Vermisst

 

 

 

 

Kommissar Aemisegger kreuzte den gelben Kleinwagen des ulkigen Herrn, der auch heute die Baseballmütze aufhatte. Wie beim letzten Mal parkierte der gelbe Wagen auf dem Kiosk-Parkplatz. Aemisegger wunderte sich. Es war bemerkenswert, dass ein älterer Herr seine tägliche Routine durchbrach und neuerdings beim Kiosk einen Stopp machte. Vorerst beiläufig wanderten die Augen des Kommissars zum Kioskplakat.

«Was?!», murmelte Aemisegger vor sich hin. In der ersten Sekunde traute er weder seinen Augen noch seinem Verstand. Schweissperlen rannen ihm aus den Geheimratsecken. Aemisegger hoffte, dass sich seine Befürchtungen nicht bewahrheiten würden. Er brannte darauf, die Story zu lesen.

 

 

Nach einem Blick in den Rückspiegel setzte Aemisegger seinen Wagen ein paar Meter zurück. Sekundenschnell legte er den ersten Gang ein, kurbelte das Steuerrad, drückte volle Pulle aufs Gas und bog scharf links ein, fuhr dann quer über die Sicherheitslinie und parkierte direkt vor dem Kiosk. Ungeduldig sprang er aus dem Wagen und stellte sich hinter den älteren Herrn in die Reihe.

An vorderster Front lag die Tageszeitung. Die Headline stach unmissverständlich ins Auge:

 

 

Journalist spurlos verschwunden

 

 

titelte die Schweizer Tageszeitung heute. Es kam, wie befürchtet: der Journalist, von dem die Rede war, war Jürg Ambauen, der Mitarbeiter von Felix Tägli.

«Eine Zeitung bitte!» Fordernd, aber korrekt bestellte Aemisegger bei der Kioskfrau und streckte ihr das Kleingeld bereits entgegen. Er klemmte sich das Blatt unter den linken Oberarm und grüsste den Herrn mit der Dächlikappe beim Gehen.

«Der Herr Kommissar, seid gegrüsst!»

Woher der Herr wohl wusste, dass er Kommissar war? Mit einem verschmitzten Lächeln sah der kleine, kurlige Mann zu ihm hoch. Vielleicht hätte er sich vorher die Krümel aus den Mundwinkeln abwischen sollen.

 

 

Wieder im Wagen angekommen sog Kommissar Aemisegger jedes Wort förmlich aus dem Artikel auf:

 

 

Jürg Ambauen, Journalist unserer Tageszeitung, ist seit letztem Dienstag spurlos verschwunden. Der 34-Jährige recherchierte im Mordfall Lukas Brennwald (Anm. d. Redaktion: wir haben vor einigen Wochen darüber berichtet). Wie Ambauen gegenüber dem Chefredaktor kurz vor seinem Verschwinden erwähnt hatte, verfolgte er eine heisse Spur. Er wurde am Dienstagabend kurz vor 18 Uhr zuletzt auf der Redaktion gesehen. Gemäss seiner Ehefrau sei er am selben Abend nicht nach Hause gekommen. Seither fehlt von ihm jede Spur. Die Polizei sucht Zeugen. Wer ihn nach 18 Uhr gesehen oder anderweitige, sachdienliche Hinweise hat, meldet sich bei Kommissar Köppel von der Kantonspolizei Zürich.

 

 

Es folgte eine Personenbeschreibung von Jürg Ambauen, daneben ein Foto von ihm.

 

 

Entsetzt legte Aemisegger die Zeitung auf den Nebensitz. Er befürchtete sofort das Schlimmste. Er hatte Ambauen nicht aus Konkurrenzdenken oder einfach aus einer Laune heraus davor gewarnt, selbst Detektiv zu spielen. Dann schoss es ihm durch den Kopf: Was hatte überhaupt Köppel damit zu tun? Und weshalb war er, Aemisegger, über die Situation nicht im Bild? Der Kommissar wählte sofort die Nummer seines Assistenten Köppel und wollte ihn zur Rede stellen.

 

 

«Köppel, Morgen, sind Sie wahnsinnig? Ich erwarte sofort eine Erklärung!»

«Guten Morgen erst einmal. Bitte, wovon sprechen Sie?»

«Haben Sie die Zeitung gelesen?»

«Kommt drauf an welche, die Gratiszeitung ja, die lag im Zug. Habe ich was darin überlesen?»

«Ich spreche nicht von der Gratiszeitung!»

«Ach so. Nein, eine weitere Zeitung habe ich noch nicht gelesen. Ich bin eben erst im Präsidium angekommen.»

Aemisegger wunderte sich massiv über die lockere Haltung, die Köppel unter diesen Umständen an den Tag legen konnte.

«Ambauen ist verschwunden! Was wissen Sie darüber?»

«Aemisegger, wenn Sie mich weiterhin so anbrüllen, lege ich den Hörer auf! Und sowieso: ich habe Ihnen eine Nachricht hinterlassen! Chefredaktor Tägli hat gestern bei uns angerufen. Sie waren bereits aus dem Haus und daher habe ich mit ihm gesprochen. Dienst nach Vorschrift, mehr nicht.»

«Wie meinen Sie, Nachricht hinterlassen? Sie hätten mich informieren müssen!»

«Worüber denn?»

«Na, dass Ambauen verschwunden ist.»

«Das habe ich doch, Chef. Ich habe versucht, Sie telefonisch zu erreichen und – weil das nicht klappte – auf Ihrer Combox eine Nachricht hinterlassen, wie bereits gesagt. Und zur Sicherheit habe ich Ihnen zusätzlich eine E-Mail geschrieben!»

Aemisegger verstummte. Er erinnerte sich in diesem Moment, dass er eine noch nicht abgehörte Meldung auf seiner Combox hatte. Anstatt darauf einzugehen, fragte er Köppel in einem sanfteren Ton: «Was hat Tägli gesagt?»

«Nicht viel. Er erwähnte, dass Ambauen auf Recherche war und spurlos verschwunden sei. Nachdem ich Sie nicht erreichen konnte, habe ich ihm für den Zeugenaufruf unseren Kontakt angegeben.»

«Das war alles?», fragte ihn Aemisegger ungläubig.

«Ja. Leider liegen Felix Tägli keine Details über die Recherchearbeit von Ambauen vor. Er wusste nicht einmal, wohin er an diesem Dienstagabend gefahren war. Ambauen hätte ihm gegenüber nur erwähnt, dass er einer heissen Spur folge.»

«Ambauen hätte wissen müssen, dass das unsere Arbeit ist! Es wäre seine verdammte Pflicht gewesen, uns zu informieren! Und überhaupt, wie stehen wir denn da!» Aemisegger konnte sich nicht einkriegen.

«Das habe ich Tägli auch gesagt.»

«Hören Sie, Köppel, tragen Sie alle Fakten zusammen und schreiben Sie einen Bericht. Ich bin in dreissig Minuten im Präsidium.»

«Okay, Chef. Bis später.»

 

 

Nachdenklich sass Aemisegger im Wagen. Welcher Spur war Jürg Ambauen gefolgt? Und weshalb wusste er, Aemisegger, nichts von dieser Spur? Eines war gewiss: das war erst der Anfang. Der Anfang von einem Drama, das gerade begann, seinen Lauf zu nehmen.