18
Die Dessertgabel, auf der sich ein Stück feuchte, klebrige, mit Himbeeren und Crème Chantilly verzierte Hochzeitstorte türmte, bewegte sich langsam auf Margots Mund zu. Auf der anderen Tischseite verfolgte Davy jede Sekunde dieses erotischen Schauspiels. Er fragte sich, ob er jemals den Mut finden würde, wieder aufzustehen. Sein unermüdlicher Ständer machte ihm langsam Sorgen.
Er hätte sich von Margot zum Höhepunkt bringen lassen sollen, bevor sie den Konferenzraum verließen. Sie wäre ihm bereitwillig zu Diensten gewesen – geschickt, eifrig und auf jede erdenkliche Art. Aber er war zu versessen darauf gewesen, sich jeden einzelnen Tropfen für die Privatsphäre ihres Zimmers aufzusparen. Er wollte, dass es Stunden andauerte.
Sie leckte gerade Crème Chantilly von ihren Fingern und öffnete damit eine weitere Büchse der Pandora voll erotischer Fantasien. Er rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl umher.
»… denkst du, Davy?«
Er fokussierte seine Aufmerksamkeit zurück auf Seth, der ihn mit einem durchtriebenen Funkeln in seinen schwarzen Augen ansah. »Hm? Denken worüber?«
»Du hast nicht ein Wort von dem, was ich sagte, mitbekommen, stimmt’s?«
Davy grunzte etwas Unverständliches und schob sich ein Stück Melone in den Mund. Seth folgte seinem Blick. Margot tunkte eine Himbeere in die Sahne, während Raine ihr etwas ins Ohr flüsterte. Lachend steckte sie die Beere in ihren Mund, bevor sie sich erneut die cremeüberzogenen Finger ableckte.
Seth grinste ihn an. »Du bist fällig, Mann. Möchtest du einen Rat? Gib lieber nach. Denn je mehr du dagegen ankämpfst, desto blöder stehst du am Ende da.«
»Danke, ich brauche keine Ratschläge in Liebesfragen. Was wolltest du gerade wissen?«
»Das hat Zeit«, wiegelte Seth ab. »Es hat keinen Sinn, mit dir über Geschäftliches zu reden, solange du nicht noch ein paarmal flachgelegt wurdest …«
»Pass auf, was du sagst!«
Seth hob die Hände in einer unschuldigen Geste. »Ich bin so respektvoll wie ein jungfräulicher Chorknabe. Ich denke nur an deine Gesundheit, mehr nicht.«
Davy schüttelte den Kopf und betrachtete das Stück Hochzeitstorte auf seinem Teller. Connor und Erin waren sicher auf dem Weg zum Flughafen, um ihren Nachtflug nach Paris zu erreichen. Es war nur noch eine Frage von Minuten, bis er Margot am Arm packen und sie in seine Höhle verschleppen konnte. Falls er es wagte aufzustehen. Seine Erektion war das Einzige, was ihn daran hinderte.
»Hey, Davy!« Miles kam schlitternd neben dem Tisch zum Stehen. »Kennst du so einen Schleimscheißer namens Cliff, der behauptet, mit Connor befreundet zu sein?«
Die Nervosität in Miles’ Stimme versetzte Davys Instinkte in höchste Alarmbereitschaft. »Nein, ich kenne niemanden namens Cliff.« Er sah Seth an. »Du etwa?«
Seth schüttelte den Kopf und stellte sein Glas ab.
»Würde Connor jemanden gut genug kennen, um ihn zu seiner Hochzeit einzuladen, wäre uns der Name vertraut«, murmelte Davy. »Wo ist der Mann?«
»Es ist dieser Saftsack, der gerade mit Cindy tanzt«, antwortete Miles. »Sieht aus wie irgend so ein Anwaltsfatzke. Er ist da hinten bei den … hmm? Sie sind verschwunden. Sie haben direkt neben den Topfpflanzen dort drüben getanzt!«
Davys Blick folgte Miles’ ausgestrecktem Arm, der in Richtung der norwegischen Kiefern zeigte, die die Tür verbargen, durch die er Margot wenige Stunden zuvor gezogen hatte.
Er war auf den Füßen und rannte los, noch bevor er überhaupt realisierte, dass er aufgestanden war. Das Bild von Bart Wilkes, zusammengekrümmt auf dem blutverschmierten Linoleum, zog vor seinem geistigen Auge vorbei. Er riss die Türen in dem Gang auf. Seth und Miles holten ihn ein, als er gerade dabei war, die letzte zu öffnen.
Es war die Bibliothek. In dem Licht, das vom Flur hereinfiel, erkannten sie Cindy, die mit ausgestreckten Armen auf dem Teppich lag. Die Glastüren, die zum Rosengarten führten, standen weit offen und ließen eine nächtliche Brise herein. Die zerknüllten Stoffbahnen von Cindys rubinrotem Kleid schimmerten wie eine Blutlache.
Miles lief zu ihr und kauerte sich neben sie. »Cin? Geht es dir gut«?
Cindy regte sich und rappelte sich auf die Ellbogen hoch. »Ja, ich schätze schon.« Ihre Stimme klang schrill. »Ich … er hat mich plötzlich geküsst, dann hörten wir laute Geräusche im Flur, und da … er hat mich einfach zu Boden gestoßen und ist aus der Tür gerannt.«
Seth stürmte hinaus in den Garten. Davy juckte es, ihm zu folgen, doch stattdessen kniete er sich neben das Mädchen. »Hat er dich geschlagen, Cin?«
Sie blinzelte mit ihren großen braunen Augen, die sich allmählich mit Tränen füllten. »Nein«, hauchte sie. »Er ist einfach … er ist … oh Gott. Oh mein Gott!«
Und damit war das Thema erledigt. Aus Cindy eine zusammenhängende Geschichte herauszubekommen, wäre selbst in ihrem quirligen Normalzustand eine Herausforderung gewesen, aber hysterisch und beschwipst vom Champagner? Schließlich begann sie zu schluchzen, was Davy als sein Stichwort nahm, sie in Miles’ Obhut zurückzulassen und in den Gärten Seths und Snakeys Verfolgung aufzunehmen.
Sein Blick scannte die Dunkelheit, sein Magen bildete einen verkrampften Knoten der Schuld. Er hatte sich zu sehr von seinem Schwanz leiten lassen, um die Zeichen zu erkennen, und das nach dem, was mit Bart Wilkes und dem Gothic-Mädchen passiert war.
Er hatte Margot aus egoistischen sexuellen Beweggründen hierher geschleift und sich eingeredet, dass er es tat, um sie in Sicherheit zu wissen.
Er hatte es schlimmer vermasselt, als er es sich je hätte träumen lassen. Er hatte seinen Gegner komplett unterschätzt und jeden in Gefahr gebracht, der ihm etwas bedeutete.
Seth tauchte fluchend aus einem Dickicht von Sträuchern auf und zupfte Dornen und Rosenblätter von seiner Smokingjacke. »Nicht eine einzige verdammte Spur. Ist mit Cindy alles in Ordnung?«
»Ja, es scheint ihr nichts zu fehlen«, erwiderte Davy. »Der Kerl hat sie nur geküsst. Er könnte nichts weiter als ein anderer Hotelgast sein, der auf ein paar Gratisdrinks aus war.«
Seth kniff die Augen zusammen. »Das glaubst du nicht im Ernst, oder?«
Davy rieb sich das Gesicht. »Nein«, sagte er erschöpft. »Das glaube ich nicht.«
»An dieser Sache ist mehr dran, als Sean gesagt hat, nicht? Es geht um mehr als um einen gewöhnlichen Stalker.«
»Es ist eine lange Geschichte.«
»Danke für dein Vertrauen.« Seths Stimme war hart. »Das nächste Mal, wenn ihr mich und meine Frau zu einer Party einladet, tut mir den Gefallen und sagt mir vorher, ob irgendwelche gefährlichen Irren auf der Gästeliste stehen.«
Davy hob die Hände. »Ich habe bisher selbst kaum etwas herausgefunden …«
»Wie wäre es, wenn du den Teil, in dem du um Gnade winselst, überspringst, und es wiedergutmachst, indem du mir jetzt alles erzählst?«, schlug Seth vor. »Los, lass uns reingehen. Ich will Raine nicht aus den Augen lassen.«
Davy berichtete ihm leise, was sich in den letzten zwei Tagen ereignet hatte, und Seth hörte fassungslos zu. »Ich hätte ahnen müssen, dass du dich irgendwann in diesen magischen Humbug verstrickst. Die Kunst der tödlichen Berührung, meine Fresse. Das sieht dir mal wieder ähnlich, Davy.«
»Du weißt so gut wie ich, dass es hier nicht um magischen Humbug geht, sondern um energetische Manipulation.«
Seths Grunzen klang wenig überzeugt. »Es ist diese bizarre Grauzone, die mich nervös macht. Ich bevorzuge technisches Spielzeug. Das tut, was man verlangt.«
»Falls Cindys Verehrer mit Margots Stalker identisch ist, war sie circa zehn Sekunden davon entfernt, jung zu sterben«, sagte Davy. »Und es wäre meine Schuld gewesen.«
Seths Miene wurde ernst, und er beschleunigte seine Schritte. Sie kehrten an den Tisch zurück, wo Miles gerade eine blasse, schwankende Cindy auf einen Stuhl bugsierte.
Margot hatte Mikey auf dem Schoß. Ihr kummervoller, gehetzter Blick voller unausgesprochener Fragen fing Davys auf. Er schüttelte den Kopf und zuckte in einer Keine-Ahnung-Geste die Schultern.
»Dieses Arschloch hat angeboten, Mikey zu hüten, während wir tanzen«, sagte Miles. »Ein Glück für Mikey, dass du in Sachen Tanzpartner einen solch lausigen Geschmack hast, Cin.«
Cindy reagierte kaum auf die Gehässigkeit in Miles’ Stimme. »Er wirkte so normal«, erwiderte sie schwach. »Gut aussehend, witzig. Wirklich nett.«
Miles’ Lachen haftete etwas Verbittertes an. »Alle Männer, die du dir aussuchst, scheinen nett zu sein, bis sie sich am Ende als Wichser, Zuhälter, Drogendealer oder pathologische Lügner entpuppen. Das nächste Mal sind wir vielleicht nicht zur Stelle, um dir aus der Patsche zu helfen.«
Cindy verzog ihr Gesicht zu einer jämmerlichen Miene. Sie schüttelte Miles’ Hand ab. Raine rückte ihren Stuhl näher heran und legte ihren Arm um das Mädchen.
»Reg dich ab, Miles«, verlangte Sean sanft.
Miles sprang so unvermittelt auf, dass sein Stuhl umkippte und über den Boden schlitterte. »Wie soll ich mich bitte schön abregen? Sie sucht sich ständig den letzten Abschaum aus. Sie behandeln sie wie Dreck. Jedes Mal eile ich ihr zu Hilfe, und sie heult sich bei mir aus. Aber wenn ein Mann dumm genug ist, sich wirklich etwas aus ihr zu machen – keine Chance. Es interessiert sie einen Scheiß …«
»Miles.« Davy schlug seinen Befehlston an. »Beruhige dich! Sofort!«
Der junge Mann verschluckte den Rest seiner Worte und wandte sich mit geballten Fäusten ab.
»Du kannst sie nicht zwingen zu fühlen, wie du das möchtest«, fuhr Davy ruhig und sachlich fort. »Du musst loslassen. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.«
Miles schüttelte den Kopf, nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen.
»Ach, scheiß drauf!«, stieß er hervor. »Scheiß auf alles!« Er stürmte über die Tanzfläche davon und rempelte auf seinem Zickzackkurs immer wieder tanzende Paare an. Die Zurückgebliebenen am Tisch wechselten unbehagliche Blicke.
Mikey sprang von Margots Schoß und sauste Miles aufgeregt jaulend hinterher. Er hob den Hund auf seinen Arm und setzte seinen Weg fort.
»Unerwiderte Liebe«, bemerkte Seth. »Das ist echt scheiße.«
Sean bedachte Margot mit einem langen, abschätzenden Blick, bevor er ihn auf Davy richtete. »Du bringst sie noch heute Nacht nach Hause in die Berge?«
Davy nickte. »Würdet ihr beide euch um die Sicherheit hier kümmern? Ich möchte, dass jemand die Hochzeitsgesellschaft im Auge behält, bis der letzte Gast abgereist ist.«
Seths Blick verharrte bedauernd auf Raine. »Ich hatte eigentlich andere Pläne für die Nacht, nachdem ich den ganzen Tag dieses Kleid vor Augen hatte, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.«
»Tut mir leid, Mann«, sagte Davy. »Das alles ist meine Schuld. Ich würde es selbst machen, aber ich möchte Margot aus der Schusslinie dieses …«
»Spar dir die Mühe zu erklären, warum du deinen heißen Feger in euer Versteck in den Bergen bringen musst, während Sean und ich die ganze Nacht durch Hotelflure streifen werden.« Seth zwinkerte Margot zu. »Los jetzt, verschwindet endlich!«
»Sean, warte mit Margot am Eingang, während ich den Pick-up vorfahre«, bat Davy.
»Ich übernehme das.« Tamara stand lächelnd auf. »Ich möchte deiner Freundin noch ein paar letzte Lebensweisheiten mit auf den Weg geben.«
Sean zögerte. »Bist du bewaffnet?« Sein Blick glitt über ihr gewagtes Kleid und blieb anerkennend an ihrem Ausschnitt hängen.
»Machst du Witze?« Tamaras weiße Zähne blitzten zwischen ihren rot geschminkten Lippen auf.
Margot lächelte in die Runde. »Es war toll, euch alle kennenzulernen. Das war die interessanteste Hochzeit, die ich je erlebt habe.«
In Davys Lachen klang bittere Ironie mit. »Zu interessant.«
Zu dritt machten sie sich auf den Weg zum Ausgang, wobei Margot unsicher auf den wackeligen Absätzen ihrer High Heels stakste und sehnsüchtig an ihre knöchelhohen Sneakers dachte. »Holen wir nicht unsere Sachen aus dem Zimmer?«, fragte sie.
Davy schüttelte den Kopf. »Sean kann sie dir später bringen.«
Sie blieben vor der gläsernen Doppeltür in der luxuriösen Lobby stehen. »Aber was ist mit Mikey? Ich kann ihn nicht einfach …«
»Miles wird heute Nacht auf ihn aufpassen. Das habe ich schon organisiert. Warte hier mit Tam, während ich den Wagen hole.«
Sein Kommandoton veranlasste sie, Haltung anzunehmen, als hätte sie einen Stock verschluckt. Nur mit Mühe konnte sie den sarkastischen Impuls unterdrücken, die Hacken zusammenzuschlagen. Davy war nicht in Stimmung für Späße. Die Situation war zu makaber.
»Meine Güte«, spottete Tamara, als Davy zielstrebig auf den Parkplatz zusteuerte. »Ganz schön herrisch, der junge Mann. Er steht ziemlich unter Strom, wenn es um dich geht.«
»Er steht ziemlich unter Strom. Punkt«, berichtigte Margot.
»Dabei habe ich immer Connor für den Unentspannten gehalten. Sean ist der Clown, zumindest tut er so. Es sind die übermäßig Beherrschten, die einem Rätsel aufgeben. Aber er wirkt im Moment nicht kalt, sondern eher heißblütig. Du wirst einen interessanten Abend erleben, sobald ihr euer Ziel erreicht habt, wo auch immer das sein mag.«
Tamaras belustigter und spekulativer Blick trieb Margot die Röte in die Wangen. »Lass uns von etwas anderem reden«, murmelte sie.
»Spielverderberin«, tadelte Tamara. »Ach, eine letzte Sache noch. Ich habe ein kleines Geschenk für dich.« Sie zog eine silberne Haarnadel aus ihrem Knoten, schüttelte ihre glänzende schwarze Mähne aus und reichte sie ihr. Es war ein exquisites, unfassbar elegantes Stück in einem rechteckigen Design. »Pass mal auf«, sagte Tamara. »Drück auf diesen Knopf und beobachte, was passiert.«
Eine Feder rastete ein, ein Deckel sprang auf. Tamara zeigte ihr eine winzige, ausfahrbare Düse. »Ziele auf das Gesicht von jemandem und drücke hier drauf. Das Spray wird ihn außer Gefecht setzen. Es ist nicht tödlich, aber ein starkes Schlafmittel. Die Wirkung hält etwa zehn Minuten an, je nach Höhe der Dosis.«
Margot wich kopfschüttelnd zurück. »Das kann ich nicht annehmen.«
»Dein Outfit braucht noch ein kleines zusätzliches Accessoire«, insistierte Tamara vergnügt. »Warte. Lass mich mal machen.« Sie klappte die Haarnadel wieder zu und schob sie in Margots Hochsteckfrisur. »Fertig«, verkündete sie zufrieden.
Margot fasste an ihren Hinterkopf und betastete das Werk. »Aber …«
»Es ist keine große Sache«, unterbrach Tamara sie. »Nur ein albernes neues Spielzeug. Eine Trumpfkarte, die du ausspielen kannst. Und du brauchst definitiv noch mehr Karten auf der Hand, Margot.«
Ihr Protest erstarb, als sie in Tamaras ernstes Gesicht blickte. »Danke«, sagte sie leise.
Davys Nacken begann in dem Moment zu prickeln, als er auf den Parkplatz trat. Er zog die Waffe aus seinem Schulterholster und hielt sie im Anschlag. Die Stellplätze waren überdacht, als Schutz gegen schlechtes Wetter und das Harz, das von den emporragenden Bäumen tropfte. Als er seinen Pick-up erreichte, inspizierte er die dunklen Winkel des hölzernen Carports. Er entdeckte niemanden, trotzdem hatte er nicht achtunddreißig Jahre überlebt, indem er ein Prickeln im Nacken ignorierte.
Er beschloss, umzukehren und Seth und Sean um Unterstützung zu bitten, aber zuerst griff er nach der Stiftlampe, die an seinem Schlüsselbund hing, und leuchtete damit hinter den Wagen und darunter. Nichts und niemand, es sei denn, Snakey hätte sich an die Stoßstange geklebt.
Er atmete tief ein und aus, bevor er in den Unterstand trat.
Die unmerkliche Bewegung eines Schattens in seinem Rücken streifte sein Bewusstsein. Er wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um den Angriff kommen zu sehen. Der hinterhältige Bastard musste sich in den Kiefernzweigen, die über das Dach des Stellplatzes hingen, versteckt haben, doch für Selbstvorwürfe blieb jetzt keine Zeit. Ein blitzschneller Tritt schmetterte Davys Waffenhand gegen die Seite des Pick-ups. Die Pistole knallte auf den Asphalt, er sprang zurück und blockte den Finger ab, der sich sonst in seinen Augapfel und sein Hirn gebohrt hätte. Davy packte die Hand und verdrehte sie, dann brachte er seinen Gegner mit seinem eigenen Gewicht zu Fall. Er vollführte eine Rolle rückwärts und schleuderte Snakey über seinen ausgestreckten Körper hinweg gegen die Rückwand des Unterstands.
Ein dumpfer Aufschlag, ein Grunzen, ein Rascheln im Dunkeln, und Davy kam gerade noch rechtzeitig auf die Füße, um die nächste Attacke abzuwehren. Himmel, war der Kerl flink!
Es folgte ein Durcheinander parierter Tritte und Schläge. Es war eine Weile her, seit er zuletzt ums Überleben gekämpft hatte – zu lange. Er war aus der Form. Fast wäre er auf einen gegen seinen Magen gerichteten Scheinangriff reingefallen, bevor ihn in letzter Sekunde sein Instinkt warnte, in Deckung zu gehen, um einem tödlichen Fingerstich in seinen Hals zu entgehen. Der Mann trug einen Anzug und eine Haube wie ein Henker. Sie glänzte wie aus Seide oder Synthetik.
Davy taumelte zurück und duckte sich unter einem Tritt in sein Gesicht weg. Er machte schnelle Ausfallschritte nach rechts und nach links, um den Attacken seines Widersachers auszuweichen. Er bekam nicht eine Sekunde, um nach seiner Waffe zu tasten. Formelle Herrenbekleidung eignete sich nicht zum Kämpfen, das Gleiche galt für diese starren, rutschigen Schuhe, trotzdem flaute das aufgeregte Gedankenwirrwarr in seinem Kopf allmählich zu der tödlichen Stille in einer Kampfzone ab.
Davy machte einen Satz nach hinten, hinaus ins Freie, und parierte dabei einen pfeilschnellen Angriff auf seine Kehle. Er drosch den attackierenden Arm nach unten, stieß sein Bein nach hinten und rammte mit aller Kraft seinen eigenen Arm nach unten, um seinen Ellbogen in das Schlüsselbein des Wichsers zu stoßen. Ein scharfes Keuchen war seine Belohnung, eine winzige Verschnaufpause, während Snakey zurücktaumelte. Mit etwas Glück hatte er dem Kerl einen zertrümmerten Knochen in die Lunge getrieben.
Leider war dem nicht so. Snakey stürzte sich mit einem zornigen Zischen erneut auf ihn.
Davy tänzelte zurück und schätzte seinen Gegner ein. Professionell. Er favorisierte den Schlangenstil. Druckpunkte. Der Stachel des Todes in seinen Fingerspitzen. Sehr hohe Schmerzschwelle. Alles schlechte Nachrichten.
Snakey griff an. Davy blockte einen Aufwärtshaken in seine Achselhöhle ab und packte das Handgelenk des Mannes. Er zog ruckartig mit einer Drachenklaue, und zack, versetzte er ihm einen rotierenden Schlag auf den Solarplexus. Snakey stolperte wieder nach hinten. Dieses Mal haftete seinem Grunzen ein Anflug wütender Überraschung an.
Wut war gut – bei einem Gegner. Er selbst durfte sie nicht zulassen. Snakey keuchte inzwischen, seine Augen glänzten im orangefarbenen Licht der Straßenlaterne, als wäre er wirklich ein Reptil. Davy blockte einen hohen Schlag ab und landete mit den Knöcheln seiner Hand einen Treffer gegen die Schläfe des Mistkerls.
Snakey torkelte nach hinten, bevor er mit einem Drehsprung ein weiteres Mal angriff. Davy machte einen Satz zurück, um dem Schlag in seine Rippen auszuweichen, dabei glitt er mit seinen Schuhen auf dem Asphalt aus. Er stürzte zu Boden und kam im gleichen Moment wieder auf die Füße, als Snakey in das Dickicht der Kiefern unterhalb des Parkplatzes eintauchte.
Mit hektisch schlagendem Herzen nahm Davy die Verfolgung auf, doch er kam nicht weit, bevor er realisierte, dass die Dunkelheit ebenso undurchdringlich war wie der Wald. Er stolperte durch die pechschwarze Finsternis, Zweige zerkratzten ihm das Gesicht. Er zwang sich, stehen zu bleiben und die Ohren zu spitzen. Ihm weit voraus hörte er von rechts ein knisterndes, schnappendes Geräusch, aber es erstarb, noch während er lauschte.
Keine Chance, den Kerl jetzt noch zu erwischen – nicht ohne Suchscheinwerfer und Hubschrauber, aber bis er Hilfe geholt hätte, wäre Snakey längst über alle Berge. Sein Wunsch, den Bastard zu töten, brannte wie Säure in ihm.
Er schleppte sich über glitschige Kiefernnadeln mühsam zum Parkplatz hoch, wo er den ihm zugefügten Schaden inspizierte. Das Gesicht war zerkratzt, eine Wange feucht von Blut. Dazu schmerzte seine Schulter von dem unbeholfenen Sturz, und eine Hand begann allmählich zu pochen, nachdem sie gegen den Pick-up geschmettert worden war. Es könnte schlimmer sein. Er hätte sterben können. Ohne Probleme.
Das war also das Arschloch, das Margot verfolgte. Ihre Lage war noch ernster, als er es sich vorgestellt hatte.
Als er aus dem Wagen stieg, kam Margot mit schreckensgeweiteten Augen durch die Glastür gestürmt. »Lieber Gott! Bist du …«
»Mir fehlt nichts«, sagte er und zuckte zurück, als sie sein Gesicht anfasste. »Ich habe auf dem Parkplatz Snakey kennengelernt, das ist alles. Steig ein, Margot.«
»Das ist alles?«, rief sie schrill. »Was meinst du damit, das ist alles?«
»Ich meine damit, dass mir das Schwein entwischt ist.« Seine Stimme war heiser vor Frustration. »Tam, sag den anderen Bescheid. Der Kerl war groß, athletisch, ein bisschen kleiner als ich. Er hatte eine Haube über dem Kopf, deshalb konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Er trug einen Anzug. Falls ihr ihm begegnet, nehmt euch vor Stichen in die Augen und den Hals in Acht. Darauf steht er. Ich habe ihn ziemlich übel zugerichtet, aber er könnte noch immer jede Menge Schaden anrichten, wenn er darauf aus ist. Er ist gemeingefährlich, das kann ich nicht genug betonen.«
»Ich sage es ihnen.« In Tamaras Hand war eine Waffe aufgetaucht. Alle Ironie war aus ihrem bildhübschen Gesicht verschwunden. »Passt auf euch auf!«
Er verließ den Hotelparkplatz, wobei er sich Margots besorgtem Blick auf seinem Gesicht sehr wohl bewusst war, und bog auf die Serpentinenstraße ab, die in die Berge führte.
»Wir sollten an einer Notaufnahme halten. Dein Gesicht blutet.«
»Das sind nur ein paar Kratzer von den Bäumen. Nicht der Rede wert.«
»Wohin fahren wir?«
»Mein Bruder und ich haben ein Haus oben in den Bergen. Wir sind dort aufgewachsen.«
Sein Handy klingelte. Er zog es aus der Smokingjacke. Das Display zeigte eine unbekannte Nummer an. Seltsam. Kein Fremder wusste seine Handynummer. Die Liste der Menschen, die sie kannten, war so kurz, dass man sie an einer Hand abzählen konnte. Er drückte auf die Sprechtaste. »Wer ist da?«
»Gomez.« Die Stimme seines Freundes war leise und nervös.
Seine eigene Nervosität meldete sich nun ebenfalls zurück. »Hallo, Gomez! Was ist los?«
»Wir müssen uns treffen. Jetzt gleich. Es ist wichtig.«
»Das wird bis morgen warten müssen«, entgegnete Davy. »Ich habe dir heute Vormittag gesagt, dass ich in Endicott Falls bin, wegen Connors …«
»Ich bin inzwischen auch hier – in Endicott Falls. Bin gerade aus der Stadt eingetroffen. Ich rufe von einem Münztelefon an.«
Das verschlug ihm für eine Sekunde die Sprache. »Ach so … okay. Wo genau bist du?«
»Vor einem Minimarkt an der Kreuzung Moffat und Taylor Highway.«
»Ich bin in zehn Minuten bei dir.« Davy legte auf und steckte das Handy ein.
»Wer war das?«, fragte Margot.
»Raul Gomez, mein Kumpel bei der Polizei. Er ist extra aus Seattle gekommen, weil er mit mir sprechen muss. Persönlich. Sofort.«
»Oh«, flüsterte sie. »Das klingt nicht gut.«
»Nein, das tut es nicht«, bestätigte er grimmig.
Wenige Minuten später bogen sie auf den Parkplatz ein. Ein attraktiver dunkelhaariger Mann stieg aus einem zerbeulten Geländewagen und lehnte sich wartend dagegen. Davy sprang aus dem Pick-up und schlug die Tür zu.
Margot zögerte kurz, bevor sie ihm folgte.
Gomez’ scharfe dunkle Augen registrierten jedes Detail: die Erde auf Davys Smoking, das Blut in seinem Gesicht, die geschwollene Hand. Dann huschte sein Blick zu Margot.
»Du hast nicht erwähnt, dass du nicht allein bist«, stellte er fest.
»Du hast nicht gefragt.«
Gomez verschränkte die Arme. »Wilde Party, hm?«
Davy zuckte die Achseln. »Ereignisreich.«
Gomez wartete auf weitere Erklärungen. Die Sekunden verstrichen, und seine Miene verhärtete sich. »Komm mit in meinen Wagen. Ich muss mit dir reden. Allein.«
Davy schaute in Margots furchtsame helle Augen. Ihre Arme waren um ihren Oberkörper geschlungen, und sie hatte eine Gänsehaut von der kühlen Nachtluft. »Du kannst alles, was du auf dem Herzen hast, in ihrer Gegenwart sagen.«
Der Polizist zog eine Grimasse. »Scheiße«, brummte er. »Okay, das war’s mit meiner Karriere. Kennst du einen Mann namens Joe Pantani?«
Davy schüttelte den Kopf, als sie beide hörten, wie Margot scharf nach Luft schnappte. Sie wandten sich ihr zu. »Sie kennen ihn?«, fragte Gomez barsch.
»Ich habe in den letzten Wochen gelegentlich in seinem Imbiss bedient«, erklärte sie stockend. »Bis … bis gestern gegen Mittag.«
Gomez’ Miene wurde noch finsterer. »Verflucht! Sagen Sie mir, dass Sie nicht Margot Vetter sind.«
»Äh … warum sollte ich Ihnen das sagen?«
»Sie sind die Kellnerin, die gestern gefeuert wurde?« Er wartete auf ihr Nicken. »Man sucht nach Ihnen, um sie zu dem Mord an Joe Pantani zu befragen.«
Sie schlug die Hand vor den Mund. »Joe? Joe wurde ermordet?«
Gomez richtete den Blick wieder auf Davy. »Ja. Und das außerordentlich gründlich. Er wurde totgeschlagen. Jeder Knochen in seinem Leib ist mehrfach zertrümmert.«
»Ich weiß nicht, warum du mich so ansiehst, Raul«, sagte Davy. »Ich bin dem Mann nie begegnet.«
»Und du warst auch nie bei ihm zu Hause? Aus welchem Grund auch immer?«
Davy schüttelte den Kopf.
Gomez fluchte laut auf Spanisch. »Dann steckst du in der Patsche. Es wurden eine Whiskeyflasche und zwei Gläser in Pantanis Haus sichergestellt. Sie waren übersät mit einwandfreien latenten Fingerabdrücken. Es wurde ein Abgleich sowohl mit der städtischen als auch der staatlichen AFIS-Datenbank vorgenommen, allerdings vergeblich, weshalb die Analytikerin sie an einen Bekannten beim FBI weitergeleitet hat. Er hat sie mit IAFIS abgeglichen und fand eine potenzielle Übereinstimmung. Und jetzt rate mal, wessen Truppenausweisnummer auf seinem Monitor auftauchte?«
Davy übermannte ein ungewohntes banges Gefühl, als würden sich Eisenzähne krachend um seine Kehle schließen. »Aus meinem Haus ist eine Flasche Whiskey verschwunden«, murmelte er. »Ich vermisse sie seit gestern Abend.«
»Sag bloß. Hast du dir kürzlich einen bösartigen neuen Feind zugelegt?«
Davy berührte mit seiner geschwollenen Hand das getrocknete Blut auf seinem Gesicht. »Ja, das habe ich tatsächlich«, antwortete er grimmig. »Jetzt, da du es erwähnst.«
»Drei Leichen in einem Zeitraum von vierundzwanzig Stunden«, bemerkte Gomez. »Und dein Name taucht im Zusammenhang mit jeder einzelnen auf. Es sieht übel für dich aus, Mann. Ich habe niemandem von deinem Interesse an Lila Simons erzählt. Zumindest noch nicht. Also liefere mir einen guten Grund, es auch weiterhin nicht zu tun, Davy.«
»Du kennst mich, Raul. Ich bin kein Mörder.«
Gomez wirkte hin- und hergerissen. »Ja. Wenigstens dachte ich das. Tja, das wär’s dann für den Moment. Mehr habe ich dir nicht zu sagen. Der Bericht ist noch nicht offiziell. Der Fingerabdruckexperte beim FBI braucht erst noch das Original deiner Fingerabdrücke aus deiner Militärakte für den visuellen Vergleich, um die Identifikation abzuschließen, aber ihm genügte schon ein flüchtiger Blick, um zu erkennen, dass es eine Übereinstimmung gibt. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Sie werden diese Sache im Eilverfahren durchziehen. Verlass dich drauf.«
»Heilige Scheiße«, stöhnte Davy.
»Sie werden deine DNA testen wollen. Und so, wie die Dinge stehen, würde ich wetten, dass sie auch da eine Übereinstimmung feststellen werden«, fuhr Gomez fort. »Falls dein mysteriöser neuer Feind deine Fingerabdrücke gestohlen hat, sollte er clever genug sein, auch deinen Kamm mitgehen zu lassen.«
»Wann wurde der Mann ermordet? Letzte Nacht?«
»Ja, basierend darauf, wann er zuletzt lebend gesehen wurde.« Gomez’ Stimme klang heiser vor Erschöpfung. »Seine Freundin fand ihn um vier Uhr morgens, als sie von ihrer Schicht in einer Bar heimkam. Die genaue Todeszeit lässt sich schwer bestimmen. Der Killer hat ihn wie ein Taschenmesser zusammengeklappt und in die Gefriertruhe gestopft.«
Davy verzog das Gesicht. »Autsch.«
Raul richtete den Blick auf Margot. »Bei alldem geht es um sie, richtig?«, fragte er schroff. »Du tust es wieder, genau wie damals bei der Armee. Wie hieß diese Tänzerin noch gleich? Fran? Fern?«
»Fleur. Und das hier ist etwas völlig anderes als die Sache mit ihr.«
»Ja. Das hier ist weitaus schlimmer. Dieses Mal könntest du im Gefängnis landen und nicht nur halb totgeprügelt werden.«
»Verdammt noch mal, Raul …«
»Halt! Du warst derjenige, der darauf bestanden hat, diese Unterhaltung in Gegenwart deiner Freundin zu führen. Und ich lehne mich für dich gerade so weit aus dem Fenster, dass ich mir dabei das Genick brechen könnte. Also halt dich zurück!«
Davy schluckte seine zornigen Worte runter. »Ja, ich weiß. Danke.«
»Behalt deinen beschissenen Dank für dich! Wenn du unschuldig bist, warum arbeiten wir dann nicht zusammen an dieser Sache?«
Davy zögerte. »Die Geschichte fliegt mir gerade im Moment um die Ohren, Raul. Einen Stopp einzulegen, um den bürokratischen Kram zu erledigen, würde uns genau die Zeit kosten, die dieser Typ braucht, um sie zu töten.« Er deutete mit dem Kinn zu Margot.
»Oh, danke für dein Vertrauen in mich«, sagte Gomez mit bitterem Tonfall.
»Es liegt nicht an dir. Bitte, nimm es nicht persönlich. Ich weiß, was es für dich bedeutet, mir das alles erzählt zu haben.«
»Ja, es heißt, dass ich auf der Stelle meine Dienstmarke abgeben und uns allen eine Menge Kummer ersparen sollte. Mein Leben ist einen feuchten Dreck wert, bis du deine Probleme in den Griff bekommst. Und falls ich herausfinde, dass du mich belügst … dann Gnade dir Gott, Davy! Ich werde dich fertigmachen, das schwöre ich.«
»Ich belüge dich nicht«, versicherte er. »Das würde ich nie tun. Du hast mein Wort darauf. Du kennst mich gut genug, dass ich das eigentlich nicht erwähnen müsste.«
Gomez schüttelte nur den Kopf. »Wo warst du letzte Nacht?«
Davy deutete auf Margot. »Mit ihr bei mir daheim.«
»Na klar.« Gomez lachte freudlos. »Das ist eine tolle Nachricht. Wirklich hilfreich. Zwei wertlose Scheiß-Alibis zum Preis von einem.« Er riss die Tür seines Geländewagens auf und stieg ein. Der Motor startete röhrend.
Der Wagen fuhr kurz an, kam mit einem Ruck wieder zum Stehen, und das Fenster fuhr nach unten. »Lass dich nicht umbringen.« Gomez schleuderte ihm die Worte mit erbittertem Nachdruck entgegen. »Du Vollidiot!«
Das Fenster fuhr wieder hoch. Die Reifen wirbelten Kies auf, dann jagte der Geländewagen in die Nacht davon.