. Warum hatte sie bloß mit niemandem darüber gesprochen? Weil der Verdacht so ungeheuerlich war, weil ihr keiner geglaubt und sie nicht ernst genommen hätte. Im Nachhinein betrachtet konnte ich ihr Schweigen verstehen. Ich hätte nicht anders gehandelt.

Ich knipste das Licht aus, es war bereits nach Mitternacht. Ich war so aufgewühlt, dass ich lange nicht in den Schlaf finden konnte.

Als in der Früh mein Wecker klingelte, kam es mir so vor, als wäre ich gerade erst eingeschlafen. Ich wäre am liebsten liegen geblieben. Aber das kam natürlich nicht infrage. Corinna knallte ihre Tür zu, trampelte in die Küche. Meine Mutter sagte etwas zu ihr, sie trampelte wieder zurück. Der morgendliche Wahnsinn im Hause Kleistner. Im Bad blickte ich in den Spiegel und streckte meinem Spiegelbild die Zunge raus. Genauso wie ich mich fühlte, sah ich auch aus. Übernächtigt, zerzaust, dunkle Ringe unter den Augen. Ich klatschte mir reichlich Wasser ins Gesicht und bürstete mein Haar. Viel besser wurde es davon auch nicht, aber immerhin hatte ich das Gefühl, einen halbwegs klaren Kopf zu bekommen. Und den würde ich heute auch brauchen.

Wie immer verließ Mutter vor uns die Wohnung. Ich trank Kaffee und machte mir ein Wurstbrot zum Mitnehmen, es würde ein langer Schultag werden.

Corinna war untypisch wortkarg und in sich gekehrt. Ich fragte mich, ob sie mit Timo gestritten hatte, wollte sie aber nicht darauf ansprechen. Sie würde mir von selbst davon erzählen, wenn sie Lust dazu hatte. Ich war in der Früh sowieso froh, in Ruhe gelassen zu werden. Im Bus schloss Corinna sich ihren Freundinnen an und von einem Augenblick auf den nächsten merkte man nichts mehr von ihrer schlechten Laune.

Auch aus meiner Stufe waren ein paar Leute im Bus, doch ich begnügte mich nur mit einem halbherzigen Winken und blieb ganz vorne bei der Tür stehen. Ich hasste diese überfüllten Schulbusse. Morgen, nahm ich mir vor, würde ich auf den Bus verzichten. Ich würde Julias und meine Tradition fortführen und wieder zu Fuß gehen. Manches würde nie wieder so sein wie früher, aber einige Dinge durften auch so bleiben, wie sie waren, ohne dass man dabei ein schlechtes Gewissen bekommen oder wehmütig werden musste. Julia war ja schließlich zu der gleichen Erkenntnis gelangt.

Als ich aus dem Bus stieg, wartete Leon bereits vor der Schule auf mich. »Guten Morgen!«, begrüßte er mich mit einem strahlenden Lächeln.

»Morgen«, brummte ich. Wo um Himmels willen nahm er bloß in aller Frühe diese gute Laune her?

Er hob eine Braue. »Du bist ja ein richtiger Morgenmuffel.«

»Ich hab nicht gut geschlafen. Außerdem ist ›morgens‹ einfach immer zu früh«, versuchte ich mich zu rechtfertigen.

»So, so. Zu früh also. Wofür genau? Bist du heute etwa nicht um sechs Uhr aufgestanden und joggen gegangen?«

»Heute ausgerechnet nicht. Normalerweise steh ich um halb sechs auf und schwimme fünfzig Bahnen, um in die Gänge zu kommen. Aber nur unter der Woche. An den Wochenenden reicht es, wenn ich um sieben aufstehe.« Gegen Leons Witze hatten kurze Nächte und miese Laune einfach keine Chance. Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen.

»Komm«, sagte ich und nahm seine Hand. »Gehen wir rein. Vielleicht kann ich noch vor der Stunde mit Sandra und Jennifer wegen der Abizeitung sprechen.«

Doch viel Zeit hatte ich nicht, weil Jennifer verschlafen hatte und erst mit dem Läuten in die Klasse gehuscht kam. So wie sie aussah, hatte die Zeit nicht mal fürs Haarebürsten gereicht, allerdings konnte man das bei ihr nie so genau sagen. Ihre Frisur sah sonst auch ziemlich verwuschelt aus. Sandra hingegen war erleichtert, als ich ihr sagte, ich würde bei der Zeitung mitarbeiten. »Ehrlich, ich hätte sonst nicht gewusst, wie wir das schaffen sollen, rechtzeitig fertig zu werden. Danke!« Sie erklärte mir was sie, Jennifer und Julia abgesprochen hatten, welche Aufgaben wer übernehmen wollte und wie sie sich vorgestellt hatten, dass die Zeitung aufgebaut werden sollte.

»Ich dachte, du übernimmst einfach Julias Arbeit – also die Schülerfragebögen und Lehrerinterviews. Aber natürlich kannst du auch Ideen einbringen. Du bist nicht nur Lückenfüller. Wer mitarbeitet, darf auch mitentscheiden.«

»Schon gut«, winkte ich ab. »Ich finde euer Konzept super. Es wird ohnehin Zeit brauchen, bis ich mit allen Lehrern durch bin. Den Fragebogen für uns übernehme ich einfach so, wie Julia ihn vorbereitet hat. Ich lass ihn kopieren und verteile ihn morgen, spätestens übermorgen.«

»Super! Ich glaube, das wird großartig! Etwas, was man sich aufhebt und nicht gleich in den nächsten Papierkorb wirft.«

Das wollte ich allerdings hoffen! Bei der Arbeit, die wir uns mit dieser Zeitung antaten! »Sag mal, gibt es nicht ein paar ältere Ausgaben der vergangenen Jahre? So zur Inspiration?«

»Hm, ich frag in der Schulbücherei, die haben bestimmt noch welche«, meinte Sandra. Dann läutete es und jede von uns ging an ihren Platz.

Die Mittagspause verbrachte ich mit Leon. Wir teilten mein Wurstbrot und gingen Händchen haltend zurück zum Nachmittagsunterricht. Einige Mädchen der unteren Jahrgänge warfen mir neidische Blicke zu. Corinna hatte recht gehabt. Leon war offenbar der Schwarm vieler jüngerer Mädchen. Jan und seine Freunde konnten es nicht lassen und pfiffen und grölten uns hinterher.

»Da sorgen wir ja für Furore«, meinte Leon.

»Stell dir vor, wie sie reagieren würden, wenn wir auch noch vor allen rumknutschen würden«, lachte ich. Im Moment war ich einfach so glücklich, dass mich selbst die blöden Blicke nicht erschüttern konnten.

»Willst du es ausprobieren?«, fragte Leon mit einem verschmitzten Grinsen.

»Nein, lieber nicht. Gewöhnen wir die anderen lieber schrittweise an unseren Anblick.«

Fünfzehn Minuten vor dem Läuten gingen wir in die Schule zurück, weil es uns draußen zu kalt geworden war. Da wir in verschiedenen Kursen waren, mussten wir uns trennen.

»Sehen wir uns später?« Mir gefiel der hoffnungsvolle Klang in seiner Stimme. Trotzdem sagte ich: »Weiß nicht. Ich muss länger bleiben, um die Fragebögen fertig zu machen. Kopieren muss ich sie auch noch. Vor halb sechs komme ich heute wohl nicht raus.«

Leon hatte schon um vier Schluss. »Das macht nichts. Ich hol dich ab und bring dich nach Hause.« Sein Ton duldete keinen Widerspruch. Abgesehen davon, dass ich mich freute, weil er so viel Zeit mit mir verbringen wollte, war mir wohler, wenn ich nicht allein gehen musste. Wer konnte schon sagen, wann Klaus oder wer auch immer mir wieder nachstellte? Ich konnte es immer noch kaum fassen, was der Exlover meiner Mutter bereit war, für ein paar Fotos zu tun. Er war echt das Letzte!

Auf dem Weg zum Werkraum traf ich Steinmenger. Vielleicht konnte er ein paar Minuten für das Interview erübrigen. Er war überrascht, als ich ihn um ein Gespräch bat. »Es geht auch ganz schnell!«, bettelte ich.

Ich kramte meinen Notizblock hervor und nahm einen Kugelschreiber zur Hand. »Keine Sorge. Sie sind bloß der erste, die anderen Lehrer müssen mir auch noch Rede und Antwort stehen. Es ist für die Abizeitung«, erklärte ich ihm.

Ich beschloss, ein wenig zu improvisieren, wieder einmal. Ich wünschte, ich hätte mich besser vorbereitet, aber nun musste es so gehen. Ich fragte ihn nach seinen Hobbys, was ihn dazu bewogen hatte, Lehrer zu werden, und was das Geheimnis seines Erfolges war. Er beantwortete mir alles geduldig. »Sie sind der absolute Mädchenschwarm in der Schule. Ist Ihnen das bewusst? Wie gehen Sie mit so viel Interesse des weiblichen Geschlechts um?«

Steinmenger fuhr sich durchs Haar. »Also, ehrlich gesagt, ist mir das unangenehm. Immerhin bin ich verheiratet. Meine Frau meint allerdings, die Schülerinnen würden sich wahrscheinlich mehr anstrengen, um einen guten Eindruck bei mir zu hinterlassen.« Er lächelte.

»Stimmt das denn? Lernen sie wirklich mehr?«

»Manche schon. Ich habe den Eindruck, dass Biologie sowieso höher im Kurs steht als andere Fächer.« Ich musste an Corinna denken, die zwar über die Hausaufgaben gemault hatte, sie aber trotzdem immer gewissenhaft erledigte. »Vielleicht liegt das einfach an Ihrer Art, Ihren Schülern den Stoff näherzubringen. Es sind ja viele, die bei Ihnen ihre Prüfungen machen. Melissa Schikol zum Beispiel, letztes Jahr. Und dieses Jahr sind es allein in meinem Jahrgang acht Leute.«

Steinmenger sah auf seine Uhr. »Ich muss jetzt zum Unterricht. Falls du noch was wissen willst, komm einfach in einer der großen Pausen zu mir. Ansonsten müssen wir bald einen Termin ausmachen, um über deine Prüfung bei mir zu sprechen.« Er hob die Augenbrauen und grinste.

Irritiert blieb ich zurück. Warum hatte er es denn plötzlich so eilig? Bis zum Klingeln dauerte es noch fünf Minuten. Wie es aussah, war ich wohl nicht besonders gut im Improvisieren. Ich hätte die Fragen, die Julia vorbereitet hatte, lieber auswendig lernen sollen. Na ja, ganz dumm war es nun auch nicht gelaufen, tröstete ich mich. Schließlich würde die meisten Mädchen alles interessieren, was Steinmenger zu sagen hatte.

Von drei bis fünf stand Werken auf dem Stundenplan und ich war mit Sägen und Leimen beschäftigt. Mein hüttenartiges Gebilde hatte nicht einmal entfernt Ähnlichkeit mit einem Schlüsselschränkchen. Aber ich konnte nicht überall begabt sein, sagte ich mir. Das Ding würde ich mit Sicherheit nirgends aufhängen. Es taugte höchstens als Hamsterunterschlupf, bloß blöd, dass ich gar keinen Hamster besaß. Ich ärgerte mich, weil der Leim nicht halten wollte, und Herr Senner half mir mit den Schraubzwingen.

»Du weißt aber schon, dass du den Leim zum Kleben und nicht zum Baden verwenden sollst«, meinte er schmunzelnd. Ich blickte an mir herab. Verdammt, nicht nur meine Hände waren voll Kleber, auch mein Pullover sah aus, als hätte ich mich in Kleister und Sägespänen gewälzt.

»Geht das beim Waschen wieder raus?«, fragte ich.

»Solange er noch nicht eingetrocknet ist, ja. Geh dich waschen, ich mach das für dich fertig. Für heute ist eh Schluss.«

Jennifer lieh mir ihre Weste. Zum Glück musste ich nicht den restlichen Tag im T-Shirt verbringen. Auf dem Klo zog ich meinen Pullover aus und Jennifers Weste an. Der Leim klebte wirklich überall, sogar meine Haare hatten etwas abbekommen. Ich würde den Kleber nachher ausbürsten oder die Strähne notfalls rausschneiden müssen.

In meinem Rucksack fand ich eine Plastiktüte. Da steckte ich den nassen Pullover rein. Super! Durch die Waschaktion hatte ich eine Menge Zeit verloren. Ich musste doch noch die Fragebögen kopieren, damit wir sie morgen verteilen konnten.

Obwohl es nicht das erste Mal vorkam, dass ich länger in der Schule blieb, war die Stille unheimlich. Wo sonst Scharen von Schülern umherliefen und ihr Krakeelen die Gänge erfüllte, war es nun menschenleer und totenstill. Ich überlegte, was wohl passieren würde, wenn mich der Schulwart versehentlich einsperrte – und ob so was schon einmal passiert war. Aber dann fiel mir ein, dass es fast jeden Tag irgendwelche Veranstaltungen und Kurse gab, die hier in der Schule stattfanden. Schon allein deswegen wurde die Eingangstür der Schule erst abends abgeschlossen. Dennoch blieb das mulmige Gefühl und ich beeilte mich, in den zweiten Stock zum Kopiergerät zu kommen.

Ich legte den Fragebogen in das Fach und steckte meine Kopierkarte in den Schlitz. Ich gab bei Anzahl der Kopien automatisch 28 ein, doch dann korrigierte ich auf 27. Julia würde keine mehr brauchen. Ich schluckte, aber der aufkeimende Kloß in meinem Hals verschwand nicht. Ich hoffte, dass ich mich nie einfach so an den Gedanken gewöhnen würde, dass Julia nicht mehr da war.

Während ich darauf wartete, dass das Gerät ein Blatt nach dem anderen ausspuckte, überkam mich ein jähes Frösteln und die Härchen in meinem Nacken stellten sich auf. Ich blickte mich um. Das Gefühl, beobachtet zu werden, nahm überhand, doch ich konnte niemand entdecken. Keine Menschenseele. Komm mal wieder runter, Theresa, sprach ich mir zu. Die Tatsache, dass Klaus mich verfolgt hatte, nahm mich stärker mit, als ich wahrhaben wollte. Aber nachdem ich ihn auf dem Friedhof entdeckt und entlarvt hatte, würde er es nicht wagen, mir weiter nachzustellen. Mein Nervenkostüm war einfach zu dünn. Ich redete mir Dinge ein, die nicht da waren.

Endlich blinkte das Symbol, dass der Kopierer fertig war. Ich raffte die Blätter an mich und ging, so schnell ich konnte, Richtung Treppe.

Ich lenkte meine Gedanken auf Leon, der wahrscheinlich schon draußen auf mich wartete. Und ich war viel zu spät dran! Ich legte noch einen Zahn zu, lief beschwingt den Gang entlang. Ich konnte es nicht mehr abwarten, ihn endlich wiederzusehen!

Gerade hatte ich den ersten Stock passiert, als ich hinter mir eine flüchtige Bewegung wahrnahm. Bevor ich mich umdrehen konnte, spürte ich einen Stoß im Rücken und sah im nächsten Augenblick die Treppen auf mich zurasen. Verzweifelt ruderte ich mit den Armen, doch ich hatte keine Chance, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Stöhnend kam ich am Fuß der Treppe zum Liegen. An meinem ganzen Körper spürte ich nichts anderes als Schmerz. Um mich herum lagen die Kopien verstreut. Unfähig, mich aufzurichten, drehte ich ächzend den Kopf in Richtung Treppe. Die Schmerzen in meinem Kopf pochten. Ich sah jemanden hochlaufen, konnte aber nicht erkennen, wer es war. Die jähe Bewegung meines Kopfes schickte einen stechenden Schmerz in meinen Rücken, mein Kopf sackte zu Boden. Das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, war, dass mich jemand gestoßen hatte. Und dieser Jemand hatte schwarze Turnschuhe mit einer rot-weißen Sohle getragen. Dann wurde alles dunkel um mich.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich angeschnallt auf einer Trage in einem Krankenwagen. Eine Sirene war zu hören, eine braune Decke über meinen Körper gebreitet, Leon saß neben mir. Er war leichenblass.

Ich wollte etwas sagen, doch ich brachte kein Wort heraus. Leon sah, dass ich bei Bewusstsein war, und drückte sofort meine Hand. »Theresa, was machst du für Sachen? Ich dachte im ersten Moment, du wärst tot, so verrenkt wie du dagelegen hast.«

Mein Kopf, nein, mein ganzer Körper tat weh und eine Welle der Übelkeit kam in mir hoch. Ich schloss die Augen. Doch auch das brachte nur geringe Linderung, doch immerhin drehte sich nicht mehr alles um mich herum. Irgendetwas war passiert. Doch was? Es war … es lag ganz knapp unter der Oberfläche, ich musste es bloß zu fassen kriegen. »Wohin …?«, krächzte ich mühsam.

»Wir bringen dich ins Krankenhaus«, antwortete Leon. Ich wollte protestieren. Ich hasste Krankenhäuser, doch nicht einmal das schaffte ich. Mir war einfach kotzübel, ich fühlte mich schwach. Gleich darauf spürte ich, dass der Wagen zum Stillstand kam, ich wurde mit der Trage hochgehoben und aus dem Wagen geschoben. Die ganze Zeit über hielt Leon meine Hand, als würde er sie nie wieder loslassen wollen.

Ich wünschte, ich hätte die Augen aufmachen können. Ich hasste es, nur auf meine anderen Sinne angewiesen zu sein, aber schon beim Blinzeln hatte ich das Gefühl, in meinem Kopf hätte ein Blitz eingeschlagen, also ließ ich meine Augenlider zu.

»Sturz von der Treppe«, hörte ich einen der Sanitäter sagen. Jemand tastete mit geübten Fingern meine Gliedmaßen ab, drehte sie ein wenig hin und her und meinte, es sei wenigstens nichts gebrochen. »Hörst du mich? Wie heißt du?«

Leon antwortete statt meiner. »Ihr Name ist Theresa Kleistner. Sie ist meine Freundin, ich hab sie vorhin in der Schule gefunden.«

»Theresa, ich werde jetzt mit einer Taschenlampe in deine Augen leuchten«, warnte mich die Ärztin. Ich wappnete mich auf das Licht, das mir mit Sicherheit wieder Kopfschmerzen bereiten würde.

»Kannst du dich aufsetzen?«, fragte die Ärztin.

»Ja«, murmelte ich und spürte Leons Hand in meinem Rücken, die mich stützte. »Ich habe Kopfschmerzen.«

»Das glaub ich«, meinte die Ärztin. »Gott sei Dank ist dir nicht mehr passiert.«

Ich schaffte es nun endlich, die Augen aufzumachen. Mit ernster Miene leuchtete eine blonde, große Frau in weißem Kittel zuerst ins eine, dann ins andere Auge. »Scheint alles in Ordnung zu sein. Wir werden vorsichtshalber ein CT machen und dich über Nacht zur Beobachtung hierbehalten.«

»Was hab ich denn?« Ich merkte selbst, wie verzagt und weinerlich meine Stimme klang. Schon der Gedanke, dass ich über Nacht bleiben musste, machte mir Angst.

»Eine leichte Gehirnerschütterung. Du wirst dich schonen müssen. Kein Fernsehen, nichts lesen, Bettruhe. Wie ist es denn passiert?«

»Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich Kopien gemacht habe.« Ich schüttelte den Kopf und wünschte, ich hätte es nicht getan. Vor Schmerz zuckte ich zusammen. Mit einer Hand tastete ich vorsichtig meinen Hinterkopf ab und fand eine dicke Beule unter meinem Haar. »Ich weiß es nicht mehr genau.«

Die Ärztin tätschelte mir den Arm. »Macht nichts. Die Erinnerung kommt bestimmt wieder.«

Ein wenig später lag ich in einem Zweibettzimmer. Der typische Krankenhausgeruch nach Desinfektionsmittel und Früchtetee bewirkte, dass mir wieder übel wurde. Ich hatte Leon gebeten, meine Mutter anzurufen, ihr zu sagen, dass es mir gut ging und es nicht notwendig sei, dass sie vorbeikam. Beim CT war nichts festgestellt worden und Leon hatte gewitzelt, dass mein Dickkopf wohl doch Vorteile mit sich brachte.

»Kann ich dir was holen? Brauchst du etwas?« In seinem Gesicht stand immer noch der Schrecken.

»Danke, nein. Mir tut einfach nur alles weh, jeder Knochen, mein ganzer Körper. Mein Kopf fühlt sich an, als wäre er mit einem Vorschlaghammer bearbeitet worden. Ich muss in diesem Bett liegen, darf nicht fernsehen und nicht lesen. Ich kann froh sein, dass mir das Reden nicht auch noch verboten worden ist.«

Leon strich mit seiner Fingerkuppe über mein Handgelenk. Ein leichter Schauer durchlief meinen Körper. Er beugte sich über mich und drückte sanft seine Lippen an meine. »Meinst du, Küssen ist erlaubt?«, fragte er.

»Hm, die Ärztin hat nichts Gegenteiliges gesagt«, flüsterte ich. »Und weißt du, was? Plötzlich fühl ich mich viel besser!«

Also tat Leon sein Bestes, dass es mir noch besser ging. Dann strich er mir sanft das Haar aus der Stirn. »Ich dachte, mein Herz würde stehen bleiben, als ich dich unten an der Treppe liegen sah. Du hast so … leblos ausgesehen«, sagte Leon.

»Wolltest du denn nicht draußen auf mich warten?«

»Hab ich ja, aber als es Viertel vor sechs wurde und ich es schon auf deinem Handy versucht hatte, dachte ich mir, ich schau nach dir. Bitte versprich mir, das nächste Mal musst du besser aufpassen. Du hättest dir sonst was brechen können.«

Bei Leons Worten tauchte ein Bild in meinem Gedächtnis auf, zwar war es merkwürdig verschwommen, doch eines blieb: das Gefühl einer Hand in meinem Rücken, die mir einen Stoß versetzt hatte.

Ich drückte Leons Hand so fest, dass er überrascht zusammenzuckte. »Leon, ich weiß zwar nicht mehr genau, was passiert ist – aber ich bin mir sicher, dass ich gestoßen wurde.«

1. März 2012

Donnerstag. Ich hab seit Anfang der Woche kaum an Melissa oder an meinen Vater gedacht. Das liegt daran, dass ich mit der Abizeitung so beschäftigt bin. Gott sei Dank! Ich habe nicht erwartet, dass sie so viel Arbeit macht, die neben dem Unterricht laufen muss, aber ich will mich nicht beschweren. Das Eigenartige ist, je weniger Zeit ich damit verbringe, darüber nachzudenken, was ich tun soll, desto mehr merke ich, dass es nur einen Weg gibt: Ich muss mit irgendjemandem darüber reden. Ich überlege ja schon länger, ob ich Steinmenger ansprechen soll. Selbst wenn er kein Vertrauenslehrer wäre, könnte ich mir keinen anderen vorstellen, dem ich mich anvertrauen könnte.

Und Theresa werde ich auch einweihen und hören, was sie von allem hält. Vielleicht hat sie ja einen ungetrübten Blick und sieht klarer als ich. Wäre ja nicht das erste Mal. Möglicherweise weiß sie, was zu tun ist. Das ist so wie bei dem Sprichwort ›Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht‹. Genauso komme ich mir vor, ich sitze in diesem Wald voller gruseliger Bäume und bewege mich nicht, vor lauter Angst, was passieren könnte.

Wahrscheinlich hätte ich das schon viel eher tun sollen – mit Theresa reden, meine ich. Aber noch ist es nicht zu spät. Blöd nur, dass sie jetzt krank ist. Ich habe ihr gesagt, sie soll zu Hause bleiben, aber ich fürchte, sie wird nicht auf mich hören.

Sie meinte, sie muss eh nur mehr den morgigen Tag überstehen und dann ist Wochenende. Da könne sie sich auskurieren. Aber ich finde, gerade weil morgen Freitag ist, sollte sie daheimbleiben. Sie sagte, aus mir spricht die Arzttochter und dass es sich halt nicht jeder leisten kann, einfach einen Tag blauzumachen. Wir hätten fast angefangen zu streiten. Was soll das denn heißen, sie könne es sich nicht leisten, einen Tag zu Hause zu bleiben. Ausgerechnet sie, die eh lauter Einser schreibt. Ich habe einfach nichts darauf erwidert.

Immerhin waren die letzten Wochen für sie auch kein Zuckerschlecken mit mir. Egal, dann reden wir eben, wenn sie wieder gesund ist. Auf ein paar Tage mehr oder weniger kommt es jetzt nicht an. Hauptsache, ich habe den Entschluss gefasst. Wenn ich mir das vorgenommen habe, dann ziehe ich es auch durch.