Kapitel 13

Ich stand in der Buchhandlung auf der Fußgängerzone und rief mir ins Gedächtnis, welche Autoren Leon mir gegenüber erwähnt hatte. Ein Buch nach dem anderen nahm ich in die Hand und las den Rückentext. Es gab so viele. Woher sollte ich wissen, welche er schon kannte? Da trat eine junge Verkäuferin an mich heran. »Darf ich helfen?«

»Ich suche etwas für einen Freund. Der liebt dieses Zeug, aber ich weiß nicht, was er schon hat.«

»Dann ist es natürlich schwierig«, gab sie zu. Sie nahm ein Buch aus dem Regal und drückte es mir in die Hand. »Wie wär’s damit? Haben wir gestern reinbekommen. Es ist gerade erschienen und die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Freund es gelesen hat, ist eher gering.«

Auf dem Cover war ein zusammengebundenes Kissen. Die Inhaltsangabe klang noch dazu recht spannend. Einen Vorwand hatte ich nun. Jetzt musste ich nur noch den Mut aufbringen, bei Leon zu klingeln.

Vor dem Tor ließ ich meinen Finger über dem Klingelknopf schweben. Bloß nicht nachdenken! Mach es wie damals, als du für die Schwimmprüfung vom Dreimeterbrett springen musstest, redete ich mir gut zu. Ich war eine gute Schwimmerin, hatte keine Probleme mit dem Tauchen, machte perfekte Kopfsprünge vom Einmeterbrett, aber die drei Meter waren nicht mein Ding. Allein die Vorstellung, dort runterspringen zu müssen, hatte mir tagelang Albträume beschert. Als ich mit Julia darüber sprach, meinte sie, ich solle einfach raufgehen, die Augen zumachen und, ohne nachzudenken, springen. Doch als ich dann oben stand, konnte ich mich nicht rühren. Ich hatte solch eine Panik, als ich das Wasser unter mir sah, dass ich umdrehte und die Stufen wieder hinunterkletterte.

Bei der nächsten Schwimmstunde hielt ich mich an Julias Rat: rauf, runter, fertig. Angenehm war es trotzdem nicht gewesen, aber ich hatte es geschafft!

Jetzt war es für mich genau wie damals – ein Sprung vom Dreimeterbrett, hinein ins kalte Wasser. Hätte ich mir Zeit zum Nachdenken gelassen, wäre ich bestimmt unverrichteter Dinge wieder gegangen. Stattdessen presste ich meinen Finger auf die Klingel und hielt meinen Atem an. Vielleicht war er gar nicht zu Hause? Jetzt stell dich nicht so an, ermahnte ich mich, schließlich will ich in seine Wohnung. Ich dachte schon, ich hätte mich ganz umsonst selbst gemartert, weil es ziemlich lange dauerte, bis es in der Gegensprechanlage knackste. »Hallo?«, klang Leons Stimme verzerrt an mein Ohr.

Und wenn er dich nicht reinlässt?, schoss es mir durch den Kopf. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, sagte ich meinen Namen. Der Summer ertönte und ich drückte das Tor auf.

Leon wartete vor der Wohnungstür auf mich. Erfreut sah er nicht aus, aber immerhin lag eine gewisse Neugier in seinem Blick.

Ich hob die Hände, noch bevor er etwas sagen konnte. »Hör zu, es tut mir leid. Jedes Mal, wenn ich mit dir rede, endet es damit, dass ich dich mit irgendwas beleidige.«

»Willst du nicht erst mal reinkommen?«, fragte er und ich vergaß, was ich mir noch alles als Rechtfertigung überlegt hatte. Wieder mal hatte er es geschafft, mich zu überrumpeln. Irgendwie reagierte dieser Typ nie so, wie man es von ihm erwartete.

Er ging vor und hielt mir die Tür auf. »Ich krieg nicht oft Besuch«, sagte er, während ich meine Jacke auszog und sie auf den Kleiderständer hängte.

Ich war ein wenig aufgeregt, mir war klar, dass ich eine Art Sonderbehandlung genoss. Soweit ich wusste, war noch nie wer aus unserer Stufe bei Leon zu Hause gewesen. Dennoch hatte ich nicht vergessen, warum ich hier war: Ich suchte nach Hinweisen auf ein Auto. Beim Schuheausziehen versuchte ich möglichst unauffällig, alles aufzunehmen, was ich sah. Neben der Tür hing ein Schlüsselbord. Ich erkannte den Schlüssel zum Spind in der Schule, einen Wohnungs- und einen Briefkastenschlüssel. Aber nichts, was auf ein Auto deuten würde. Ich stellte meine Schuhe auf die Plastikmatte und richtete mich auf.

Neben der Tür stand eine Kommode mit einer Glasschale. Sie war leer.

»Jetzt steh nicht da wie angewachsen. Wenn du schon hier bist, kannst du auch genauso gut reinkommen«, sagte Leon und deutete ins Wohnzimmer, wie ich durch die offene Tür erkennen konnte.

Ich nickte. »Ach ja, bevor ich es vergesse«, sagte ich, nahm das Buch aus der Plastiktüte und hielt es ihm hin. »Ich hoffe, du kennst es noch nicht.«

Er sah mich an. Sein Blick war so intensiv, dass mir ganz heiß wurde. Es dauerte scheinbar eine Ewigkeit, bis er sagte: »Vielen Dank, wie komme ich zu der Ehre?« Seine Worte zerrissen das Band, das seinen Blick mit meinem festhielt. Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper. Verflixt, was war bloß los mit mir? Etwas lief gewaltig schief und ich musste mir still vorsagen, dass ich nur aus einem Grund hergekommen war: Auto, Autoschlüssel, Beweise suchen.

Ich räusperte mich. »Äh, also. Ich hab das Buch von einem Bekannten meiner Mutter bekommen, aber ich hab schon so einen hohen Stapel«, ich zeigte mit meiner Hand in Kniehöhe, »und da dachte ich, ich kann’s dir mitbringen. Du liest doch so was gerne.« Ich fasste mich langsam. Gerade hatte ich Leon ins Gesicht gelogen und war dabei nicht einmal rot geworden. Ob ich langsam Übung bekam?

Leon grinste. »So, so. Deshalb klebt auch das Preisschild noch drauf und zufällig steckt es auch in der Originaltüte vom Buchladen ums Eck.«

Jetzt wurde ich doch rot. Leon hatte mich eiskalt erwischt. Ich würde einen miserablen Verbrecher abgeben. Dümmer, als die Polizei erlaubt. Nur gut, dass Leon keine Ahnung hatte, warum ich wirklich gekommen war. Theresa, pass bloß auf, dass du dich nicht verplapperst.

»Ist schön hier«, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel und weil ich unbedingt das Thema wechseln wollte. War mir doch egal, was er von mir dachte.

»Setz dich.« Leon bot mir einen Platz auf der Couch an. »Willst du vielleicht was trinken? Ich hab aber nur Mineralwasser. Oder Kaffee. Tee ginge zur Not auch noch, aber ich hab bloß …«

Ich musste lächeln. Er bemühte sich fast übereifrig, ein guter Gastgeber zu sein. Schnell unterbrach ich ihn. »Kaffee wär super!«

»Also okay, magst du mit in die Küche kommen? Oder wartest du lieber hier?« Irgendwie schien er mit der Situation überfordert, er wirkte viel weniger souverän als sonst und das fand ich … irgendwie niedlich.

Theresa, schalt ich mich in Gedanken, du wirst dich doch nicht einlullen lassen. Ich stand auf. »Darf ich mich umsehen?«

»Äh, ja. Klar. Aber wenn du wartest, dann zeig ich dir alles.«

»Na gut. Dann komm ich mit in die Küche.«

Während er die Kaffeemaschine befüllte, sah ich mich in der Küche um. Sie war winzig, aber für einen alleine reichte es. »Kochst du manchmal?«, fragte ich.

»Hin und wieder. Aber ehrlich gesagt, bin ich kein großer Koch. Ich kann Bratwurst, Tiefkühlpizza …«

»Tiefkühlpizza zählt nicht!«

Er lachte und mein Herz schlug plötzlich einen Takt schneller. Ich hatte Eigenbrötler Leon tatsächlich zum Lachen gebracht! Widerwillig gestand ich ein, dass mir sein Lachen gefiel. Schade, dass er sich sonst immer so in sich verkroch.

»Und du?«, fragte er. Ich musste ihn verständnislos angesehen haben, weil er hinzusetzte: »Na, kochen. Kannst du es?«

»Ja, und zwar nicht nur Tiefkühlpizza.«

»Cool, vielleicht kannst du mir helfen, meinen Speiseplan zu erweitern.« Mir schoss das Blut in die Wangen, ich fühlte, wie sie glühten. Warum sagte er das? Wollte er nett sein? Ich war einigermaßen verwirrt, wir kannten uns doch kaum! Trotzdem sagte ich: »Klar. Meiner Schwester gebe ich Nachhilfe in Mathe, dir in Kulinarik. Warum nicht?«

»Kaffee kochen kann ich übrigens schon.« Er deutete auf die Kaffeemaschine, die brodelnde Geräusche von sich gab. Leon nahm mich am Ellenbogen und zog mich aus der Küche. Seine Berührung war nur ganz leicht, trotzdem kribbelte es plötzlich an genau dieser Stelle. »Komm, während der Kaffee durchläuft, zeig ich dir die Wohnung.«

Er führte mich zurück in den Flur und wies mit dem Finger auf eine der geschlossenen Türen. »Das Klo«, sagte er, dann wies er auf die andere. »Badezimmer.«

»Darf ich?«, fragte ich und machte die Badezimmertür auf. Auch dieser Raum war echt klein. Allerdings wirkte er durch die weißen Fliesen und das Spiegelmosaik auf der Wand gegenüber der Duschkabine größer. Leon drängte sich an mir vorbei und hob ein T-Shirt vom Boden auf. Wie gut er roch! »Ich habe nicht mit Besuch gerechnet«, setzte er zu seiner Entschuldigung an.

Ich musste mich räuspern. Es war schon eine Ewigkeit her, dass ich mit einem Typen allein gewesen war – daher meine Unsicherheit, redete ich mir ein. »Du hast es echt schön«, sagte ich mit viel zu hoher Stimme. »Das Mosaik gefällt mir. Find ich eine gute Idee.« Eine gute Idee?! Oh Mann, Theresa, lahmer geht’s ja wohl nicht.

»Hat mein Bruder gemacht.« Auf einmal wurden seine Lippen schmal und in seinen Augen lag ein trauriger Blick.

»Du hast einen Bruder?« Das hatte ich gar nicht gewusst. »Wie alt ist er? Ich habe eine vierzehnjährige Schwester. Und ich schwöre, ich war mit vierzehn bestimmt nie so wie sie.«

»Er ist tot.« Brüsk drehte er sich um, ging an mir vorbei und mir blieb nichts weiter übrig, als ihm zu folgen. Ich und meine große Klappe! Aber woher hätte ich denn vom Tod seines Bruders wissen sollen?

Leon holte aus einem Schrank zwei Becher und trug sie ins Wohnzimmer. Ich setzte mich auf die Couch. Nur wenige Augenblicke zuvor hatte ich das Gefühl gehabt, wir kämen wieder richtig ins Gespräch, so wie im Grätzel. Nun war er wieder genauso verschlossen und weit weg wie sonst.

»Das mit deinem Bruder tut mir leid«, fing ich an. Irgendwie hatte ich das Gefühl, mich bei Leon pausenlos wegen irgendwas zu entschuldigen. Jeder zweite Satz von mir begann mit »tut mir leid«.

Er seufzte. »Es ist jetzt fast ein Jahr her. Ich sollte langsam damit umgehen lernen«, murmelte er mit gesenktem Kopf. »Aber ich bin ja auch selbst schuld, wenn ich in der Wohnung von meinem Bruder wohne. Ich suhle mich ja geradezu in Trauer …« Er seufzte tief und fuhr sich mit der Hand durch seine wuscheligen braunen Haare.

Wie gerne hätte ich ihm den Arm um die Schulter gelegt, ihn versucht zu trösten. Wir hätten uns gegenseitig trösten können. Um ihn von seinem Bruder abzulenken, zeigte ich auf eine schmale Tür, die vom Wohnzimmer abging. »Und was ist da drin?«

»Schlafzimmer«, gab er zur Antwort. Ich wollte mich erheben, weil ich gerne auch dort einen Blick hineingeworfen hätte, doch Leon hielt mich zurück. »Nein, das Bett ist nicht gemacht und … ja, also …«

»Dann ist es eh besser, wenn ich nicht reinschau. Ich hatte gerade so einen enorm ordentlichen Eindruck von dir«, gab ich zurück und brachte ihn endlich wieder zum Lächeln.

»Ich geh dann mal … der Kaffee.« Warum wirkte er plötzlich so unsicher? Bisher hatte ich immer den Eindruck, dass ihn nichts aus der Ruhe bringen konnte. Vermutlich wühlte ihn die Erinnerung an seinen toten Bruder so sehr auf.

»Kaffee kochen kannst du wirklich. Ich bin mir sicher, jeder große Chefkoch hat mal mit schnödem Kaffee angefangen.« Ich gewann ein weiteres Lächeln von Leon.

»Okay, wenn ich nach dem Studium keinen anderen Job kriege, werde ich hauptberuflich Kaffeekoch.«

»Was willst du denn studieren?«, fragte ich, während ich auf den Kaffee blies, um ihn abzukühlen.

»Am liebsten Psychologie oder Sprachwissenschaften.«

Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. Ich hätte ihn eher als Tüftler eingeschätzt. Irgendwas mit Computer oder Maschinenbau. Von mir aus Architekt oder meinetwegen Anwalt. Aber Psychologie? »Warum ausgerechnet Psychologie?«, wollte ich wissen.

Er überlegte kurz, bevor er mir antwortete. »Weil ich das Innenleben der Menschen spannend finde. Du nicht?«

»Doch. Irgendwie schon. Zum Beispiel würde es mich interessieren, warum Julia alleine heimgegangen ist.«

»Blöd, dass ich mit dem Studium nicht schon fertig bin, vielleicht hätte ich dir deine Frage beantworten können.« Er sah mich von der Seite an. »Und vielleicht wüsste ich dann auch, warum die Polizei aus heiterem Himmel zu mir kommt und mir hundert Fragen stellt. War sie auch bei dir?«

»Nein. Wann war das?« Ich drehte den Becher zwischen meinen Händen und nahm einen tiefen Schluck.

»Letzte Woche. Ein paar Tage nach Julias Tod. Zuerst dachte ich mir nichts dabei, aber als ich darüber nachdachte, kam es mir komisch vor, dass ich befragt werde, nachdem ja schon feststand, dass Julia einen Unfall hatte. Glauben die etwa selbst nicht an einen Unfall?«

Ich rutschte auf dem Sofa hin und her. Mein Mund war ganz trocken, schnell schenkte ich mir eine zweite Tasse Kaffee ein. Fast hätte ich mir die Lippen verbrüht.

»Ich habe das Gefühl, die glauben, ich hätte Schuld an Julias Unfall. Vielleicht rede ich mir das auch nur ein, aber ehrlich gesagt reichen mir schon die Vorwürfe, die ich mir ohnehin mache, weil ich sie alleine im Grätzel gelassen hab an dem Abend. Du hast doch überall herumgefragt. Hast du irgendetwas Neues über Julias Tod erfahren?«

»Also … ich … nein. Nur dass sie nicht den Bus genommen hat«, stammelte ich, völlig überrumpelt von seiner Frage.

»Woher weißt du das so sicher?«

»Ich hab den Busfahrer gefragt, der an dem Abend Dienst hatte.«

»Hm, das heißt dann wohl, dass sie irgendwie anders zur Brücke gekommen sein muss.«

Ich nickte. »Sag ich doch die ganze Zeit. Wahrscheinlich hat sie jemand mitgenommen, jemand mit einem Auto und …«

Leons Gesicht erstarrte. Ganz langsam stellte er seinen Kaffeebecher auf den Couchtisch. Dann musterte er mich mit zusammengekniffenen Augen von der Seite. Seine Stimme klang gefährlich ruhig, als er sagte: »Deshalb hast du mich also gefragt, ob ich am Montag mit dem Auto kommen würde. Die Frage kam mir schon in dem Moment total absurd vor. Aber jetzt kapiere ich: Du wolltest herausfinden, ob ich eins hab.«

»Ich …« Meine Stimme versagte. Ich stellte den Becher mit zitternden Händen ab und zuckte zusammen, als ein wenig von dem heißen Kaffe auf meine Finger schwappte.

Leon war jetzt aufgesprungen. So war er viel größer als ich, die immer noch auf dem Sofa saß. Langsam erhob ich mich. Doch es war nicht mal seine Größe, die mich einschüchterte.

»Dir habe ich den Besuch dieser Polizeibeamtin zu verdanken. Gib’s zu!«

Ich brachte kein Wort hervor. Aber mein Schweigen war Antwort genug.

»Hau ab! Und nimm dein Scheißbuch mit!«, schrie er mich an. Dann trat er ein paar Schritte zurück. Ich nahm das Buch vom Tisch. Eigentlich hätte ich froh sein müssen, dass jetzt die ganze Wahrheit draußen war. Doch anstatt erleichtert zu sein, war ich traurig. Es kam mir vor, als hätte ich nach meiner besten Freundin auch noch einen Freund verloren.

17. Februar 2012

Der letzte Schultag vor den Ferien. Ich war noch nie so froh, endlich freizuhaben – und dann auch wieder nicht. Einerseits brauche ich diese Zeit, um weiter etwas über die Affäre meines Vaters herauszubekommen. Tatsachen, die beweisen, dass er Schuld an Melissas Selbstmord hat. Dass er eine Affäre mit ihr hatte. Er würde mich für verrückt erklären lassen, wenn ich ihm das so unbegründet vor die Füße werfen würde. Ich würde ihn überführen müssen, eindeutige Fakten schaffen. Ich bin nicht verrückt. Ich weiß, was ich gesehen habe.

Ich habe Tessa gefragt, ob sie es für möglich hält, dass Melissa mit einem verheirateten Mann liiert war, der sie geschwängert hatte. Sie meinte, das sei möglich, aber es wäre doch kein Grund, sich umzubringen. Sie jedenfalls würde das niemals tun. Kein Kerl der Welt sei das wert. Sie spinnt sich ihre eigenen Geschichten zusammen, die liebe Tessa. Sie hat sogar die Vermutung in den Raum gestellt, Melissa sei vielleicht vergewaltigt oder vom eigenen Vater missbraucht worden.

Immerhin hat Tessa damit erreicht, dass ich auch noch weitere Möglichkeiten in Erwägung ziehe. Vielleicht gibt es eine andere Erklärung für die eingespeicherte Telefonnummer Melissas in seinem Handy, für ihre Besuche in seiner Praxis, für ihre Anwesenheit in seinem Auto – und schlussendlich für die Handschuhe, die sie trug, als ich sie dort liegen sah. Vielleicht kann es wirklich ganz anders abgelaufen sein.

Jedenfalls habe ich jetzt zehn Tage Zeit, um Nachforschungen anzustellen. Das ist das Positive an den Ferien.

Allerdings wird mir jetzt schon übel, wenn ich daran denke, dass ich mich jeden Tag, Stunde um Stunde, verstellen muss. Meine Eltern haben sich Urlaub genommen. Ursprünglich wollten wir Ski fahren gehen, doch nachdem ich Melissas Leiche gefunden habe, stornierten sie die Reise. Mein Vater meinte, wir sollten trotzdem fahren, die frische Luft und die Bewegung würden mir guttun. Außerdem sei nach diesem Erlebnis ein Ortswechsel ratsam. Meine Mutter hingegen fand, ich sei nicht kräftig genug und in dieser belastenden Situation sei es notwendig, ein stabiles Umfeld zu haben, bei meinen Freunden zu sein. Deswegen gab es sogar Streit zwischen meinen Eltern – na ja, eher eine Meinungsverschiedenheit. Schließlich mischte ich mich ein und wollte wissen, warum sie nicht mich fragen. Sie könnten ja fahren, ich sei alt genug, um eine Woche allein zu Hause zu bleiben. Sie sahen sich entsetzt an und waren sich einig, dass diese Option nicht infrage kam. Nicht in meinem »Gemütszustand«. Wenn ich nicht verreisen wolle, würden sie natürlich auch daheimbleiben. Und das heißt, ich habe beide den ganzen Tag am Hals. Ich hoffe, dass ich möglichst viel Zeit bei Tessa oder unterwegs auf Recherche verbringen kann. Irgendwas fällt mir schon ein. Den Rest der Zeit verziehe ich mich einfach in mein Zimmer.

Ich habe mich dazu entschlossen, meine Aufzeichnungen in unserem alten Versteck unterzubringen. Da bin ich jetzt.

Es wäre schön, wenn das Baumhaus geheizt wäre. Lange kann ich nicht in der Kälte sitzen. Meine Schrift kann auch kein Schwein lesen, mit Handschuhen schreibt es sich miserabel, aber Frostbeulen am Finger sind auch nicht sexy. Also muss es halt so gehen. Eine dauerhafte Lösung ist das bestimmt nicht, aber im Moment bleibt mir nichts anderes übrig. Ich hoffe immer noch, dass ich in ein paar Tagen das Tagebuch wieder in mein Zimmer bringen kann, weil sich alles zum Guten auflöst und ich über meine dummen Verdächtigungen lachen kann. Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich.

Es ist so eisig, meine Nase ist garantiert schon rot und blau gefroren. Ich überlege ernsthaft, Leon zu fragen, ob ich ihm meine Notizen anvertrauen kann. Natürlich ohne dass er sie liest. Aber ich glaube, so weit geht unser Vertrauensverhältnis (noch) nicht. Also muss ich mich einigermaßen kurz halten. Ich komme sobald wie möglich wieder, um aufzuschreiben, was ich herausgefunden habe.