5
Marcus Worthington verspürte Mordlust.
All die Jahre akribischer Konditionierung, die er seinem jüngeren Bruder Faris antrainiert hatte – ausgelöscht wie von einem bösartigen Computervirus.
Und das Ganze war dieser Callahan-Schlampe zu verdanken.
Er konnte es kaum erwarten, die Frau endlich tot zu sehen, nur dass ein enttäuschter Faris zu allem fähig war. Wenige Leute wussten von Faris’ einzigartigen Fähigkeiten und den enormen Risiken, die damit einhergingen. Bisher hatte Marcus jede Willensschlacht für sich entschieden, dennoch war er besorgt.
Wenn Marcus so aufgebracht war wie jetzt, konnte er sich einzig dadurch beruhigen, dass er in seinem Labor arbeitete und sich mit dem vergnügte, was Priscilla, die vierte und schlimmste Ehefrau seines verstorbenen Vaters, seine »Spielzeuge« nannte. Sie würde schon bald erfahren, wie sehr sie sich in ihm täuschte. So wie sein Vater es herausgefunden hatte und die Frau, die Priscilla vorausgegangen war, ebenfalls. Am Ende hatten sie es alle gesehen.
Aber Priscilla würde eine ganz besondere Lektion erteilt bekommen.
Vorsichtig löste Marcus den gallertartigen Positivabdruck von Dr. Driscolls Hand aus der Gussform. Sein wundersamer Einfall, ein leichenfahles Grün als Grundton für die Hand zu wählen, erheiterte ihn, soweit er in seinem derzeitigen mentalen Zustand zu Heiterkeit fähig war. Er justierte das Licht, um die Fingerabdrücke genauer in Augenschein nehmen zu können. Die Schleifen, Bögen und Windungen waren so gut nachgebildet, dass sogar das winzige Muster der Schweißdrüsen auf jeder Furche erkennbar war. Nicht perfekt, jedoch absolut ausreichend für die Parameter des Sensors.
Er drückte die Hand gegen den Krell-Systems-Biolock-Identipad-Sensor. In seiner Datenbank waren, dank Carusos teuflischer Genialität, dieselben Vorlagen gespeichert wie in der des Calix-Forschungslabors.
Negativ. Das Gerät piepte protestierend. Keine Übereinstimmung gefunden.
Es funktionierte exakt so, wie das Verkaufspersonal von Krell es versprochen hatte. Betrugssicher aufgrund einer komplexen, auf mehreren Systemen basierenden Reihe biometrischer Erkennungsmerkmale – eine Kombination aus EKG, Pulsoximetrie, Temperatur und der Messung des elektrischen Widerstands unter der Epidermis.
Das Biolock Identipad benötigte alle fünf Finger und feuchte, mehrschichtige Haut. Mit weniger gab es sich nicht zufrieden. Hut ab vor Krell. Es war eines der teuersten biometrischen Systeme auf dem Markt. Caruso hatte es selbst entwickelt. Marcus fühlte einen Anflug von Bedauern, dass er sich so schnell entschlossen hatte, den Mann liquidieren zu lassen. Craig war nützlich gewesen. Er war derjenige gewesen, der empfohlen hatte, mit jeder Gussform eine Gummihand herzustellen, um zu testen, welcher Abdruck der Beste war. Marcus hatte sich stets bis ins kleinste Detail an seine Anweisungen gehalten.
Doch dann hatte Craig begonnen, Machtspiele zu treiben. Er wollte »Verstecken« mit dem Abdruck von Priscillas Hand spielen und fabulierte von »gleichberechtigter Partnerschaft«.
Marcus besprühte das Innere der Negativgussform mit einem leichten Schmiermittel und trug eine dünne Schicht von Carusos Hexengebräu aus flüssiger Gelatine auf. Er ließ sie sich setzen, presste seine Hand in die Abdruckmasse und wartete, bis sie die Form angenommen hatte, bevor er die Hand vorsichtig herauslöste. Er wiederholte den Vorgang, wobei er sorgsam darauf achtete, das Abdruckmuster exakt zu treffen, um die Funktionen des Ultraschall- und Elektrofeldsensors überlisten zu können, die das Muster des Fingerabdrucks in der leitenden Hautschicht überprüften. Zum Glück waren seine und Driscolls Hände von ähnlicher Größe. Der Halbhandschuh aus Gelatine war praktisch unsichtbar.
Er spannte die Finger an und drückte sie auf das Identipad.
Zwei Sekunden, dann wurde der Monitor hell. Übereinstimmung gefunden. Dr. Keith Driscoll, Laborleiter, Calix Research Division. Ein Foto des pausbäckigen, breit lächelnden Wissenschaftlers erschien auf dem Computermonitor.
Marcus lächelte zurück. Driscoll hatte die höchste Sicherheitsfreigabe, übertroffen nur von Priscilla Worthington selbst. Das war all die Mühe wert, die er sich gemacht hatte. Er hatte den älteren Mann nach Monaten des Flirtens schließlich nach oben in seine Wohnung gelockt. Driscoll war ein verheirateter Vater von drei Kindern, jedoch war seine Vorliebe für junge Männer in gewissen Kreisen bestens bekannt. Marcus’ tief verwurzelter Pragmatismus verbot ihm, jemand anders für diesen Job anzuheuern. Wozu riskieren, dass irgendein schwachköpfiger Strichjunge die Sache vermasselte, wenn er, Marcus, sexuell attraktiv genug war, um sich selbst darum zu kümmern?
Wie es der Zufall wollte, musste er gar nicht bis zum Äußersten gehen. Nicht, dass das ein Problem gewesen wäre. Driscolls nicht mehr ganz taufrischer, untersetzter Körper stieß ihn nicht ab. Marcus’ Sexualität war atypisch. Macht törnte ihn an. Nebensächliche Details wie jung, schön, männlich, weiblich waren ihm egal. Driscoll hatte einen mit Rohypnol versetzten Martini getrunken und entgegenkommenderweise das Bewusstsein verloren. Marcus hatte ohne Hast mehrere Abdrücke von der Hand des Mannes genommen, ihn in sein Auto verfrachtet und nackt und ohnmächtig in seinem eigenen Vorgarten abgelegt.
Es hieß, Driscolls Frau habe die beiden jüngeren Kinder anschließend mit zurück nach Boston genommen und das älteste, das an der UCSF studierte, spräche nicht mehr mit ihm. Driscoll hatte Marcus seit jener Nacht nicht mehr in die Augen gesehen. Er sah blass aus. Dünner. Aus dem ehemals vergnügten, rosigen Moppel war ein gramvoller, fahler Trauerkloß geworden.
Marcus studierte Driscolls lächelndes Gesicht auf dem Bildschirm und genoss das warme Glimmen der Befriedigung, das ihm die Ausübung von Macht verschaffte.
Ein lautes Klopfen ertönte an der Tür. Marcus blieb kaum die Zeit, die Plastikhülle über sein Projekt zu stülpen, als sie aufgerissen wurde.
Priscilla marschierte herein. Sie war um Taille und Knöchel rundlicher als noch vor zehn Jahren, als sie Marcus’ Vater Titus Worthington, Inhaber und Vorstandsvorsitzender von Calix Pharmaceuticals, kennengelernt hatte. Priscilla war Forscherin in einem von Calix’ Versuchslabors gewesen. Sie hatte den alten Mann mit ihrer Schönheit, Intelligenz und energischen Persönlichkeit um den Finger gewickelt, aber ihr Gesicht war über die Jahre hart geworden. Mit ihrem zu einem Knoten aufgesteckten dunklen Haar und dem weißen Laborkittel sah sie aus wie eine Gestapoaufseherin.
Sie war in Begleitung ihres schwerfälligen Leibwächters Maurice. Sie hatte den Mann kurz nach Titus’ Tod engagiert und war in ein eigenes Haus gezogen. Priscilla ließ sich von niemandem zum Narren halten.
Mit unverhohlener Verachtung musterte sie seine verschiedenen Projekte. »Na, spielst du mal wieder im Sandkasten, Marcus?«
Marcus ballte die Fäuste, bis sich seine Fingernägel in den empfindlichen Driscoll-Handschuh gruben. »Ich feile nur an ein paar neuen Entwürfen herum.«
Sie schnaubte. »Du feilst seit Jahren an irgendetwas herum. Dabei bist du halbwegs intelligent. Du besitzt drei Doktortitel, also wäre es eigentlich an der Zeit, dass du aufhörst herumzufeilen und etwas Nützliches tust, findest du nicht?«
Wie deinen schmachvollen Untergang zu planen, vielleicht?
»Ich arbeite daran, einige von ihnen patentieren zu lassen«, sagte er vage. Sollte sie ihn ruhig für einen geistlosen Idioten halten. Es kümmerte ihn nicht mehr. Ihre Tage waren ohnehin gezählt.
»Was zum Kuckuck ist aus dem Hauspersonal geworden, Marcus?«, fuhr sie ihn an. »Es sieht hier allmählich aus wie in einem Schweinestall. »Titus hat dir und Faris in seinem Testament zwar ein lebenslanges Wohnrecht in Worthington House eingeräumt, aber vergesst nicht, dass euch das Haus nicht gehört. Und auch nie gehören wird.«
»Dessen bin ich mir sehr wohl bewusst«, antwortete Marcus.
Tatsächlich hatte er die Angestellten vor einigen Monaten entlassen, um sich auf das freudige Ereignis vorzubereiten. Und dies erforderte unbedingte Privatsphäre, ganz zu schweigen von der Präsenz mehrerer bewaffneter Profikiller. Nie hätte er sich träumen lassen, dass sich die Sache derart in die Länge ziehen würde. Er hatte den Staub und die Spinnweben ebenfalls satt. Noch eine Unannehmlichkeit, die auf Margaret Callahans Konto ging. Dieses Miststück!
»Sollte das Haus zu einer Ruine verkommen, werde ich rechtliche Schritte einleiten. So, und jetzt habe ich eine echte Aufgabe für dich, vorausgesetzt, du kannst dich von deinen Spielzeugen losreißen.«
Marcus’ Magen krampfte sich zusammen, doch sein Lächeln wurde breiter. Er hatte sich schon immer gut verstellen können. »Natürlich.«
»Dr. Driscoll wird seinen Posten als Laborleiter aufgeben. Er kehrt aus gesundheitlichen Gründen nach Boston zurück. Dr. Seymour Haight, der morgen aus Baltimore eintrifft, wird seine Stellung übernehmen. Er hat einen Zwischenstopp mit Übernachtung in Seattle, bevor er am darauffolgenden Tag nach San Francisco weiterfliegt.«
Marcus nickte. Priscilla machte es Spaß, ihn zu demütigen, indem sie ihm Aufträge erteilte, die sich mehr für einen untergeordneten Privatsekretär eigneten. Das war alles, was sie ihm zutraute. Das, und Faris an der kurzen Leine zu halten, natürlich.
»Ich möchte, dass du seinen Empfang organisierst«, fuhr Priscilla fort. »Sorge dafür, dass der Sicherheitsdienst des Labors seine Daten in das System einspeist. Höchste Sicherheitsfreigabe. Und lass Driscolls Daten unverzüglich löschen.«
»Selbstverständlich.« Er war froh, dass es ihm am Ende erspart geblieben war, mit Driscoll zu schlafen. Die Sache hätte jede Macht, jede Bedeutung verloren.
»Kümmere dich um eine Unterkunft und eine Limousine, die ihn vom Flughafen abholt.«
»Ich brauche seine Flug- und Kontaktdaten.«
Priscilla winkte ab. »Frag meine Mitarbeiter. Melissa oder Frederico müssten die Informationen haben. Sag ihnen auch gleich, dass sie für uns morgen Abend einen Tisch reservieren sollen. Das Dachrestaurant im Halsey Crowne wäre nett. Ach, noch etwas. Wo um alles in der Welt steckt Faris? Ich habe ihn schon seit Wochen nicht mehr herumlungern sehen.«
»Er ist beim Bergsteigen im North-Cascades-Nationalpark«, log er. »Er liebt es zu klettern. Es tut ihm gut. Hält ihn emotional im Gleichgewicht.«
»Klettern? Ohne Aufsicht?« Priscilla runzelte die Stirn. »Titus und ich haben Faris’ Entlassung aus Creighton Hills nur unter der Bedingung zugestimmt, dass du ihn ständig im Auge behältst!«
»Faris ist unter Kontrolle«, beschwichtigte Marcus sie. »Er nimmt regelmäßig seine Medikamente ein. Und ich telefoniere mehrmals täglich mit ihm auf dem Handy.«
»Das interessiert mich nicht! Hol ihn unverzüglich hierher zurück! Ich kann keine peinlichen Vorfälle brauchen, besonders nicht nach Driscolls kleinem Skandal! Die einzig sinnvolle Funktion, die du hast, ist, Faris zu überwachen. Solltest du selbst dieser Verantwortung nicht gewachsen sein …«
»Ich sorge dafür, dass er sofort nach Hause kommt«, versicherte Marcus.
»Tu das«, entgegnete sie schroff. »Ich fliege noch diese Woche nach Frankfurt, um dort einen Monat in unserem Labor zu verbringen. Darum werde ich über das Abendessen hinaus nicht die Zeit finden, Dr. Haight persönlich einzuweisen. Bitte tu, was du kannst.«
So wenig das auch ist, lautete die unmissverständliche Botschaft zwischen den Zeilen.
»Natürlich«, murmelte Marcus.
Sie rauschte aus der Tür. Maurices gedrungene Gestalt folgte ihr.
So viel zu Driscoll. Marcus zog den Handschuh aus und warf den zerrissenen transparenten Fetzen in den Mülleimer. Er nahm die leichenblasse Gummihand, griff nach einer Schere und schnitt sie in Stücke, wobei er sich vorstellte, es wäre Priscillas. Er hörte ihre Schreie mit jedem Schnipp durch seinen Kopf hallen. Schnipp für Schnipp für Schnipp.
Er war fast wieder bei null angelangt. Um Zugang zum Allerheiligsten zu bekommen, erforderte es die Kooperation von Priscilla Worthington und dem Laborleiter. Priscillas Abdruck blieb verschollen, und Seymour Haight war eine unbekannte Größe.
Aber Faris war in Seattle. Sie mussten improvisieren, und das schnell. Es blieb keine Zeit für die sorgfältige Planung, die er unternommen hatte, um an Driscolls Abdruck zu kommen. Außerdem verließ Priscilla die Stadt. Es hieß: jetzt oder nie.
Die augenscheinliche Lösung war, einen neuen Abdruck zu machen, aber Priscilla zu verführen stand nicht zur Debatte. Zum einen verabscheute sie ihn, zum anderen hatte selbst Marcus’ zielorientierte Einstellung zu Sex ihre Grenzen. Priscillas rabiater Sicherheitsdienst würde den armen Faris niemals in ihre Nähe lassen. Obwohl Priscilla sich gelegentlich ein wenig amouröses Vergnügen gönnte, war sie viel zu intelligent und auf ihre Sicherheit bedacht, als dass sie auf einen gekauften Gigolo reinfallen würde.
Craig Caruso war es gelungen, allerdings würde Marcus nie erfahren, woher er den Mut genommen hatte, mit dieser kaltschnäuzigen Hexe ins Bett zu gehen. Vielleicht hatten die zehn Millionen Dollar, die Marcus ihm versprochen hatte, seinen Schwanz lange genug hart gemacht, um den Job zu erledigen. Der Gedanke ließ ihn erschaudern.
Sein Käufer hatte nach acht langen Monaten des Wartens die Geduld verloren. Der Plan zerfiel vor seinen Augen zu Staub. Er hatte Jahre seines Lebens und Millionen seines Privatvermögens investiert in diese perfekte Kombination aus Profit und Rache. Und nun hing dank Margaret Callahan alles in der Schwebe.
Er musste Faris Feuer unterm Arsch machen. Er wollte, dass diese Sache ein Ende fand.
Seans Wagen stand mitten in der Einfahrt, ohne Platz für Davys Pick-up zu lassen. Das passierte nicht zum ersten Mal. Sein jüngster Bruder war sorglos und chaotisch. Außerdem sorgte er gern dafür, dass die anderen seine Gegenwart wahrnahmen. Normalerweise sah Davy mit einem philosophischen Seufzen darüber hinweg. Doch heute Abend war sein Nervenkostüm dünn genug, dass es ihn fuchsteufelswild machte.
Notgedrungen parkte er in der Straße vor seinem Haus, anschließend blieb er noch eine Weile sitzen und betrachtete durch die Bäume die Lichter von Mercer Island, die sich in dem dunklen Wasser des Lake Washington spiegelten. Er versuchte sich zusammenzureißen. Es war viel zu lange her, seit er zum letzten Mal Sex gehabt hatte.
Peinlich, es darauf zu reduzieren, doch was die Auswirkungen langer Enthaltsamkeit betraf, war er ein grimmiger Realist. Es war sechs Monate her – nicht, dass er mitzählte –, seit Beth das Handtuch geworfen hatte. Er hatte Beth sehr gemocht und ihre Qualitäten wirklich zu schätzen gewusst, trotzdem hatte er es nicht über sich gebracht, ihr einen Ring zu kaufen.
Von Anfang an hatte er versucht, ihr seinen Standpunkt klarzumachen, aber Beth wollte es einfach nicht kapieren. Das taten Frauen nie. Sie bestanden darauf, es persönlich zu nehmen und sich verletzt zu fühlen, und zwar ausnahmslos. Er wünschte, seinen sexuellen Notstand vergessen und sich auf andere Dinge konzentrieren zu können, aber sein Körper machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Sie beide hatten noch immer keinen Waffenstillstand geschlossen.
Andererseits plagte ihn auch keine pauschale Geilheit. Steffi, die frühere Aerobiclehrerin im Women’s Wellness war eine honigblonde Sahneschnitte gewesen, mit einem Körper, der dem Poster eines Männermagazins entsprungen zu sein schien, trotzdem hatte er sich nie vor Lust nach ihr verzehrt. Er hatte gelegentlich daran gedacht, mit Steffi zu schlafen – ihre Bereitschaft war mehr als offensichtlich –, nur war sie so verdammt quirlig gewesen. Zudem hatte ihn ihre nasale Stimme genervt.
Steffi war vor einer Weile an die Küste gegangen, um für eine Saison in der Erlebnisgastronomie zu arbeiten. Es hatte Wochen gedauert, bevor ihm aufgefallen war, dass sie weg war.
Wohingegen er Margot, ihre Nachfolgerin, sofort bemerkt hatte. Margots Stimme fiel ihm nicht auf die Nerven. Sie war voll, samtig und rauchig, wie guter Scotch. Margot bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines weiblichen Panthers. Ohne quirliges Rumhüpfen.
Er sprang aus seinem Pick-up und marschierte zum Haus. Die offene Tür schwang im Wind hin und her. Jedes Licht auf Seans Route zum Kühlschrank brannte. Das Stimmengemurmel auf der hinteren Veranda wies darauf hin, dass Miles, ihr Schützling, Schüler und zukünftiger Mitarbeiter, ebenfalls anwesend war und mithalf, Davys Biervorräte zu vernichten.
Er stieß die Terrassentür auf. »Wenn du das nächste Mal so grottenschlecht in meiner Einfahrt parkst, schlitze ich dir die Reifen auf.«
Sean erstarrte inmitten der Bewegung, seine Bierflasche zum Mund zu führen. »Mensch, Davy, das wäre echt kontraproduktiv, weil ich dann nämlich wesentlich länger bräuchte, meinen Wagen gemäß deinen strengen Vorschriften zu parken.«
»Die Verzögerung nehme ich gern in Kauf, wenn es mir damit gelingt, einen bleibenden Eindruck in deinem Dickschädel zu hinterlassen, Klugscheißer.«
Miles setzte sein Bier ab und stand verlegen auf. »Äh … soll ich lieber gehen? Ich kann den Bus nehmen, falls gerade ein schlechter Zeitpunkt ist …«
»Setz dich, Miles«, befahl Sean. »Alles im grünen Bereich.«
Miles sank zurück auf den Stuhl und nahm seine typische gebückte Geierhaltung an, die sie ihm beide abzugewöhnen versuchten.
Sean musterte seinen Bruder mit gerunzelter Stirn. »Du hast diesen frustrierten, hohläugigen Blick eines Mannes, der seit Monaten nicht mehr flachgelegt wurde. Hol dir um Himmels willen ein Bier und entspann dich. Wir haben was vom Chinesen geholt.«
»Danke, ich habe schon gegessen.«
»Wo denn?«, wollte Sean wissen. »Du bist seit Ewigkeiten nicht mehr ausgegangen.«
Davy ließ die Terrassentür geräuschvoll hinter sich ins Schloss fallen und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Normalerweise suchte er nicht Zuflucht in bewusstseinsverändernden Drogen. Scheiß drauf! Er stellte das Bier zurück, schnappte sich ein Glas und die Notfallflasche Single Malt.
Sean wartete noch immer auf eine Antwort, als Davy es sich in einem seiner Liegestühle bequem machte. Seine Augenbrauen zuckten nach oben, als er den Whiskey in Davys Hand sah. »Unser Vernunftmensch führt sich echten Alkohol zu Gemüte? Wie verwerflich. Also? Wo hast du gegessen? Mit wem? Raus mit der Sprache!«
Davy atmete tief ein, um sich zu wappnen. »Mit Margot Vetter.«
Seans Grübchen zuckten, während er versuchte, nicht zu grinsen. »Hey, super! Ich schätze, wir sollten von nun an anrufen, bevor wir bei dir reinschneien. Das wurde echt Zeit, Alter. Ich hab mir schon Sorgen gemacht …«
»Warum hast du mir nichts von dem Stalker erzählt?«
Sean blinzelte. »Deinem Ton nach konntest du noch nicht bei ihr landen. Aber es kann auch nicht jeder so ein Meister der Verführung sein wie ich.«
»Lenk nicht vom Thema ab«, knurrte Davy. »Beantworte einfach die gottverdammte Frage.«
»Ich wollte dir nicht die Gelegenheit geben, dir deswegen das Hirn zu verrenken«, gab Sean unumwunden zu. »Außerdem hielt ich es für weitaus effektiver, wenn sie dich persönlich fragen würde. Mit vertrauensseligem Blick und klimpernden langen Wimpern. Volle, bebende Lippen? Wogende Brüste? Und so war es, oder?« Er studierte seinen Bruder und wiederholte in schärferem Ton: »War es so?«
Davy erwiderte Seans Blick über den Rand seines Glases hinweg. »Wie gut kennst du sie eigentlich?«
Seans schräge grüne Augen waren ungewöhnlich kühl. Er wartete sehr lange, bevor er antwortete: »Du meinst, ob ich sie angebaggert habe?«
Davy hielt die Luft an. Die Sekunden tickten vorüber. Miles wirkte besorgt.
Sean streckte die langen Beine aus und legte die Stiefel auf die Verandabrüstung. »Natürlich habe ich es versucht. Jeder normale Mann würde es versuchen. Mit Ausnahme von dir natürlich, aber wie wir alle wissen, bist du, na ja, speziell. Sie stand einfach nicht auf mich. Es ist wie damals an der Highschool, als ich in meine Französischlehrerin verschossen war. Sie tätschelte mir den Kopf, während ich sabbernd nach ihr lechzte.« Sein Achselzucken wirkte betont beiläufig. »Ich glaube, dass du derjenige bist, auf den sie steht.«
Das Beben von Davys Brust deutete vage ein Lachen an. »Blödsinn. Das tut sie nicht.«
»Doch, wirklich. Ich habe gesehen, wie sie dich beobachtet hat. Gott allein weiß, warum eine Frau deinen Charme meinem vorziehen sollte, aber Frauen sind nun mal unergründlich.«
»Hör auf, mir die Eier zu kraulen«, brummte Davy. »Was hat sie dir erzählt?«
Sean ließ jenes schwere Seufzen hören, das er immer einsetzte, wenn Davy sich weigerte mitzuspielen. »Ich bin ihr neulich auf dem Parkplatz begegnet. Sie hatte ihre Schlüssel im Wagen eingeschlossen. Sie weinte.«
Diese Vorstellung brachte Davy aus der Fassung. »Sie hat geweint? Wegen ihrer Autoschlüssel?«
»Ich fand es auch seltsam. Sie wirkt eher wie jemand, der gegen die Reifen treten und das Auto anbrüllen würde. Jedenfalls bin ich ihr mit meinem Dietrich zu Hilfe geeilt, aber als ich das Auto dann endlich aufhatte, schenkte sie mir einfach nur diesen ausdruckslosen Blick und reagierte kein bisschen auf meinen umwerfenden Charme. Ich fragte sie, was los sei, woraufhin sie antwortete: ›Ach, nichts.‹ Du weißt schon, wie Frauen das eben tun, bevor sie sich in eine dunkle Ecke verkriechen und sich mit einer Familienpackung Eiscreme trösten.«
»Um ehrlich zu sein, Sean, ich glaube, ich habe noch nie eine Frau dazu animiert, eine Familienpackung Eiscreme zu verdrücken«, sagte Davy mit stählerner Geduld.
Sean verdrehte die Augen. »Was weißt du schon? Dir fällt so was einfach nicht auf. Jedenfalls habe ich es aus ihr herausgekitzelt. Den Einbruch, den toten Hund. Die Sache klang unheimlich, deshalb riet ich ihr, mit dir zu sprechen. Ich weiß ja, dass du die Detektivarbeit an den Nagel hängst, aber sie hat Angst. Pleite ist sie außerdem, aber du bist nicht knapp bei Kasse, und es wird dich davor bewahren, vor Langeweile durch die Straßen zu streifen und Radkappen zu klauen, bis wir unser neues Geschäft angekurbelt haben. Du könntest dein Honorar irgendwann später in Raten fordern, oder, besser noch, du machst es pro bono. Das wäre edel und gut von dir. Frauen mögen so etwas.«
Davy musterte seinen Bruder mit zusammengekniffenen Augen. »Versuchst du, mich zu verkuppeln? Tu das bloß nicht.«
Sean reagierte unwirsch. »Du egomanischer Mistkerl. Du denkst, alles drehe sich nur um dich. Ich habe nur versucht, Margot weitere Tränen zu ersparen. Sie hat Angst, dass dieses kranke Arschloch ihrem kleinen Hund etwas antun wird.«
»Schon gut«, sagte Davy säuerlich. »Das ist echt herzzerreißend.«
»Ja, exakt das ist es.« Sean starrte ihn finster an, während er einen weiteren Schluck von seinem Bier trank. »Und was, wenn ich versucht hätte, dich zu verkuppeln? Wäre das ein Verbrechen? Du zeigst schon kein Lebenszeichen mehr, seit die Eisprinzessin dich abserviert hat. Diese Tussi mit dem blonden Knoten, die nie ihre Haare aufgemacht hat, wie hieß sie noch?«
Davy verzog das Gesicht. »Beth. Sie wollte einen Ring.«
Sean tat, als würde er sich den Schweiß von der Stirn wischen. »Gott sei Dank hast du gekniffen! Ich hatte bei der Frau immer das Gefühl, von einem Fettnäpfchen ins nächste zu treten. Ach, da wir gerade von Freundinnen reden – ich habe mit Connor gesprochen. Er meinte, es sei in deinem eigenen Interesse, eine weibliche Begleitung zur Hochzeit mitzubringen, weil Erin nämlich eine ganze Horde mannstoller Brautjungfern hat und ihre Mutter sich gern als Ehestifterin betätigt. Falls du allein auftauchst, werden sie auf dich losgelassen. Ein Tornado edelsteinfarbener Taftkleider. Nimm dich in Acht. Wenn sie dich in einem Smoking sehen, Alter, bist du erledigt.«
Davy stöhnte frustriert. Er hatte es bewusst vermieden, an die bevorstehende Hochzeit seines Bruders Connor zu denken, aber jetzt holte ihn die Realität mit der Wucht eines Vorschlaghammers ein. »Scheiße! Bringst du jemanden mit?«
Seans Grinsen war vergnügt und hinterhältig zugleich. »Zum Teufel, nein! Hetzt sie nur auf mich – sechs, acht, zehn auf einmal. Das entspricht meiner Vorstellung vom Paradies. Verschollen auf dem Planeten geiler Brautjungfern. Mmmm.«
»Cindy wird auch Brautjungfer sein«, meldete sich Miles zu Wort. »Sie wird Rot tragen. Rot steht ihr fantastisch. Deshalb penne ich heute Nacht bei Sean, weil Cindy morgen um acht eine letzte Anprobe bei der Schneiderin hat. Ich fahre sie hin.«
Davy und Sean wechselten einen gequälten Blick. Miles’ hoffnungslose Hingabe an Cindy, die jüngere Schwester ihrer zukünftigen Schwägerin, machte sie beide nervös, doch sie konnten nichts anderes tun, als die Muskeln, Reflexe und Selbstachtung des Jungen aufzubauen und zu Gott zu beten, dass sein Verstand über kurz oder lang aufschließen würde.
Davy nippte an seinem Whiskey und genoss das Brennen in seiner Kehle. »Brautjungfern bedeuten Ärger«, sinnierte er. »Beth war Brautjungfer bei der Hochzeit ihrer Cousine. Direkt danach begann sie, mich wegen unserer Beziehung unter Druck zu setzen. Die Frauen kippen sich ein Glas Champagner nach dem anderen hinter die Binde, dann fangen sie an, über das große H nachzudenken, und ehe man sichs versieht, findet man sich im Tal der Tränen wieder.«
»Du solltest allmählich selbst über das große H nachdenken«, meinte Sean. »Du hast eine Pflicht gegenüber der Familien-DNA. Und du wirst nicht jünger.«
Davy schloss die Augen. »Connor übernimmt das. Vermutlich sind die beiden schon dabei, sich fortzupflanzen, so wie sie zur Sache gehen.«
Die nachfolgende Stille wies darauf hin, dass Sean Davys unausgesprochene Zwiespältigkeit im Hinblick auf die Heirat ihres Bruders teilte. Nicht, dass sie sich nicht für Connor gefreut hätten. Er liebte seine zukünftige Braut so stürmisch, dass er praktisch nicht mehr fähig war, in ganzen Sätzen zu sprechen.
Was wunderbar war. Großartig. Extreme, hemmungslose Glücksgefühle waren exakt das, was sie sich für ihren Bruder wünschten. Trotzdem weckte der Gedanke an die Hochzeit ein dumpfes Gefühl von Verlust in ihm. Connor trat in eine neue Lebensphase ein und ließ seine Brüder hinter sich zurück. Wann immer Davy daran dachte, fühlte er sich irgendwie ruhelos und leer, darum gab er sich größte Mühe, den Gedanken zu verdrängen.
Dumm, ja, und selbstsüchtig. Sie mochten Erin sehr. Sie war perfekt für Connor. Klug, mutig, hübsch, liebenswert. Sie hatte ihre Qualitäten in dem Wahnsinn, der einige Monate zuvor mit Novak abgegangen war, unter Beweis gestellt. Sie hatte sich ihre Mitgliedschaft im McCloud-Klan tausendfach verdient.
Nein, Erin war nicht das Problem. Es würde einfach nur … anders werden.
Sean stieß einen heftigen Seufzer aus, als würde auch er unwillkommene Gedanken beiseiteschieben. »Ich hatte gerade eine geniale Idee. Bring Margot mit. Sie wird wie ein Schutzschild für dich sein. Außerdem wird sie gehörig Glanz in die Sache bringen.«
»Vergiss es«, knurrte er. »Das ist aussichtslos.«
»Wieso denn?«, fragte Sean.
Davy knirschte mit den Zähnen. »Lass einfach gut sein, okay?«
Seans Augen wurden schmal. »Oh, verdammt! Sag es nicht, lass mich raten. Du hast es verpatzt, stimmt’s? Ich habe dir eine einmalige Gelegenheit verschafft, und du Trottel hast es vermasselt. Kein Wunder, dass du nie Sex hast.«
Davy betrachtete die Lichter, die auf der gekräuselten dunklen Wasseroberfläche des Sees schimmerten, ohne den Fehdehandschuh aufzunehmen. Er hatte nichts zu erwidern. Er hatte seinen Bruder nicht in die Resultate von Margots Hintergrundcheck eingeweiht. Ihre mysteriösen Geheimnisse gingen Sean nichts an.
Andererseits gingen sie ihn ebenso wenig an. Er vertrieb diesen müßigen Gedanken. »Hast du heute Abend keine Pläne?«, fragte er. »Mit dem einen oder anderen Mädchen?«
»Miles und ich leihen uns vielleicht einen Actionfilm in der Videothek aus«, antwortete Sean. »Ich gönne mir eine kurze, erholsame Verschnaufpause von meinen sexuellen Aktivitäten und bleibe keusch bis zur Hochzeit.«
»Es sind nur noch zwei Tage«, lautete Davys mürrischer Kommentar.
»Eine verflixte Ewigkeit. Ich spare meine Energie für die Brautjungfern auf. Heizt mir ein, Ladys! Macht mich fertig!«
»Ich weiß nicht, ob das mit dem Video eine gute Idee ist«, murmelte Miles skeptisch. »Ich muss morgen echt früh aufstehen. Ich soll …«
»Als Cindy Riggs persönlicher Sklave dienen, als ihr Laufbursche, Privatlehrer und Chauffeur«, ergänzte Davy.
Miles kippte nach hinten in seinen Stuhl, die Augen fassungslos geweitet. »Keineswegs! Wir sind nur gute Freunde. Sie hatte keine Fahrgelegenheit zu ihrer Anprobe, deshalb bot ich ihr an …«
»Ich habe gesehen, was für eine gute Freundin sie ist.« Davy imitierte Cindys atemlose helle Stimme. »›Miles, gefällt dir mein neuer Push-up-BH? Miles, würdest du mir mit meinem Reißverschluss helfen? Miles, könntest du meine Mathehausaufgabe übernehmen? Miles, mit wem soll ich ausgehen: Rob, Rick oder Randy?‹«
Miles’ Mund wurde zu einem harten, zornigen Strich. »So ist das nicht.«
Es herrschte Schweigen, bis Sean sich räusperte. »Tja … Miles und ich sollten besser aufbrechen. Du klingst, als bräuchtest du ernsthaft eine Auszeit. Wir nehmen das chinesische Essen mit, wenn du es nicht willst.«
»Ja.« Miles sprang auf. »Lass uns abhauen. Und zwar jetzt gleich.«
Davy hob sein Glas in einer stummen Geste der Entschuldigung, als Sean und Miles aufbrachen. Die nachhallende Stille wurde nur vom rhythmischen Klatschen der Wellen auf dem Kiesstrand unter der Veranda durchbrochen. Normalerweise war das Geräusch friedlich und meditativ. Heute hingegen empfand er es als kalt und deprimierend. Ermüdend.
Er schämte sich. Er hatte kein Recht, den armen, schwachen Miles zu kritisieren. Er hatte sich selbst schon mehr als einmal für eine Frau zum Affen gemacht. Und hätte es heute Abend wieder getan, um genau zu sein. Die ganze Nacht lang, wenn Margot ihn gelassen hätte.
Der Abend verging unerträglich langsam. Davy wanderte von Zimmer zu Zimmer und blätterte geistesabwesend in Büchern und Zeitschriften. Er surfte im Internet, zappte durch die Fernsehkanäle, doch nichts erregte sein Interesse. Alles kam ihm stumpfsinnig vor. Die Stille lastete so schwer, dass sie sein Gehirn vernebelte, aber egal welche Musik er auflegte, sie nervte ihn nur.
Der Abend ging in eine endlos lange Nacht über. Schließlich zog er sich ins Schlafzimmer zurück und streifte seine Jeans ab, um seinem penetranten Ständer ein bisschen Freiraum zu verschaffen. Er streckte sich auf dem Bett aus, doch anstatt einzuschlafen, driftete er in eine Serie erotischer Wachträume von Margot. Anstößiger Kram, durchdrungen von Zorn und Machtspielen. Gegen Fesseln ankämpfend, schaute er in ihre strahlend hellen Augen, während sie ihn verspottete und ihm demonstrierte, wie hilflos er war.
Sehr bizarr. Er fragte sich, was es damit auf sich hatte. Fesselspiele waren ihm in Verbindung mit erotischen Vergnügungen nie zuvor in den Sinn gekommen. Das war etwas für gelangweilte Menschen, die es nötig hatten, ihren abgestumpften Empfindungen neues Leben einzuhauchen. Und er tat bei Gott alles, um sich niemals hilflos fühlen zu müssen.
Seine Empfindungen waren nicht abgestumpft. Die Vorstellung, sich unter ihrem schönen Körper zu winden, war so lebendig, dass es wehtat. Er bedeckte mit einer Hand sein Gesicht und umfasste mit einem frustrierten Knurren seinen steinharten Schwanz. Heute Nacht half kein gutes Zureden, solange die Erinnerung an ihre schmalen, starken Schultern noch so frisch in seinem Kopf war. Die feine Textur der Haut an ihrem Hals. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie überlegte, ihn in ihr Bett zu lassen.
Sein Herz hatte so heftig gepocht, dass es ihm die Brust zu sprengen drohte.
Hätte sie ihn geküsst, hätte er seine Bedenken trotz der vielen Fragezeichen sausen lassen und sie gevögelt. Alles an ihr machte ihn an, sogar ihre unbeholfenen Lügen. Sie kamen ihr nicht leicht über die Lippen. Die Frau könnte selbst dann nicht überzeugend lügen, wenn ihr Leben davon abhinge.
Die Art, wie sein Kopf diesen flüchtigen Gedanken hervorgebracht hatte, sandte ihm einen Schauer des Unbehagens über den Rücken. Er fegte ihn beiseite.
Jahrelange Erfahrung in der Befragung von Zeugen hatten aus ihm einen Experten in Sachen Körpersprache gemacht. Margot war empfindlich und defensiv, weil sie verängstigt war, nicht schuldig. Sie war nicht gut im Bluffen. Nein, ihre Gefühle standen ihr so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass sie zusammenbrechen würde, sollte sie sich je auf dieses Terrain begeben. Sie war stolz, zäh, prinzipientreu. Impulsiv. Zu Tode verängstigt, allerdings fürchtete sie sich mehr vor der Polizei als vor ihrem blutrünstigen Stalker.
Etwas noch Größeres, Hässlicheres lauerte in ihrer Vergangenheit. Es würde eine Herausforderung sein, ihre Dornenhecke zu durchdringen. Herausforderungen reizten ihn, auch wenn er nach dem Debakel mit Fleur Herausforderungen in seinem Liebesleben unter allen Umständen vermeiden wollte. Er versuchte, die Dinge einfach zu halten. Unkompliziert.
Mit Betonung auf »versuchte«, in Anbetracht dessen, wie Frauen nun mal tickten.
Die Neugier fraß an ihm wie Säure. Es war weder sein Problem noch seine Verantwortung, trotzdem wollte er sich das Arschloch krallen, das sie terrorisierte. Je mehr er darüber nachdachte, desto wütender wurde er. Er wollte die Eier dieses sadistischen Wichsers an die Wand nageln. Rastlos und kribbelig wälzte er sich aus dem Bett und stapfte ins Bad. Er stellte die Dusche an, dann musterte er sich im beschlagenen Spiegel. Er bildete sich nichts auf seinen Körper ein. Das wäre ihm nie eingefallen. Sein Körper war ein Werkzeug, ein Kraftwerk, das gut gewartet werden musste. Es war nützlich, über starke Muskeln und schnelle Reflexe zu verfügen. Außerdem waren ihm Frauen eher zugeneigt, wenn er einen Annäherungsversuch startete, und auch das war von Vorteil. Bis zu einem gewissen Grad.
Er betrachtete sich und überlegte, was Margot in ihm sah. Er wollte, dass sie ihn wollte. Sein Puls beschleunigte sich, und sein Schwanz richtete sich ein Stück höher auf.
Davy streichelte ihn probeweise. Er stand nicht besonders auf die stumpfe Befriedigung, sich einen runterzuholen. Es war verschwendete Energie, außerdem verabscheute er das leere, niedergeschlagene Gefühl, das ihn anschließend überkam. Aber nach sechs Monaten, verdammt noch mal?
Niemand war perfekt. Niemand beobachtete ihn.
Er stellte sich unter die Dusche, seifte seine Hand ein und schloss sie um seine Erektion. Im Geist drückte er die Rücklauftaste und beförderte sich zurück zu dem Moment, als Margot ihre schlanke, kühle Hand auf seine Brust gelegt hatte, ihre vielfarbigen Augen vor Faszination geweitet. Mitternachtsblau, das in leuchtendes Aquamarin überging, und ein goldbrauner Ring um die Pupille, so als habe wer auch immer sie zusammengesetzt hatte, sich nicht entscheiden können und einfach weiter herumprobiert. Ihr süßer roter Schmollmund leicht geöffnet, die Wangen gerötet. Harte Brustwarzen, die sich unter dem dünnen Stoff ihres abgetragenen T-Shirts abzeichneten.
Wäre es nach ihm gegangen, hätte sie mit einem sinnlichen Lächeln auf den Lippen ihr T-Shirt ausgezogen und sich seinem Blick offenbart. In ihren Augen dieser funkelnde »Was wirst du jetzt tun?«-Ausdruck, der ihm den Verstand raubte.
Kein Zögern mehr. Mit einer ausholenden Armbewegung räumte er die Reste des Abendessens aus dem Weg, bevor er sie auf den Tisch hob und flach auf den Rücken drückte, um ihr die Jogginghose auszuziehen, wobei seine Hand an jedem warmen Detail ihres aufreizenden Beckens und Hinterns verweilte. Sie öffnete seinen Gürtel in wilder Hast.
Das Echo ihrer Worte klang durch seinen Kopf. »… habe weder die Zeit noch die Energie für einen festen Freund … komme mit unverbindlichem Sex nicht klar … Was bedeutet das also für uns?«
Gute Frage. Parallel und unabhängig von der sexuellen Fantasie, die ungehindert ihren Lauf nahm, reifte in ihm eine gefährliche Idee heran.
Vielleicht könnten sie den perfekten Deal aushandeln.
Er wollte ebenso wenig eine Freundin, wie sie einen Freund suchte. Er hatte den Frust der Frauen satt, und auch sein schuldbewusstes Unbehagen. Genau wie Margot hasste er One-Night-Stands. Sie waren meist armselig und unbefriedigend, bargen immer ein Gesundheitsrisiko, und er verabscheute es, neben jemandem aufzuwachen, mit dem ihn nicht mehr verband als der Austausch von Körperflüssigkeiten. Sich wie ein Dieb davonzuschleichen, bevor die Frau aufwachte, war schlimm, aber der Kaffee, die unbeholfene Konversation, die hoffnungsvollen Blicke waren schlimmer.
Er wollte keinen unverbindlichen Sex. Er wollte eine sorgfältig durchdachte, klar verabredete, präzise ausgehandelte Vereinbarung. Ein zivilisiertes, vernünftiges Arrangement zweier Erwachsener in beidseitigem Einvernehmen. Sie waren beide alleinstehend. Margot fühlte sich zu ihm hingezogen. Sie brauchte Hilfe und Schutz. Er konnte damit dienen. Sie wollte ihre Geheimnisse bewahren, er musste sich seinen persönlichen Freiraum erhalten. Er würde Klartext mit ihr reden. Ehrlich und respektvoll.
Die Idee erregte ihn mehr als zuvor die Sexfantasie. Das Wasser war kalt geworden, deshalb drehte er es aus. Er rieb sich noch die Tropfen aus den Augen, als er sein Handy klingeln hörte. Vor lauter Hast hätte er um ein Haar die Glasschiebetür zertrümmert, als er ins Schlafzimmer stürmte und ranging. »Ja?«
Stille – von jener hohlen Art, die implizierte, dass jemand am anderen Ende der Leitung war.
»Hallo?«, sagte er, nun drängender. »Wer ist da?«
Klick. Wer immer es war, hatte aufgelegt.
Ihre Telefonnummer war ihm selbst dann noch im Gedächtnis geblieben, nachdem er zu der Überzeugung gelangt war, dass er sie wahrscheinlich niemals benutzen würde. Hastig wählte er sie. Es klingelte einmal, zweimal. Mit einem Klicken wurde abgehoben. »Margot? Ist alles in Ordnung?«
Wieder trat eine kurze Stille ein. »Nein«, wisperte sie.
Ein flaues, kribbelndes Gefühl machte sich in ihm breit. »Was ist passiert?«
»Entschuldige, dass ich eben aufgelegt habe.« Ihre Stimme war dumpf, nicht annähernd so forsch wie sonst. »Ich habe die Nerven verloren.«
»Mach dir darum keine Gedanken. Was ist los?« Er wartete mehrere quälende Sekunden, bevor er hinzusetzte: »Hat Snakey dir ein weiteres Geschenk geschickt?«
»Ich fürchte schon. Aber ich traue mich nicht rauszugehen und genauer nachzusehen.«
»Scheiße!« Wie auf Sprungfedern schoss er vom Bett hoch und hob die Jeans vom Boden auf. Er zerrte sie über seinen nassen Hintern, ohne sich mit Unterwäsche aufzuhalten. »Was hat er dir dieses Mal dagelassen?«
»Ich … ich hätte dich nicht damit behelligen sollen. Ich weiß nicht, warum ich … ich fürchte, ich bin einfach in Panik geraten.«
Sie wollte kneifen. Sämtliche Instinkte schrien ihm zu, zu ihr zu fahren und sie an Ort und Stelle festzunageln. »Ich bin gleich da.« Er rammte seine nassen Füße in die Stiefel. »Höchstens fünfzehn Minuten.«
Er legte auf, um eine weitere Diskussion zu verhindern, und zog sein Hemd über. Sein Blick streifte die Neun-Millimeter-Glock im Waffenschrank.
Er entschied sich dagegen. Er bevorzugte seine bloßen Hände, in Kombination mit dem Messer in seinem Stiefel für den Notfall. Er stürmte aus der Tür und über den taunassen Rasen, anschließend umklammerte er das Lenkrad mit aller Kraft, um seine Hände ruhig zu halten.
Er war ein Idiot, dass er sich hier in weiß Gott was für einen Schlamassel verstrickte, aber er würde seinen Hintern darauf verwetten, dass das alles nicht Margots Schuld war, welche Geheimnisse auch immer sie verbarg. Und das änderte alles.
Er kannte den Unterschied zwischen Realität und Fantasie. Er hatte mit zehn Jahren genügend Realität runtergewürgt, um genau zu wissen, wie sie schmeckte – und dennoch. All seine Meditation und Distanziertheit waren für die Katz, wenn dieser rote Knopf aktiviert wurde. Wusch, sprang er auf und stürzte mit wehendem Cape davon, um die holde Maid vor dem Riesenkraken zu beschützen, in dem unablässigen Versuch, das traurige Ende der Geschichte umzuschreiben.
Nicht, dass er ein verdammter Superheld wäre. In Wahrheit war er ein berechnender Mistkerl, der die Situation unverfroren zu seinem Vorteil ausnutzte. Andererseits stand es ihr jederzeit frei, ihm zu sagen, dass er sich verpissen solle. Margot Vetter brauchte also Hilfe bei ihrem mysteriösen Problem? Schön. Dann würde sie sich vielleicht überreden lassen, ihm bei seinem zu helfen.