Wie ein Tier

 

 

Aemisegger hatte keine Sekunde geschlafen. Träume hatten ihn die ganze Nacht hindurch geplagt. Grauenvolle Bilder von menschlichen Skeletten, die blutspuckend, wild um ein Feuer tanzten und sich gegenseitig die Zähne zogen. Am meisten Furcht in ihm hatte aber dieses hysterische Lachen erregt. Aemisegger stand hilflos mitten drin: umschlichen von den Zombies, gefesselt an einen dicken Baumstamm. Die Skelette näherten sich ihm, tanzten um ihn herum, spuckten ihm ins Gesicht und streiften mit den Fingerknochen seinen Hals. Er hörte es wieder – dieses giftige Lachen. Es hörte nicht auf. Der Wecker mit seinem schrillen Ton läutete andauernd. Schweissgebadet schoss Aemisegger hoch. Er, der routinierte Kommissar. Nein, er hatte doch keine Angst, redete er sich ein.

 

«Guten Morgen, Aemisegger, haben Sie gut geschlafen?», fragte ihn Köppel. Aemisegger starrte ihn an, als sässe eine skalpierte Leiche vor ihm.

«Ähm. Ja, ja. Haben wir schon einen Laborbericht auf dem Tisch?», lenkte er geschickt auf den Fall über.

«Nein. Kägi versprach uns den Bericht auf zwölf Uhr.»

«Es ist fünf vor zwölf.»

 

«Wenn man vom Teufel spricht, steht er in der Tür!», scherzte Köppel und begrüsste den hereintretenden Untersuchungsmediziner.

In ganz seltenen Fällen überbrachte Dr. Kägi den Bericht persönlich.

«Wir haben Neuigkeiten für Sie! Wir haben auf Hochtouren gearbeitet, mit verschiedenen Spezialisten, und schon einiges herausgefunden. War nicht ganz einfach in so kurzer Zeit.»

 

«Von Ihnen habe ich nichts anderes erwartet! Trotzdem: gratuliere! Und, was ist herausgekommen – konnten sie die Identität des Toten oder der Toten mittels der Knochen bestimmen?»

«Ja. Alles weist auf ein Tötungsdelikt hin. Wir konnten das Opfer identifizieren.» Kägi antwortete besorgt.

«Ja und?»

«Beim Opfer handelt es sich um Lukas Brennwald, er war zweiundvierzig Jahre alt und lebte in Zürich.»

«Saubere Arbeit, Kägi!», lobte ihn Aemisegger. Er fühlte genau, dass noch etwas im Busch war.

«Wir konnten das Opfer anhand der gefundenen Zähne identifizieren. Unsere Männer von der Spurensicherung haben an der Fundstelle bis auf einen Zahn lückenlos alle eingesammelt. Einige Zähne waren plombiert. Wir konnten das Gebiss rekonstruieren.»

«Sie haben wohl kaum über Nacht alle Zahnärzte für den Gebissvergleich angefragt?»

«Nein. Dazu hätten wir viel mehr Zeit gebraucht.»

 

«Das müssen Sie uns schon genauer erklären. Mit Zahnärzten habe ich es weniger. Wie sind Sie denn so rasch auf die Identität gestossen?»

«Aufgrund einer Vermisstenanzeige im Polizeicomputer. Sie erinnern sich an die Meldung vor knapp zwei Wochen, als Herr Remo Iseli seinen Mitbewohner als vermisst gemeldet hat?»

«Klar!», antwortete Köppel schnell. Schliesslich hatte er Iselis Aussage protokolliert.

 

«Da der verschwundene Mann vom Alter her auf das errechnete Alter des Knochenfundes passte, sind wir dieser Spur gefolgt und haben den behandelnden Zahnarzt von Lukas Brennwald kontaktiert. Der Erfolg war mit uns: der Abgleich seines Gebisses war identisch. Ein Versuch – ein Volltreffer.»

«Somit ist die Identität mit hundertprozentiger Sicherheit geklärt, das ist schon mal ein guter Anfang.»

 

«Lukas Brennwald?» Aemisegger tippte im Polizeicomputer den Namen ein und stiess sofort auf die Vermisstenanzeige, die im System hinterlegt worden war.

«Köppel, wir knöpfen uns diesen Remo Iseli, den Mitbewohner, gleich mal vor! Aber erst informieren Sie die Eltern von Lukas Brennwald.»

«Das kann ich mir sparen. Ich erinnere mich, wie Iseli uns im Zusammenhang mit der Vermisstenanzeige informierte, dass Lukas Brennwalds Eltern vor sieben Jahren verstorben sind. Die einzige lebende Verwandte ist seine Schwester, die seit Jahren in Spanien wohnt.»

«Okay, dann informieren Sie die Schwester!»

«Mach ich!», stimmte ihm Köppel zu.

«Lassen Sie uns danach sofort zu diesem Mitbewohner fahren. Ich habe einige Fragen an ihn zu stellen!»

 

Aemisegger besann sich und wandte sich wieder an Kägi: «Haben Sie weitere Informationen für uns? Sie sind also davon überzeugt, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelt. Können Sie sagen, was geschehen ist? Gibt es Spuren oder Hinweise auf den Täter?»

«Zum Täter können wir leider nichts sagen. Er hat nicht die kleinste Spur hinterlassen, die auf ihn zurückführen würde. Keine Fingerabdrücke, noch nicht einmal Fussspuren haben wir gefunden.»

 

Dr. Kägi hielt kurz inne und meinte ernst: «Wir haben jedoch einiges über die Tat herausgefunden.»

«Ach ja? Erzählen Sie!», forderte ihn Aemisegger sofort auf.

«Der Todeszeitpunkt war vor rund zwei Wochen. Das Opfer wurde eindeutig nicht am Ort des Fundes getötet. Sein Mörder hat diese Stelle aufgesucht, um den Schädel und die anderen Knochen im Wald zu entsorgen.»

«Wie seltsam.»

«Allerdings. Er entsorgte die Knochen nicht nur, er hat ein regelrechtes Happening daraus gemacht, indem er sie sorgfältig innerhalb eines Kreises verteilte. Er muss auch jeden Zahn einzeln positioniert haben.»

«Grässlich! Wissen Sie denn, wie Lukas Brennwald zu Tode gekommen ist?»

«Wir vermuten, dass er durch einen Schlag auf den Kopf - mit der stumpfen Seite eines Gegenstandes - bewusstlos geschlagen wurde. Der Schädel weist eine leicht eingedrückte Stelle auf, die darauf schliessen lässt. Gestorben ist er an diesem Schlag nicht. Zum Tode führte ein Hals-Brust-Stich mit einem grösseren, sehr scharfen Messer. Etwa so, wie man es beim Abschlachten von Schweinen kennt.»

 

Aemisegger musste sich setzen. Kägis Worte rissen ihn komplett aus seiner Routine heraus. Hatte er Abschlachten gesagt? Beide Kommissare starrten den Mediziner an, der in fachlich-sachlichem Ton weiterfuhr, als wäre es das Normalste der Welt. War es ja irgendwie auch, nur kam man gewöhnlich nicht einmal mit dem Vorgang des Schlachtens eines Tieres in Berührung. Der Fleischverzehr begann in der Regel damit, dass man im Lebensmittelgeschäft ein abgepacktes Stück Filet, Brust oder Kotelett kaufte und es anschliessend in die Pfanne haute, ohne das lebendige Tier noch zu erahnen. Völlig ausgeschlossen war, dass der Normalsterbliche einen Schlachtvorgang in Verbindung mit dem Töten eines Menschen brachte.

 

«Er ist geschlachtet worden wie ein Tier?»

«Es schaut ganz danach aus. Dazu kann ich Ihnen gerne noch Genaueres sagen: das Stechmesser wurde etwa drei Finger breit vor dem Brustbein angesetzt, und schräg nach hinten in Richtung Herz gestochen, um die dahinterliegenden Blutgefässe zu treffen, damit das Blut des Opfers ausfliessen konnte. Das stellten wir anhand der Knochen fest, die durch den Stich beschädigt wurden. Normalerweise, also wenn ein Schwein geschlachtet wird, schiesst das Blut im Rhythmus des Herzschlages mit Druck in dickem Strahl aus der Stichwunde. Ich gehe davon aus, dass Herr Brennwald mindestens bewusstlos war und nicht bei vollem Bewusstsein seiner Tötung zuschauen musste. Das weitere Prozedere können wir nur erahnen. Vermutlich wurde dem Opfer die Haut abgezogen, dann die Eingeweide rausgenommen, bevor er in Teilstücke zerlegt wurde. Ob ihm die Zähne

gezogen wurden, als er noch am Leben war oder nach seinem Tod, konnten wir bisher nicht endgültig eruieren.»

 

«Ich fasse es nicht!» Aemisegger kratzte sich an der Schläfe.

Köppel zeigte sich ebenfalls irritiert: «Weshalb hat der Täter den Schlachtvorgang für die Ermordung gewählt? Das muss ein extremer Typ sein. Er hätte sein Opfer einfach erstechen oder erschiessen können.»

«Darauf kann ich nichts weiter sagen. Ich würde sagen, das ist Ihr Job.»

 

Aemisegger vereinte seine letzten Kräfte, um den Starken zu markieren. Obwohl: die Vorstellung, dass ein Mensch regelrecht abgeschlachtet worden war, erschütterte ihn. Nicht einmal mit der Schlachtung eines Tieres hatte er sich bisher tiefer auseinandergesetzt. Vermutlich war er bislang einfach darum herumgekommen oder hatte den Gedanken an die Tötung eines Tieres für seine Scheibe Fleisch im Sandwich verdrängt.

 

Dr. Kägi unterbrach ihn in seinem Nachdenken: «Von meiner Seite her sind wir fertig, mehr habe ich für den Moment nicht. Von mir aus können Sie Mittagessen gehen.»

 

«Wie können Sie jetzt ans Essen denken!» Köppel tippte mit seinem Zeigefinger an die Schläfe.

Auch Aemisegger war nicht nach Essen zumute.

«Abgeschlachtet wie ein Tier …!»

«Das ist unglaublich, Chef. Und sagen Sie: weshalb verstreut ein Mörder die Knochen mitten im Wald?»

 

«Wir haben einiges zu klären! Und wir müssen verhindern, dass der Täter ein weiteres Mal zuschlägt!»