Leibesspeise
Kommissar Aemisegger war seit einer halben Stunde nicht erreichbar und der Feierabendverkehr nervtötend obendrauf. Carla Fuchs und Kommissar Köppel beeilten sich, um zum Hof von Lex Reinwarth zu gelangen. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis sie endlich den Stadtrand erreicht hatten und zügiger fahren konnten. Endlich kamen sie zur Verzweigung und bogen links in einen Feldweg ein, der über einen kleinen Hügel führte. Von oben sahen sie den Wagen von Kommissar Aemisegger.
Köppel parkierte direkt daneben, blieb einen Moment sitzen und überblickte das Hofgelände. Dann stiegen sie aus. Still war es hier. Kein Lebewesen zu sehen oder zu hören. Carla Fuchs ging, ohne ein Wort an Köppel zu verlieren, den Weg hinüber zur Scheune. Köppel folgte ihr kopfschüttelnd. Ihm war nicht wohl bei der Sache.
«Köppel, kommen Sie, schauen Sie!», flüsterte ihm die Detektivin zu. Sie klebte am Fenstergitter und starrte in den Innenraum. Nun erblickte auch Köppel das Metallgestell, das einer Liege ähnelte, in der Raummitte. Die Werkzeuge, die Fässer und das gespannte Leinensystem unter der Decke. Schnell wandte er den Blick ab: «Was ist das, Frau Fuchs?»
«Ein Schlachtraum. Mein Gott, haben Sie nicht die beiden hängenden Körper gesehen?»
«Oh, Mann, ist das hässlich!» Köppel hielt sich den Magen, um sich nicht wieder übergeben zu müssen. Die Detektivin stupste ihn: «Köppel, wir müssen da rein!»
«Niemals gehen wir da rein! Nicht ohne Verstärkung. Was das wohl für Körper sind, die dort hängen?»
«Fragen Sie nicht. Sie denken dasselbe wie ich. Wir brauchen Beweise und die finden wir dort drin!» Carla Fuchs war aufgeregt.
«Bei Ihnen ist wohl ein Warnsignal im Kopf ausgestiegen. Ich bin doch nicht wahnsinnig!»
«Ein Weichbecher sind Sie, Herr Köppel. Niemand scheint dort drinnen zu sein.»
«Ja, genau. Wo ist Herr Aemisegger?»
Beide schauten auf ihr Handy und schauten sich dann an: «Kein Empfang.»
Wieder spähten sie durch das Fenstergitter. «Fotografieren Sie, Köppel! Wir brauchen Beweise!»
Nur nicht nachdenken. Köppel knipste und knipste.
«Jetzt schauen wir nach Aemisegger! Womöglich ist er in Gefahr.»
«Ja, das sollten wir. Wenn er nicht auch schon am Fleischhaken hängt!» Carla Fuchs zeigte auf die beiden Körper in der Scheune. Galgenhumor, anders konnte man die Bemerkung von Carla Fuchs nicht nennen. Köppel erblasste und schluckte schwer. «Denken Sie wirklich, dass …» Er brach ab.
«Nein, Köppel. Ich denke, wir sollten keine Zeit verlieren.»
Sie gingen den Weg zurück und trafen auf eine Feuerstelle, die mit Steinen eingekreist war. Abrupt blieben sie stehen; sie sahen die Knochenteile im Innenkreis liegen. «Das ist auch nicht Herr Aemisegger, dafür ist das Feuer zu lange erloschen», sagte die Detektivin kühl und starrte auf den Kochtopf, der unachtsam danebenlag. Köppel und die Detektivin verstummten. Wieder dachten sie zur selben Zeit dasselbe. Mulmig war ihnen zumute hier draussen in der Pampa, ganz ohne Empfang und ohne zu wissen, wo Kommissar Aemisegger steckte.
Eilig packte Köppel einige Knochen in einen Beutel. Die Angst, dass auch sein Chef sich in den Fängen der Bestie befinden könnte, liess ihn am ganzen Leib zittern. Die Detektivin griff mit einer leisen Vorahnung nach dem Kochtopf.
Anschliessend eilten sie zurück zum Wagen, um die Beweise sicher wegzupacken.
Als Köppel die Wagentür zuknallte, rief ein Mann aus dem Fenster im Obergeschoss: «Ach, der junge Kommissar! Hallo, Herr Köppel, wie schön, dass Sie auch noch gekommen sind!»
Carla Fuchs befand sich auf dem Hintersitz. Der Mann am Fenster konnte sie nicht sehen. Sie versteckte sich und lauschte Köppels Reaktion.
«Guten Tag. Sie sind Herr Reinwarth, der Nachbar von Remo Iseli und Lukas Brennwald. Ist das richtig?», hörte sie Köppel mit gespielt fester Stimme antworten.
«Richtig. Wollen Sie nicht lieber reinkommen?»
«Nein, danke. Wir sind hier… also… ich bin hier, um Kommissar Aemisegger abzuholen. Ist er bei Ihnen?»
«Richtig, das ist er.»
Köppel konnte nicht beurteilen, ob das gut oder schlecht war.
«Könnte er kurz rauskommen?»
«Ich werde es ihm ausrichten. Einen Moment bitte. Warten Sie!»
Aufgewühlt setzte sich Köppel bei offener Wagentüre auf den Fahrersitz. Fuchs flüsterte ihm zu: «Köppel, Sie müssen noch einmal zur Feuerstelle. Wir haben etwas vergessen!»
«Aber ich habe doch die Beweise eingesammelt!», flüsterte er zurück.
«Nein, wir haben in der Eile den Kot liegenlassen, der neben den Knochen lag.»
Köppel musste sich arg zusammenreissen, um nicht sein Mittagessen auf den Boden zu kotzen. Doch er sah ein, dass Carla Fuchs recht hatte und eilte noch einmal zur Feuerstelle. Schnell war er mit den Proben wieder zurück im Wagen. Gerade zur selben Zeit, als Aemisegger, Reini und Remo Iseli aus dem Haus traten.
Aemisegger verabschiedete sich beinahe überschwänglich von Reini. Dann drehte er sich noch einmal zu Remo Iseli um und fragte ihn: «Wollen Sie sicher nicht mitfahren? Wir können Sie gerne bei Ihnen zu Hause absetzen. Und wegen dem Marihuana machen Sie sich keine Sorgen. War ja nur ganz wenig für den Eigengebrauch. Kommen Sie, steigen Sie ein!» Man hörte die dringende Aufforderung in seinem Unterton. Doch Remo Iseli wollte bei Reini bleiben. «Danke, Herr Kommissar, aber ich übernachte bei Reini. Voll abenteuerlich hier, finden Sie nicht auch?»
«Ich kann Sie leider nicht zwingen. Aber bitte, kommen Sie mit uns!»
Aemisegger sah das breite Lächeln in Reinis Gesicht. Wie gerne hätte er Iseli am Schopf gepackt und in seinen Wagen gesteckt. Vorhin, als sie einen kurzen Moment allein im Raum gewesen waren, hatte er Remo Iseli zugeflüstert, Reini könnte ein Mörder sein. Aber Iseli hatte nur gelacht und ihm den Vogel gezeigt.
Aemisegger stieg in seinen Wagen und gab Gas, um dicht hinter Köppel und Carla Fuchs zu bleiben.
«Bin ich froh, sind wir hier heil rausgekommen!», sagte Köppel erleichtert.
«Sie sagen es, Köppel. Und ich bin froh, haben wir die Beweise dabei. Sie haben die Knochen und den Kot, und ich habe den Topf hier für Dr. Kägis Labor. Wenn der Kot identisch sein sollte mit dem von der Waldhütte, könnte es für Lex Reinwarth eng werden.»
Wieder auf der Hauptstrasse, wieder in zivilisierter Gegend, parkierten sie die Wagen nebeneinander bei einem Rastplatz.
«Herr Aemisegger, wir sind sehr froh, dass Sie noch am Leben sind!» Carla Fuchs fiel dem Kommissar beinahe um den Hals.
«Ich auch», sagte dieser mit belegter Stimme. «Ich habe unvorsichtig gehandelt und dabei Glück gehabt. Kritisch war es schon. Der Perverse hat mir die Waffe unbemerkt entwendet. Er hat Remo Iseli und mir eine Fleischplatte serviert. Wir mussten davon kosten. Es gab Schinken, geräucherten Aufschnitt und gekochtes Hirn. Ich muss gleich kotzen, Frau Fuchs!»
Köppel rief dazwischen: «Wir haben Remo Iseli in den Fängen der Bestie gelassen!»
Fuchs nickte Köppel zu und sagte zu Aemisegger: «Was ist mit Ihrer Waffe?»
«Die Pistole habe ich wieder. Er meinte, es hätte ihn nur gestört, wenn ich eine Waffe trüge. Ich wolle hier ja keinen umbringen. Kurz bevor ich ging, hat er sie mir mit seinem Scheisslächeln wieder in die Hand gedrückt. Entschuldigen Sie, ich kann nicht mehr anders, die Vorstellung, dass ich dort vielleicht Menschenfleisch gegessen habe…. Ich muss kotzen.»