Fleischgericht
Er sass an seinem Platz auf der Eckbank seiner offen gebauten Küche und würzte hingabevoll den Sud. Die Vorfreude auf das bevorstehende Hoffest war riesig. Er musste sich noch etwas gedulden, was ihn aber nicht am Probekochen hinderte. Heute gab’s Cormarye, ein Rezept aus dem Englischen. Und wie er sich auf die Leibspeise freute: er war hungrig, richtig hungrig auf das schlachtfrische Fleisch.
Erinnerungen an seinen verstorbenen Vater kamen in ihm hoch. Damals, als er selbst ein Kind gewesen war, hatte er oft mit ihm in der Küche gesessen und bei den Vorbereitungen helfen dürfen. An ganz speziellen Anlässen trank man dazu das kostbare Getränk – allerdings war dies den Erwachsenen vorbehalten. Noch zu Vaters Zeiten fanden die Rituale öfters statt. Nach den Überlieferungen gab es einst harte Zeiten des Hungers im Weiler. Ohne die Jagd hätten die Vorfahren nicht überlebt. Inzwischen hatte sich einiges verändert. Die wenigen Nachfahren, die heutzutage den Weiler belebten, gingen einer geregelten Arbeit nach. Sie hatten sich in der Stadt eine Wohnung zugelegt und kamen, wie er selber, oft oder auch weniger oft auf den Hof zurück. Es wäre undenkbar gewesen, sich wie früher auf die Jagd zu begeben und sich von der Beute zu ernähren. Er war noch der einzige, der die Tradition zu pflegen verstand. Sein Vater hatte ihn in die Zeremonie eingeweiht und ihn mit dem Ritual betraut. Stolz wäre er auf seinen Sohn gewesen, wenn er hätte sehen können, mit wieviel Passion er die Sitte weiterführte.
Der Mann mit kurzgeschorenem Haar gab ein wenig Koriander, fein gemahlenen Kümmel und Pfeffer zum Knoblauch hinzu, den er zuvor in der roten Brühe zerstossen hatte. Er verrührte die schmackhaften Gewürze und salzte den Sud.
«Cormarye, Cormarye», sang er freudig vor sich hin.
Dann widmete er sich wieder dem Fleisch. Einige Portionen hatte er in den Tiefkühler gepackt und einen weiteren Teil davon entsorgt. Die artgerechte Verwertung und Entsorgung gehörte zum Ritual. Doch seine Aufmerksamkeit galt dem Festschmaus vom heutigen Abend. Dafür hatte er sich ein besonders leckeres Stück bereit gelegt.
Die etwa zwei Kilogramm schwere Hinterbacke eignete sich geradezu perfekt für seinen Bärenhunger. Der Drang, in das Fleisch hineinzubeissen, es genüsslich im Gaumen zu kauen und es in sich aufzunehmen, war stärker denn zuvor. Er stach mit einer Gabel ins Fleisch und lobte die ausgezeichnete Qualität seiner Beute. Sein Mund war wässrig geworden. Wieder sang er «Cormarye, Cormarye.» Und summte weiter. Nun legte er den Braten in die blutrote Marinade und liess ihn darin kurz ziehen. Er klatschte sich in die Hände, strahlte übers ganze Gesicht. Seine Augenäpfel stachen gierig hervor. Er schlürfte seinen Speichel und leckte sich die Unterlippe.
Heute trug er wieder die Kutte, die sein Vater damals bereits getragen hatte, wenn er die Zeremonien hielt. Der robuste Ledergurt hielt die Kutte in den Hüften eng zusammen, damit die Begierde nicht zu stark wurde. Es war dasselbe Ritual: erst wurde vom Saft gekostet, dann sang man zusammen ein Lied in Gedenken an die Verstorbenen. Es hatte viel mit Respekt zu tun. Respekt gegenüber den Ahnen, der Tradition und gegenüber der Beute. Lebewesen zu essen, war etwas Besonderes und für den heutigen Schmaus hatte er sich ein hervorzuhebend potentes Objekt ausgesucht.
Mit dem Suppenlöffel kostete er die Marinade. «Perfekt!», lobte er die Gewürzsauce und sang wieder seine Melodie: «Cormarye, Cormarye.»
Er leckte sich die Tropfen von den Fingerspitzen und schob den Leckerbissen in den Ofen. Eine ganze Weile starrte er durch die Ofenscheibe auf den Braten. Sein Magen rumorte hörbar. Er war schon ganz zittrig und kraftlos vor lauter Hunger.
Es war immer derselbe Kreislauf: Die Vorfreude, verbunden mit dem Plan, frische Beute zu jagen. Hatte er die Beute erst einmal ins Visier genommen, starteten die Vorbereitungen zur Jagd, das Töten, Schlachten, Ausnehmen und In-Stücke-Teilen. Jede Sekunde in diesem Ritual war ein Genuss für sich. Die Jagd als solche beschrieb er als Adrenalin-Kick. Hatte er die Beute erst einmal erlegt, fühlte er sich als Held.
Dass man das Lebewesen tötete, gehörte dazu. Sein Vater hatte es ihm beigebracht. Es war dasselbe wie beim Schlachten eines Schweines oder Rindes. Das Lebewesen durfte nicht leiden. Es sollte eines glücklichen Todes sterben, damit die Seele rein blieb. Das Schlachtritual verband ihn mit seinem Vater. Wenn er damals dabei sein durfte, war es immer etwas Spezielles gewesen. Von da an hatte er diesen Traum; den Traum vom Schlachten, der ihm nie mehr aus dem Kopf ging.
Nur einmal schmerzte es ihn im Herzen. Das lag lange zurück. Es war das erste Mal gewesen, als er als damals 6-Jähriger dem Schlachtritual beiwohnte und seinen geliebten Buddy, seinen Hund, am Schlachthaken mit abgezogener Haut hängen sah. Sein Vater hatte nur gelacht, ihn dann getröstet und ihm erklärt, dass Buddy einen wertvollen Beitrag für seine Gesundheit leisten wollte und es Buddys Wille gewesen wäre zu sterben. Sein Vater erklärte ihm auch, dass die Beute dazu auserkoren war und brachte ihm bei, jeden Bissen zu schätzen, ihn ordentlich zu kauen und Dankbarkeit zu zeigen. Seither konnte er gut damit umgehen, wenn ein Familienmitglied oder Freund sterben musste. Denn er wusste, dass der Tod und das Leben nahe beieinander lagen und jemand sterben musste, damit seine Seele weiterleben konnte.
Auch dieses Mal hatte er dem Sterbenden in die Augen geblickt. So, wie er es immer tat. Er hatte den Übergang vom Leben zum Tod bewusst miterlebt. Später, als er ihn seiner Innereien entledigt und in Stücke gesägt hatte, war sein Hunger stärker geworden. Am liebsten hätte er gleich rein gebissen.
Noch immer sass er in der Hocke vor dem Ofen und starrte gierig auf seinen Braten.
«Cormarye, Cormarye» sang er wieder und goss einen Schuss Bier über das Fleisch, damit es saftig wurde.
Er wusste gar nicht, wann er das letzte Mal ein richtig gutes Stück Fleisch zwischen die Zähne bekommen hatte. Es waren Wochen, wenn nicht Monate vergangen. Vom Fleisch im Tiefkühler konnte er jeweils noch einige Zeit zehren. Davon brutzelte er zum Beispiel Geschnetzeltes an Rotweinsauce oder Gehacktes mit Hörnli. Gerne mochte er Chandun, ein altes Rezept aus dem 15. Jahrhundert mit gewürfeltem Fleisch. Das spezielle Würzen gehörte bei den mittelalterlichen Rezepten dazu. Neben den geschmacklichen Erlebnissen ging die Beigabe von Gewürzen auf bestimmte medizinische Vorstellungen zurück, während die Einnahme vom Lebewesen, die Aufnahme seiner Seele, auch auf spirituelle Hintergründe zurückzuführen war.
Es war an der Zeit, den Tisch zu decken und sich vom kostbaren Getränk ein paar Tropfen zu gönnen. Feierlich hob er den Becher hoch. Der Mann in der Kutte fragte sich, während er sich die letzten Tropfen von der Unterlippe leckte, ob er für das geplante Festessen genügend frisches Fleisch bereit hatte, damit es für alle gut reichen würde. Vier Gäste würden es mindestens sein. Die Gier drängte ihn, sich erneut auf die Jagd zu begeben. Nicht nur des Festes wegen, nein, die Nachfrage nach dem Fleisch war grösser denn je. Seit er sich online mit einigen Gleichgesinnten austauschte, war ihm bewusst geworden, dass er mit seinen Gelüsten nicht alleine war. Ja, er musste noch einmal auf die Jagd. Das sagte ihm auch der Blick auf die flüssigen Reserven. Er hatte vom Getränk, das in sympathischer Bruderschaft Seelenheil hervorrief, viel zu wenig übriggelassen.
Der Mann in der Kutte lockerte seinen Gurt und goss sich erneut vom roten Saft in die Tasse und trank sie in einem Schluck leer.