25

Davy war in einem erstickenden Albtraum über Blut und Schlangen und Schmerz gefangen. Sein Schädel pochte, sein Körper tat weh. Jemand schüttelte ihn. Ein harter Schlag traf ihn ins Gesicht. Er zwang sich, die Augen zu öffnen. Jemand starrte zu ihm hinab. Er hatte Mühe, den Blick zu fokussieren.

Ein schlanker, gut aussehender Mann Ende dreißig mit kurz geschnittenem dunklem Haar. Er lächelte. Seine weißen Zähne und sein weißes Hemd blendeten Davys Augen. Er kniff sie zusammen, um den Schmerz auszuschalten. Der Mann schlug ihn erneut.

Er öffnete die Augen. »Wer zum Teufel sind Sie?«, murmelte er.

Die Schmerzen intensivierten sich, als man ihm die Arme nach hinten zerrte und an Ellbogen und Handgelenken fesselte. Seine Finger waren taub.

»Wo ist Margaret Callahan?«, fragte der Mann.

Sein von Betäubungsmitteln vernebeltes Gehirn hatte Mühe, die Punkte zu verbinden. Callahan. Margots richtiger Name. »Ich kenne keine Margaret Callahan.«

Der nächste Schlag. »Falsche Antwort, Mr McCloud.«

Davy machte eine Bestandsaufnahme. Er war auf einem schweren Stuhl festgebunden. Der Mann vor ihm war nicht Snakey, wenngleich er ihm ähnelte. Er war älter, ein wenig schlanker. »Wo ist Snakey?«, fragte Davy.

Der Mann wirkte aufrichtig verwirrt. »Wie bitte?«

»Dieses Ninja-Arschloch, das auf Schritt und Tritt Menschen umbringt.«

Der Mann sah amüsiert drein. »Ach so. Mein kleiner Bruder Faris. Also hat er tatsächlich seiner Mordlust nachgegeben. Sie werden ihn später wiedersehen. Dank eurer letzten Begegnung ist er noch ein wenig lädiert.«

»Wer seid ihr Typen?«

»Sie dürfen mich Marcus nennen«, erwiderte der Mann. »Lassen Sie uns jetzt über den Verbleib von Margaret Callahan sprechen. Oder Margot Vetter, falls Sie das vorziehen.«

Es war zwecklos, sich dumm zu stellen. »Was wollen Sie von ihr?«

»Ich will lediglich das zurückhaben, was sie mir weggenommen hat.«

»Sie hat Ihnen gar nichts weggenommen.«

Marcus ließ ein bellendes Lachen hören. »Es überrascht mich nicht, dass sie Ihnen nichts davon erzählt hat. Immerhin geht es hier um mehrere Hundert Millionen Dollar.«

Davy sah sich in der prächtigen Bibliothek um, die mit teuren Perserteppichen und geschmackvoller Kunst ausgestattet war. »Ihr ganzer Besitz befindet sich in fünf Einkaufstüten im Kofferraum ihres Autos«, sagte er. »In diesen Tüten ist nichts, das mehrere Hundert Millionen Dollar wert wäre.«

»Ich weiß nicht, wo sie es versteckt hat«, entgegnete Marcus geduldig. »Genau darüber möchte ich mit ihr reden. Und zwar so bald wie möglich.«

»Ich weiß nicht, wo sie ist.«

Marcus zog Davys Handy aus der Tasche und ließ es von seinen Fingerspitzen baumeln. »Darüber werden wir uns noch unterhalten. Allerdings bezweifle ich, dass ihr Aufenthaltsort lange ein Geheimnis bleiben wird, ganz egal, was Sie sagen oder nicht sagen. Ich brauche nur zu warten, bis sie Angst bekommt und Sie anruft. Dann werden wir sehen, wie viel Sie ihr wert sind. Sind Sie mehrere Hundert Millionen wert?«

Davy starrte den Kerl an. Also war dieses einfältig lächelnde Stück Scheiße derjenige, der Margots Leben zerstört hatte. Gott, sie hatte wirklich Besseres verdient!

Er wappnete sich. »Fick dich«, entgegnete er ruhig.

Sie tigerte auf und ab, kaute an ihren Fingernägeln, raufte sich die Haare. Ein Gespräch mit diesen aufgeblasenen Angebern bei Krell konnte nicht so lange dauern. Eine halbe Stunde für die Besorgungen im Einkaufszentrum, fünfzehn Minuten für die Fahrt zu Krell, eine Stunde für die Unterredung mit den Wichtigtuern, fünfzehn Minuten für die Rückfahrt, und das war schon großzügig gerechnet.

Davy war jetzt seit mehr als drei Stunden weg.

Dieses unruhige Prickeln in ihrer Magengrube machte sie verrückt. Natürlich hatte sie dieses Gefühl in den vergangenen acht Monaten öfter verspürt, trotzdem war es eindeutig stärker als sonst. Es näherte sich dem Level, wo sie schreien und die Nerven verlieren würde.

Während der letzten Stunde hatte sie immer wieder zum Telefon gegriffen, nur um gleich wieder aufzulegen. Während die Minuten verstrichen, umklammerte sie den Hörer, ihre Finger über der Tastatur verharrend.

Warum nicht? Im schlimmsten Fall würde er gereizt reagieren, weil sie sich kindisch und hysterisch benahm. Könnte sie damit leben? Und ob. Wenn sie mit seinem Zorn fertig wurde, konnte seine Gereiztheit nicht schlimmer sein.

Aber was sie keine Sekunde länger aushielt, war dieser gähnende Schlund der Angst, der ihr ganzes Universum zu verschlingen drohte. Und da sich ihr ganzes Universum derzeit um Davy drehte, fiel ihr die Entscheidung leicht. Es gab Grenzen für die Selbstbeherrschung einer Frau.

Sie griff zum Hörer, wählte seine Handynummer und betete darum, dass er erreichbar sein würde. Es klingelte, Gott sei Dank! Dann ertönte ein Klicken, als abgenommen wurde.

»Davy? Bist du dran?«, fragte sie. »Kannst du mich hören?«

Es entstand eine kurze Pause. »Margaret Callahan, nehme ich an?«

Noch im selben Moment gaben ihre Beine nach, und sie landete schmachvoll auf ihrem Hintern.

Es war hart, Worte herauszupressen, wenn einem die Luft zum Atmen fehlte. »Mit wem spreche ich?«

»Mit jemandem, der Sie seit acht Monaten sehr dringend treffen möchte«, erwiderte die samtige Stimme. »Sie sind uns immer wieder durch die Finger geschlüpft. Es hat uns verrückt gemacht.«

»Warum haben Sie Davys Handy? Wo ist Davy?«

»Er ist hier bei mir. Wir haben uns eben über Ihren Aufenthaltsort unterhalten. Nur war er bislang nicht sehr gesprächig. Ich wollte gerade die Samthandschuhe ausziehen, um es mal so auszudrücken, und voilà – schon klingelt sein Telefon. Miss Callahan, Sie verfügen über einen sechsten Sinn.«

»Lassen Sie mich mit ihm reden«, verlangte sie.

»Aber gern. Mr McCloud? Ihre Freundin möchte mit Ihnen sprechen.«

»Margot?« Es war Davys Stimme. Sie klang heiser und rau.

»Oh Gott, Davy, was hat dieses Schwein dir …?«

»Hör mir zu! Du musst abhauen. Leg den Hörer auf, und renn wie der Teufel!«

»Aber ich … Was ist mit dir?«

»Verschwende keine Zeit! Leg auf und hau ab! Sprich nicht erst mit diesem Hurensohn! Er ist es nicht wert.«

»Davy, ich kann nicht …«

»Ich bin es wieder, Miss Callahan«, sagte die weiche Stimme. »Die Hingabe ihres Liebhabers rührt mich zutiefst, trotzdem kann ich Ihnen nicht empfehlen, seinem Rat zu folgen. Nicht, wenn es für Sie in irgendeiner Form von Interesse ist, in wie viele Teile ich ihn schneide.«

Sie hatte geglaubt zu wissen, was Angst ist, doch in Wahrheit hatte sie bis zu diesem Moment nicht die leiseste Vorstellung gehabt. »Sind Sie Snakey?«

»Snakey?« Die Stimme war nun ein tiefes, verrücktes Gackern. »Ich liebe diesen neuen Spitznamen. Er passt sehr gut zu ihm. Nein, mein Name ist Marcus, aber Snakey ist hier und voller Vorfreude, Sie wiederzusehen. Sie haben großen Eindruck auf ihn gemacht, Margaret.«

Sie konnte ihre Stimme kaum ruhig halten. »Was wollen Sie von mir?«

»Sehr gut, Miss Callahan. Auf den Punkt, ohne Umschweife. Ich mag praktisch veranlagte Frauen. Aber Sie wissen, was ich von Ihnen will.«

»Nein, das tue ich nicht. Ich schwöre bei Gott …«

»Der Teil, in dem Sie auf Ihrer Unwissenheit beharren, langweilt mich. Lassen Sie ihn aus! Es wäre schlimm für Mr McCloud, wenn ich wütend würde.«

Margot war so frustriert, dass sie hätte schreien können. Sie musste unter einem bösen Fluch stehen – dazu verdammt, blind nach einem Schlüssel zu der nackten Gefängnismauer vor ihrem Gesicht zu tasten. »Bitte helfen Sie mir!«, flehte sie. »Seien Sie konkret! Ich möchte ja kooperieren. Das hier ist zu wichtig, um irgendwelche Missverständnisse zu riskieren.«

Die unbekannte Stimme stieß ein theatralisches Seufzen aus. »Diese Leitung ist nicht sicher, Miss Callahan. Tun Sie nicht so begriffsstutzig! Ich will mein Eigentum zurück. Sie hatten es zuletzt. Klingelt es jetzt bei Ihnen?«

»Aber ich …«

»Ich werde Ihnen einige Instruktionen geben. Ich würde Ihnen davon abraten, die Polizei zu verständigen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie Ihnen glauben würde, und selbst wenn sie es täte, würde ich davon erfahren, und McCloud würde bezahlen. Verstehen Sie mich?«

»Ja.«

»Dann hören Sie mir jetzt genau zu. Der Stadtbus mit der Nummer dreihundertdreizehn fährt im Zwanzig-Minuten-Takt vom Hauptbahnhof im Zentrum ab. Sie werden ihn um 18:05 Uhr nehmen. Er fährt circa sechs Kilometer die Wyatt Avenue entlang, bevor er in südlicher Richtung auf die Trevitt abbiegt. Können Sie mir folgen?«

»Ja«, bestätigte sie. »18:05. Bus dreihundertdreizehn. Wyatt. Trevitt.«

»Die zweite Haltestelle auf der Trevitt ist an der Ecke Rosewell. Steigen Sie aus, und gehen Sie zehn Blocks Richtung Süden. Sie kommen an eine Straßenunterführung. Links von Ihnen werden Sie ein kleines Lebensmittelgeschäft und einen Autoteilehandel sehen. Dazwischen befindet sich ein Münzfernsprecher. Dort werden Sie weitere Anweisungen erhalten, falls wir davon überzeugt sind, dass Sie allein kommen und nicht verfolgt wurden.«

»Warten Sie«, sagte sie hastig. »Vielleicht kann ich nicht …«

»Es gibt kein ›Kann nicht‹, Miss Callahan. Sollten Sie nicht pünktlich mit meinem Eigentum auftauchen, wird McCloud sterben. Grausam.«

»Aber wie soll ich …«

»Viel Glück! Ich freue mich darauf, Sie kennenzulernen.«

Die Verbindung wurde abgebrochen, und Margot stand hilflos im Zimmer. Dieses kalte, kranke Gefühl stieg wieder in ihr hoch, so als würde sie gleich ohnmächtig werden oder kotzen müssen. Sie legte sich auf den Rücken, zog die Knie an und zwang sich zu atmen. Sie konnte es sich nicht erlauben, die Nerven zu verlieren.

Es mussten der Abdruck und diese gruselige Gummihand sein, was der Mann haben wollte. Auch wenn sie sich nicht annähernd vorstellen konnte, warum. Es war schwer, klar zu denken, während ihr Hirn von einer Faust des Schreckens zusammengequetscht wurde, aber unter dem Schrecken verspürte sie etwas Neues. Einen scharfen, brennenden Zorn. Er beruhigte sie.

Dieser bösartige Mistkerl tat Davy weh. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn zu stoppen. Und ihn büßen zu lassen.

Davy hatte ihr befohlen wegzulaufen. Sehr edelmütig und heroisch von ihm, und sie wusste die Geste zu schätzen, aber ihr Leben wäre keinen Pfifferling mehr wert, wenn sie davonrannte und den Mann, den sie liebte, dem sicheren Tod überließe. Das würde rein gar nichts bringen. Genauso gut könnte sie sich einfach vor einen Bus werfen und der Sache ein Ende machen.

Der einzige Trumpf, den sie noch auszuspielen hatte, war sie selbst. Sie würde das grässliche Ding in ihre Einkaufstüte packen, Tamaras Haarnadel in ihre Frisur stecken und den Instruktionen des Mannes folgen. Dann konnte sie nur noch wie der Teufel auf eine Gelegenheit hoffen, ihn zu töten.

Sie wählte Seans Nummer, die Davy ihr gegeben hatte. Er nahm sofort ab. »Ja? Wer ist da?«

»Wir stecken in Schwierigkeiten«, sagte Margot tonlos.

»Das ging aber schnell.« Seine Stimme war ohne sein typisches Lachen kaum wiederzuerkennen.

Margot berichtete ihm von Marcus’ Anruf und seinen Anweisungen. »Ich werde zu dem Treffen gehen«, schloss sie. »Es gibt nichts, was ich sonst tun könnte. Du kannst ebenso wenig tun, aber ich dachte, dass du zumindest Bescheid wissen solltest.«

»Wir sind schon auf dem Weg. Seth und ich. Wir sind wenige Stunden nach euch losgefahren. Sobald wir unsere Ausrüstung zusammengepackt hatten, sind wir losgedüst. Wir brauchen immer noch etwa anderthalb Stunden nach San Cataldo, aber wir kommen so schnell wie möglich.«

Sie war wie vor den Kopf geschlagen. »Woher wusstet ihr, wo wir …«

»Was glaubst du, wie Davy dich gefunden hat?« Seans Stimme klang ungeduldig. »Hast du Mikeys Halsband noch bei dir?«

»Äh, ja«, sagte sie verwirrt. »Soll ich es …?«

»Ja, verdammt! Behalte es unbedingt bei dir. Noch besser wäre, du wartest auf uns. Halte dich von dem Hurenbock fern. Davy würde das so wollen.«

»Mich von ihm fernzuhalten, gehörte nicht zu den Optionen, die der Drecksack mir gelassen hat. Sie haben Davy. Sie werden ihm etwas antun, wenn ich nicht erscheine.«

»Scheiße«, murmelte Sean. »Hast du wenigstens eine Schusswaffe?«

»Was, ich? Dass soll wohl ein Witz sein! Ich muss jetzt los, Sean. Viel Glück!«

»Margot …«, rief er, aber sie legte auf und rief die Vermittlung an. »Geben Sie mir bitte das Polizeirevier von San Cataldo.«

Sie wartete eine gefühlte Ewigkeit, bis sich schließlich eine weibliche Stimme meldete.

»Hallo. Ich muss dringend mit der Person sprechen, die die Ermittlungen im Mordfall Craig Caruso und Mandi Whitlow leitet.«

»Bleiben Sie bitte dran.«

Sie musterte sich im Spiegel, während sie wartete, und registrierte teilnahmslos, wie schrecklich sie aussah. Ihr Gesicht war kreidebleich, die Augen lagen tief in den Höhlen, ihre Jeans und ihr Oberteil waren schmuddelig und zerknittert. Eine tiefe männliche Stimme lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder zum Telefon. »Hier spricht Detective Sam Garrett. Sie haben Informationen im Fall Craig Caruso?«

»Ich bin Mag Callahan«, erklärte sie.

Es entstand eine verdutzte Pause. »Wo sind Sie, Miss Callahan?«

»Es tut mir leid, aber das kann ich Ihnen im Moment nicht verraten. Ich habe versucht herauszufinden, wer mich seit acht Monaten reinlegt. Ich glaube, dass ich den Bastard gefunden habe, besser gesagt, er hat mich gefunden. Aber ich bezweifle, dass ich unsere bevorstehende Begegnung überleben werde, deshalb wollte ich zuvor zu Protokoll geben, dass ich keine Mörderin bin. Okay? Schreiben Sie mit. Sagen Sie es allen.«

»Äh …«

»Und Davy McCloud ist kein Mörder«, fügte sie nur zur Sicherheit hinzu.

»Wer?« Garrett klang nun vollends verwirrt.

»Mein Freund. Auch ihm wurde ein Mord angehängt. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, wurde er jetzt gekidnappt, um mich unter Druck zu setzen, von demselben Dreckskerl, der Craig und Mandi umgebracht hat.«

»Eine Sekunde. Ich komme nicht mehr mit. Sie behaupten, dass Ihr Freund gekidnappt wurde und dass Sie …«

»Sie sind nicht der Einzige, der nicht mehr mitkommt, Detective«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich komme seit Monaten nicht mehr mit. Es tut mir leid, aber besser kann ich es nicht erklären. Mir bleibt nur ein sehr enges Zeitfenster, und ich befürchte, dass sie Davy verletzen werden. Ich wollte Ihnen und Ihren Leuten nur eine Vorwarnung geben. Sollten Sie mich irgendwo in einem Müllcontainer finden, hat mich derselbe Mann ermordet, der Craig und Mandi auf dem Gewissen hat. Und er arbeitet nicht allein. Er hat Hilfe von einem völlig durchgeknallten Auftragskiller. Können Sie mir noch folgen?«

»Wer ist dieser Mann, Miss Callahan?« Garretts Ton war der eines Mannes, der versuchte, vernünftig mit einer Irren zu sprechen. »Helfen Sie mir auf die Sprünge.«

Sie lachte laut. »Denken Sie, dass ich in diesem Dilemma stecken würde, wenn ich wüsste, wer er ist? Wenn es mir möglich gewesen wäre, hätte ich diesen Albtraum vor Monaten an euch übergeben, das können Sie mir glauben. Im Moment weiß ich nur, dass er sich Marcus nennt. Sollte ich diese Nacht überleben, verspreche ich, dass ich Sie kontaktieren und Ihnen die ganze Geschichte erzählen werde.«

»Aber wir …«

»Das ist alles, was ich jetzt sagen kann. Danke für Ihre Zeit!«

Margot knallte den Hörer auf. Gut. Das war erledigt, und es fühlte sich richtig an. Es war vielleicht sinnlos, aber symbolisch angemessen. Sie hatte das Ende der Fahnenstange erreicht. Sie sah auf die Uhr, kalkulierte, wie lange sie mit dem Taxi zum Bahnhof bräuchte, und kam zu dem Schluss, dass ihr noch fünf Minuten blieben, um sich für das bevorstehende Ende der Welt hübsch zu machen. Auf gar keinen Fall würde sie ihrem ultimativen Verhängnis in diesem schlampigen Aufzug entgegentreten.

Das Einzige, was sie außer der Jeans und dem Top besaß, war das Kleid, das sie zur Hochzeit getragen hatte. Es war zu sexy für diesen Anlass, aber daran ließ sich jetzt nichts ändern. Sie zerrte sich die Klamotten vom Leib und zog sich das Kleid über den Kopf. Scheiß auf die Slipkonturen!

Sie zog die Sandalen mit den hohen Absätzen in Erwägung und beschloss, dass sie nicht um jeden Preis einen modischen Fauxpas vor dem Jüngsten Gericht vermeiden musste. Sie bezweifelte zwar, dass das Schicksal ihr die Chance geben würde, wie ein Hase vor Snakey und seinen Kumpanen davonzulaufen, trotzdem musste sie noch lange nicht in unbequemen Schuhen umherlaufen.

Damit blieben nur die abgewetzten roten Sneakers. Zumindest bildeten sie auf ihre ramponierte Art einen mutigen visuellen Kontrast.

Haare. Sie stylte ihre ohnehin schon wirre Mähne, bis sie ihr in lockigen Büscheln vom Kopf abstand. Anschließend zwirbelte sie alles, was sie erwischen konnte, zu einem Knoten zusammen, der fest genug war, um Tamaras Haarnadel sicheren Halt zu geben. Überflüssig, sich mit dem Rest abzumühen. Ihre Frisur war perfekt, wie sie war – der verstrubbelte Heroinchic eines Haute-Couture-Laufstegmodels.

Sie kramte ihr Make-up aus der Plastiktüte und trug mit schlampiger Selbstvergessenheit flüssigen Lidstrich und Wimperntusche auf. Mit ihren dunklen Augenringen war der absichtlich verwischte Look die beste Lösung.

Mit kühner Hand schminkte sie sich die Lippen, dann musterte sie sich kritisch im Spiegel und tupfte etwas von ihrem Lippenstift auf ihre Wangen, wo sie ihn kräftig verrieb, um ihnen ein wenig Farbe zu verleihen.

Sie holte Mikeys Halsband aus ihrer Handtasche und legte es sich um. Es passte nur knapp. Sie schob das Medaillon nach hinten, steckte es unter das Leder und löste ein paar Nackenhaare aus dem Knoten, um es zu verbergen. Sie überprüfte das Endergebnis in dem mannshohen Spiegel und blinzelte überrascht mit ihren dick getuschten Wimpern.

Donnerwetter! Nun ja, es war zumindest irgendein Look. Zwar keiner, den sie sich je für sich hätte vorstellen können, aber irgendwie schien er ihr angemessen, um ihrem Ende entgegenzutreten. Die knallroten Lippenstifttupfen auf ihren bleichen Wangen gaben ihr das dramatische Aussehen einer tuberkulosekranken Prostituierten aus dem 19. Jahrhundert, und das nietenbesetzte Hundehalsband rundete das Bild auf schockierende Weise ab. Sie wusste nicht, welche Botschaft sie damit aussandte, aber das war ihr auch egal. Sollten sich ruhig alle den Kopf zerbrechen.

Sie fasste in ihren BH, um ihr Dekolleté anzuheben, und zog das Kleid ein paar Zentimeter nach unten. Retro-Tech-Punk trifft die Addams Family. Sie kam zu dem Schluss, dass sie mit ihrem Aussehen zufrieden war. Es war ein Fick-dich-Look. Ein kleines Extra, das sie ausgleichend in die Waagschale gegen ihre überwältigende Angst legen konnte.

Aus ihren fünf Minuten waren sieben geworden. Jetzt gab es keinen Aufschub mehr. Sie leerte die Plastiktüte aus, steckte den Abdruck und die Gummihand hinein, nahm ihre Handtasche und rannte aus der Tür.

Anfangs befürchtete sie, dass sie Schwierigkeiten haben würde, in ihrem Aufzug ein Taxi zu bekommen, aber kaum dass sie den Arm hob, hielt eines mit quietschenden Reifen neben ihr an. Der Taxifahrer warf ihr unaufhörlich faszinierte Blicke zu, aber sie war zu sehr damit beschäftigt, den Gedanken zu verdrängen, dass Davy Schmerzen litt, um sich daran zu stören. Sie fischte den Fahrpreis aus ihrer Handtasche. Erstaunlich, wie sich ihr Verhältnis zu Geld verändert hatte, seit sie die Hoffnung aufgegeben hatte, die Nacht zu überleben. Sie brauchte nur noch den Betrag für ein Busticket, danach war ihr Geld nicht mehr wert als Monopolyscheine. Sobald sie das Taxi bezahlt hätte, könnte sie den Rest aus dem Fenster werfen. Nicht, dass noch viel zum Werfen übrig war.

In ihrem Outfit war die Rosewell Avenue nicht gerade das beste Viertel, um aus dem Bus zu steigen und zehn Blocks zu Fuß zurückzulegen. Margot realisierte dies, kaum dass der Bus wieder anfuhr und den Blick auf einen Buch- und Videoladen für Erwachsene, ein ausschließlich von Männern frequentiertes Fitnessstudio und einen schmuddeligen Massagesalon freigab. Ganz zu schweigen von den spärlich bekleideten Damen, die sie von verschiedenen Straßenecken und Hauseingängen aus mit feindlichen Blicken durchbohrten. Die Plastiktüte fest an ihre Brust gedrückt, drehte sie sich einmal im Kreis und hielt nach der Person Ausschau, die sie observierte – ohne Erfolg. Sie straffte die Schultern und lief los. Während sie die Blocks, die sie zurücklegte, zählte, achtete sie sorgsam darauf, die starrenden Blicke, die ihr begegneten, nicht zu erwidern.

Kaum zu glauben, wie anders Davys durchdringender Blick im Vergleich zu den plumpen Einschüchterungsversuchen dieser Idioten war. Es war der Unterschied zwischen echter und vorgetäuschter Macht. Davy war echt, heldenhaft und tapfer. Ihr zu sagen, dass sie fliehen sollte, während sie ihn quälten, war … Stopp – daran durfte sie nicht denken. Unkontrolliertes Schluchzen gehörte nicht zu ihrem Plan – nicht wenn sie nach nur noch drei Häuserblocks ihrem unaussprechlichen Schicksal gegenübertreten musste.

Einen Fuß vor den anderen. Rissiger Asphalt unter ihren Schuhen. Zerbrochenes Glas, Spritzen, benutzte Kondome, Zigarettenkippen. Das Dröhnen der Straßenüberführung wurde lauter. Schweiß rann ihr den Rücken hinab. Die Farben reizten ihre Augen, die Gerüche drangsalierten ihre Nase. Abgase, Marihuana, Urin, verrottender Müll.

Da war es, genau wie dieser Marcus gesagt hatte – der Autoteilehandel, das Lebensmittelgeschäft. Das Telefon dazwischen begann zu läuten, während sie es noch anstarrte. Sie ging hinüber und griff mit dem Enthusiasmus, mit dem man möglicherweise eine giftige Schlange anfasst, nach dem Hörer. »Ja?«

»Margaret Callahan?«

»Ja.«

»In dreißig Sekunden wird hinter Ihnen ein grauer Kleinbus halten. Steigen Sie ein.«

»Aber ich …«

Die Verbindung war tot. Margot ließ den Hörer fallen. Er schwang wie ein Plastikpendel an seiner metallumwickelten Schnur vor und zurück. Dreißig Sekunden vergingen. Ein Motor röhrte. Sie drehte sich um. Die Seitentür eines grauen Minivans wurde aufgeschoben. Ein Mann mit einem schwarzen Pferdeschwanz kauerte in der Tür. Er grinste sie an. »Margaret Callahan?«

Sie nickte. Er streckte die Hand nach der Plastiktüte aus. Sie gab sie ihm.

Der Mann spähte hinein, bevor er sie an jemanden auf dem Vordersitz weiterreichte. Er wandte sich wieder ihr zu und ließ den Blick lüstern über ihren Körper wandern. »Steigen Sie ein!«

Gelähmt vor Angst starrte sie ihn an.

»Falls Sie Ihren Freund je wiedersehen wollen«, fügte er hinzu.

Margot stieg ein.