Noch ein Skelettfund
Der Morgen auf dem Präsidium verlief ohne nennenswerte Ereignisse. Wenigstens trudelten nach und nach die Ergebnisse bezüglich weiterer Skelettfunde ein. Die Meldungen waren von allen Seiten dieselben: keine Knochenfunde. Um 16 Uhr läutete das Telefon im Kommissariat erneut. Endlich kam Bewegung in die Sache: Am Telefon meldete sich die Zuständige der Kantonspolizei Basel mit wichtigen Informationen. Und diese fuhren dem Kommissar in die Knochen.
In Süddeutschland, unmittelbar vor der Schweizer Grenze, waren vor ein paar Monaten bei einer abgelegenen Feuerstelle Knochen, Zähne und winzige Metallstücke – vermutlich Füllungen – gefunden worden. Offensichtlich hatte dort jemand Teile eines menschlichen Körpers verbrannt. Ein Orientierungsläufer hatte den Fund der örtlichen Polizeistelle gemeldet. Vom Täter fehlte jede Spur. Die Grenzpolizei war damals mit der Basler Kantonspolizei in Kontakt getreten.
«Chef, was ist los?»
Im ersten Moment erschrak Köppel, seinen Vorgesetzten in einer derart miesen Verfassung vorzufinden. Sein Gesicht war mit Sorgenfalten gezeichnet, das Haar zerzaust. Aemisegger lehnte in seinem Stuhl und fixierte einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand. Auf Köppels Frage reagierte er erst gar nicht, dann aber nickte er und starrte wieder apathisch an die Wand. Köppel war irritiert. Sehr sogar. Es interessierte ihn brennend, was sein Chef im Gespräch mit der Kripo Basel vernommen hatte.
«Gibt es Neuigkeiten, Aemisegger?», bohrte Köppel nach.
Aemisegger nickte. Das war alles.
«Und?»
Anstatt eine Antwort zu geben, schüttelte Aemisegger den Kopf und meinte lediglich: «Was für ein Tag!»
«Wissen Sie was, Herr Aemisegger? Wenn Sie mich nicht gleich informieren, rufe ich die Zuständige der Basler Kantonspolizei selber an. Sie haben doch eben mit Basel telefoniert, oder?»
«Hetzen Sie mich nicht, Köppel! Die schlimmsten Befürchtungen sind eingetroffen. Und wissen Sie was? Weder Opfer noch Täter konnten ausfindig gemacht werden. Die deutschen Kollegen stehen am gleichen Punkt wie wir. Am Nullpunkt.»
Köppel versuchte, sich einen Reim zu bilden. Sein Gehirn schaltete schnell: Offenbar hatte Aemisegger von den Basler Kollegen von einem Knochenfund in Deutschland erfahren. Soweit konnte er die verschlüsselte Aussage seines Chefs interpretieren.
«Scheisse. Das heisst, es gab einen Knochenfund in Deutschland? Und die Kollegen von dort haben mit Basel telefoniert?»
«Ja. Menschliche Überreste wurden unmittelbar bei der Grenze aufgefunden. Der Fall liegt einige Monate zurück. Verstehen Sie eigentlich, was da geschieht? Es treibt sich ein hochkranker Mensch in der Gesellschaft rum!»
«Ja, so scheint es zu sein.» Köppel war nachdenklich geworden. «Gibt es Informationen zum Opfer in Deutschland?»
«Wie gesagt, die Identität ist bis heute unklar. Offenbar wurde das Opfer von niemandem vermisst. Dem Untersuchungsbericht zufolge handelt es sich um einen Mann um die 35. Seine Körpergrösse wurde auf 1 m 75 geschätzt. Anhand der Füllungen geht man davon aus, dass er sich bei einem deutschen Zahnarzt die Zähne hatte flicken lassen. Die Polizei vermutet daher, dass es sich um einen Deutschen handelt, wobei sie nicht ausschliessen, dass der Tote ein Schweizer war, der jeweils über die Grenze zu einem deutschen Zahnarzt ging.»
«Ist das alles?»
«Ich befürchte ja.»
Wut stieg in Köppel hoch. «Wir müssen diesen Perversen zur Strecke bringen und die Gesellschaft vor ihm schützen!»
«Natürlich, Köppel. Nur haben wir im Moment nicht den kleinsten Anhaltspunkt, was mit den Opfern geschehen ist und wissen nicht, weshalb jemand diese Taten verübt hat! Wir wissen noch nicht einmal, ob es sich um denselben Täter handelt. Vielleicht haben wir es sogar mit einem Serientäter zu tun. Oder eine Organisation steckt dahinter? Sie sehen – gar nichts wissen wir! Das einzige, was klar ist: wir müssen weitere Morde verhindern und den Täter rasch finden!»
«Ein Serientäter!» Köppel schoss wie von der Tarantel gestochen hoch. Ein Geistesblitz ging ihm durch den Kopf: «Wir müssen die Medien, und damit die Leute, informieren!»
«Daran habe ich soeben auch gedacht.» Aemisegger stand auf und ging gedankenversunken an Köppel vorbei zum Kaffeeautomaten im Korridor.
Köppel war wie elektrisiert: «Ein Medienaufruf könnte hilfreich sein. Die Bevölkerung wäre gewarnt. Die Bevölkerung muss sofort gewarnt werden!»
«Zum Schutz der Bevölkerung, aber auch, um allfällige Zeugen anzusprechen –wobei ich nicht nur ein gutes Gefühl bei diesen Gedanken habe.»
«Wieso kein gutes Gefühl?»
«Überlegen Sie, Köppel. Zum einen sollten wir im Volk keine schlafenden Hunde wecken. Panik könnte ausbrechen. Wie würden Sie sich fühlen, wenn bei Ihnen ein Killer um die Häuser zieht? Und zum Zweiten: wir kennen unseren Mörder nicht. Wenn der Täter nach Aufmerksamkeit lechzt, würde er sich durch einen Medienbericht bestätigt fühlen. Es könnte ihm sogar gefallen, und ein Bericht könnte ihn in seiner Mordlust kitzeln und zu weiteren Verbrechen animieren.»
«Zum Ersten: der Killer zieht um die Häuser, und es ist unsere Pflicht, die Bevölkerung zu informieren! Was muss denn noch passieren? Er könnte so oder so weitere Morde begehen.»
«Das ist korrekt. Es sind vermutlich bereits zwei Fälle innerhalb eines Jahres.»
«Ohne die Medien werden wir ihn niemals aufspüren. Ausser er macht einen Fehler. Ein Zeugenappell könnte hilfreich sein. Irgendjemand könnte ihn beobachtet haben oder der Mörder selbst hat in seinem Umfeld mit den Taten geprahlt.»
«Ich bin noch nicht schlüssig.»
Köppel überlegte und folgerte sogleich: «Chef, wir müssen die Medien informieren, wenn wir die Bevölkerung schützen wollen. In den Wald gehen kann tödlich sein!»
«Mit dem Vorwurf, dass wir nicht alles, was in unserer Macht steht, unternommen hätten, kann ich weniger gut leben. In diesem Punkt muss ich Ihnen recht geben, Köppel.»
«Sehen Sie.»
«Köppel, wir haben keine Alternative. Suchen Sie mir sofort die Nummer der Schweizer Tageszeitung heraus. Ich setze mich gleich mit dem Chefredaktor in Verbindung.»