Fleisch und Blut
Die drei Tage des Wartens bedeuteten die Qual der Qual für die beiden Kommissare. Insgesamt hatte Kommissar Aemisegger in den letzten drei Nächten nur fünf Stunden geschlafen. Schreckliche Träume jagten ihn durch die Nacht. Träume von hässlichen Fratzen, von Blut, das aus den Mundwinkeln tropfte. Die Schatten mit den Fratzen rannten ihm nach, verfolgten ihn, bedrängten ihn, setzten ihm die messerscharfen Säbel an den Hals. Alles war wie echt.
Kommissar Köppel ging es allem Anschein nach ähnlich. Man hatte ihn noch nie so schlecht gelaunt angetroffen wie er es heute war.
Dann, endlich, kam der erlösende Anruf aus dem Untersuchungslabor. Er klang alarmierend; es schien nicht nur wichtig, sondern dringend zu sein. Dr. Kägi wollte die beiden Kommissare sofort treffen, um ihnen über die brisanten Ergebnisse zu berichten. Kägi schöpfte Hoffnung, dass die Beweise reichen würden, um den Psychopathen für immer hinter Gitter zu bringen. So bizarr sich der Fall entwickelte, so sehr mussten sie sich damit abfinden, dass ihre schlimmsten Horrorvisionen Realität geworden waren. Vorweg nahm Kägi, dass die Identität der Knochen vom Hof von Lex Reinwarth noch ungeklärt sei. Sie verabredeten sich im Labor, dem Arbeitsplatz von Dr. Kägi. Und sie waren sich auch einig darüber, Carla Fuchs zu informieren. Das waren sie ihr schuldig.
«Ich danke Ihnen, dass Sie so schnell kommen konnten.»
«Sie sagten, Sie könnten Reinwarth die Morde nachweisen?», drängte Köppel ungeduldig. Sie alle hatten lange auf diesen Moment gewartet. Die Zerreissprobe sollte endlich ihr Ende haben.
«Wir können nachweisen, dass die Opfer ermordet worden und nicht eines natürlichen Todes gestorben sind. Nicht nachweisen können wir hingegen, dass der verdächtigte Lex Reinwarth die Morde begangen hat. Heute werde ich Ihnen die Beweise liefern, dass in diesem Topf», Kägi hob den Kochtopf, den Detektivin Fuchs hatte mitlaufen lassen, «Menschenfleisch zubereitet worden ist. Und dank dem Kot, den Sie von zwei Feuerstellen als Beweismaterial gesichert haben, werden wir beweisen können, dass der Mensch, der diesen Kot ausgeschieden hat, Menschenfleisch gegessen hat. Ebenso können wir nachweisen, von wem der Kot stammt. Ich erkläre Ihnen das alles der Reihe nach.»
«Wir bitten Sie darum!», rief Aemisegger und setzte sich zwischen Carla Fuchs und Köppel an den Tisch. Die drei sassen nebeneinander wie auf einer Schulbank und hörten aufmerksam zu, was ihnen Dr. Kägi zu berichten hatte. Er begann mit dem Kochtopf: «Das erste Beweisstück der Spurensuche ist dieser Kochtopf. Wie erwähnt, können wir beweisen, dass in diesem Topf Menschenfleisch gekocht wurde. Das war allerdings gar nicht so einfach, wie Sie möglicherweise annehmen. Wir können zudem nachweisen, dass im Topf Knochen gekocht wurden. Es gibt ein Verfahren, das sich «pot polish» nennt: Knochen reiben beim Kochen im sprudelnden Wasser am Rand des Kochtopfs und hinterlassen charakteristische Spuren. Solche Spuren konnten wir feststellen. Dazu kommt die politurartige Glättung, die die Knochen durch dieses Kochen erhalten: Genau solche Knochen – und zwar Knochen von Menschen - haben wir im Umkreis der Kochstelle gefunden. Ausserdem weisen auch die Knochen von den anderen Fundstellen dieselben Merkmale auf. Es lässt sich also zweifelsfrei beweisen, dass sie ebenfalls gekocht wurden.»
Alle Anwesenden verstummten. Wenn auch Dr. Kägi die Wahrheit sprach, servierte er ihnen doch eine bittere Pille mit grässlichem Nachgeschmack.
Die Spannung liess sowohl bei den beiden Kommissaren wie auch bei Carla Fuchs nach. Aemisegger zog eine Schlussfolgerung: «Und da wir den Kochtopf auf dem Anwesen von Reinwarth sichergestellt haben, können wir uns denken, wer der Koch war. Unklar ist, wie die Opfer zu Tode kamen.»
«Genau», schloss sich auch die Detektivin seinen Worten an. «Wir haben wohl genügend Hinweise, dass Reinwarth Menschenfleisch zubereitet hat. Jedoch fehlen uns jegliche Beweise, dass er es war, der die Menschen zuvor getötet hatte.»
«Das zu beweisen, wird nach wie vor schwierig sein. Wer aber sonst sollte es gewesen sein?», gab Aemisegger mürrisch zur Antwort. Normalerweise war er der erste, der sich an System und Regeln orientierte und wenig auf Intuition gab.
«Die Beweise werden nicht ausreichen, ihn zu überführen. Wir müssen ihn konfrontieren. Es bleibt uns nichts anderes übrig.»
«Nun hören Sie doch erst einmal zu. Ich bin noch nicht fertig mit meinen Ausführungen.»
Hoffnungsvoll lauschten die drei, was Kägi zu berichten hatte.
«Wir haben die Kotstücke von den Feuerstellen Waldhütte und Anwesen von Herrn Reinwarth miteinander verglichen.»
«Und?», fuhr Köppel forsch dazwischen.
«Seien Sie nicht so ungeduldig, Herr Köppel.»
Es schien, als würde es Kägi Genugtuung bereiten, die drei auf die Folter zu spannen. Zu gut kannte er Aemisegger um zu wissen, dass es ihn juckte, Lex Reinwarth am Kragen zu packen und ihm die Handschellen anzulegen.
«Als Erstes gilt es zu sagen, dass die Kotstücke von ein und derselben Person stammen. In den Exkrementen konnten wir im Labor überdies menschliches Myoglobin nachweisen.»
«Myoglobin?», hakte Köppel nach.
«Myoglobin kommt in der Regel nur im Skelett-oder Herzmuskelgewebe vor. Nicht aber im Verdauungstrakt. Wenn wir also Myoglobin in den Exkrementen finden, die übrigens zweifelsohne mit der DNA von Lex Reinwarth übereinstimmen, dann kann es nur vom Verzehr von Menschenfleisch stammen.»
«Unfassbar!»
«Unfassbar, ja. Aber nicht unvorstellbar. Die Ergebnisse lassen nur einen Schluss zu: Entweder er hatte einen Komplizen oder Lex Reinwarth war es selbst, der seine Opfer geschlachtet hat wie der Metzger ein Tier. Dann hat er sie gekocht, wie Sie zu Hause das Schwein oder Rind zubereiten, und hat sie anschliessend gegessen. Dass er jeweils seine Notdurft auf der Feuerstelle verrichtet hat, war ein grosser Fehler. Dadurch können wir ihm nachweisen, dass er die Menschen verspiesen hat.»
«Wir müssen ihn sofort festnehmen!»
Kommissar Aemisegger stand unter Strom. Auch wenn er wusste, dass die Beweise für eine Verhaftung nicht ausreichen würden, war er fixiert darauf, Reinwarth zu kriegen.
Nur die Detektivin war still. Sie hatte Kummer. Sicherlich war sie genauso erleichtert wie Aemisegger und Köppel. Erleichtert darüber, dass sie den Täter eingekreist hatten. Doch die Worte von Anton Ritler hallten als Echo in ihrem Kopf. Der Gedanke an die goldene Quelle, die Lex Reinwarth reich machen sollte, plagte sie. Ihr war sonnenklar: die goldene Quelle war nichts anderes als der Handel mit Menschenfleisch. Darüber hatte sie im Internet gelesen. Sie mussten diesen Lex Reinwarth stellen. Noch tappten sie völlig im Dunkeln, was seine Handelsmachenschaften anbetraf. Sie kannten weder die Hintermänner noch das Ausmass des Schreckens. Carla Fuchs wusste: es würde ein Kampf gegen Windmühlen werden, den sie so, in der jetzigen Verfassung, in der sie alle waren, nicht bestehen würden. Ein Kapitel würde bald abgeschlossen sein. Das Buch hingegen war noch lange nicht gelesen. Es war erst ein Anfang. Die Pille schmeckte ihr wirklich bitter. Sie beschloss, nichts weiter dazu zu sagen.