Mana - innewohnende Lebenskraft
Bei Carla Fuchs drehte sich alles um die gestrige Auseinandersetzung mit dem Persönlichkeitsprofil des Mörders. Die Idee, dass es sich beim Täter um einen Kannibalen handeln könnte, nagte an ihr. Den Umgang mit solchen Menschen würde sie auf jeden Fall meiden. Es erstaunte sie, dass sie gestern so leichtfüssig mit Aemisegger über die Aspekte des Kannibalismus zu diskutieren vermocht hatte. Womöglich lag es an ihrem rationalen Denkvermögen und daran, dass es sich um Informationen und Mythen aus vergangenen Zeiten handelte.
Doch jetzt, wo das Thema im Raum stand, die Realität mit beiden Fäusten anklopfte, dehnte sich in ihr ein unbehagliches Gefühl aus. Ihr war angst und bange bei der Vorstellung, der Täter würde seine Opfer gnadenlos abschlachten, um sie anschliessend zu frühstücken. Es wäre ihr noch so gelegen gekommen, wenn sie sich dieses eine Mal irren und sich die Idee vom Kannibalen als Hirngespinst herausstellen würde. Wo waren sie da nur hineingeraten? Der Gedanke an das menschenfressende Monster liess sie frösteln.
Die Detektivin griff eilends nach dem Hörer, um ihren Auftraggeber, Chefredaktor Felix Tägli, anrufen. Auch wenn es ihr widerstrebte; sie musste ihn um einen Gefallen zu bitten.
«Guten Morgen, Carla, so früh schon auf Zack?»
«Tut mir leid, Felix, störe ich dich gerade, soll ich dich später anrufen?»
«Auf keinen Fall. Ich warte seit Tagen auf deinen Anruf. Gibt es Neuigkeiten, habt ihr den Mörder von Jürg gefasst?»
«Leider noch nicht. Wir verfolgen immerhin einen Ansatz. Wie soll ich dir das erklären? Ich habe mich gestern mit Herrn Aemisegger zum Abendessen getroffen. Wir haben uns länger über den Fall unterhalten. Felix, ich muss sicher sein, dass das, was wir besprechen, unter uns bleibt. Alles, was ich dir jetzt erzähle, musst du für dich behalten.»
«Sicher, Carla. Von mir erfährt niemand nur ein Wort.»
«Nun, ich möchte dich nicht überrumpeln, wie gesagt, es ist nur eine Vermutung. Wie du weisst, wurden in allen drei Fällen die Knochen von Männern gefunden. Ich rede nicht lange um den heissen Brei herum: ich glaube, wir haben es mit einem Täter zu tun, der sich die Opfer für seine Rituale aussucht.»
«Was für Rituale meinst du, Carla?»
«Er schlachtet seine Opfer, um sie anschliessend zu verschlingen.»
Da Fuchs am anderen Ende des Telefons keinen Laut vernahm, redete sie ungehindert weiter: «Ich weiss, es ist schwer nachzuvollziehen. Aber was, wenn es so ist? Immerhin wäre es eine logische Erklärung dafür, weshalb wir von allen Opfern Knochen mit bestimmten äusserlichen Veränderungen gefunden haben; Knochen, von denen das Fleisch entfernt, mit einem bestimmten Werkzeug abgeschabt worden war. Die Verteilung der Knochen im Wald deutet für mich auf ein Ritual hin. In seinem hoffentlich letzten Mord hat der Täter darüber hinaus noch seine Trophäen, die Knochen, so auffällig entsorgt, das war bestimmt keine Nachlässigkeit. Der Täter wollte, dass die Polizei seine Tat entdeckt.»
Felix Tägli atmete schwer. Er brauchte einige Sekunden, bis er wieder bei der Detektivin war.
Nicht in seinen finstersten Gedanken hätte er mit einer Story wie dieser gerechnet. Ein Skandal der perversesten Art. Er dachte an Jürg Ambauen. Hoffentlich hatte er wenigstens nicht leiden müssen, hoffentlich nicht.
«Warum hat er mit mir nicht darüber gesprochen!», fluchte der Chefredaktor. Felix Tägli stand am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Er fühlte sich mitverantwortlich, nein, er fühlte sich schuldig am Tod seines Mitarbeiters.
«Sprichst du von Jürg Ambauen, Felix?»
«Ich habe Schuldgefühle, verstehst du das, Carla?»
«Wenn du deinen Mitarbeiter nicht selber umgebracht hast, sind Schuldgefühle fehl am Platz, Felix. Wir müssen vorwärts schauen! Lass jetzt bloss nicht den Kopf hängen. Dazu haben wir keine Zeit. Darf ich dich um etwas bitten?»
«Jederzeit, Carla.»
«Felix, ist der Arbeitsplatz von Jürg Ambauen schon geräumt? Nein? Da bin ich sehr erleichtert: Ich bin mir fast sicher, dass sich irgendein Indiz am Arbeitsplatz von Jürg Ambauen befinden muss. Etwas, das so unauffällig und normal scheint, dass ihm die Spurensicherung keine Bedeutung zugemessen hat. Könntest du noch einmal den Arbeitsplatz von Jürg Ambauen durchsuchen?»
«Was meinst du denn, wie oft ich schon am Arbeitsplatz von Jürg war und dort gesucht habe, nach irgendeinem Hinweis, irgendeinem Fetzen? Ich habe diesen verdammten Arbeitsplatz schon stundenlang durchsucht und absolut nichts gefunden!»
«Wenn es dir lieber wäre, komme ich zu dir auf die Redaktion und schaue mich selbst mal um.»
«Nein, nein, Carla. Entschuldige, war nicht so gemeint. Du kannst mich natürlich immer besuchen kommen, aber ich selbst werde seinen Platz noch einmal – zum wohl hundertsten Mal - checken.»
«Danke, Felix. Offen gestanden, es ist unsere einzige Spur. Stell die ganze Redaktion auf den Kopf! Ich bin überzeugt, dass du etwas finden wirst.»
Carla Fuchs legte auf und wandte sich wieder ihrem Laptop zu. Sie hoffte, im Internet weitere Informationen über Rituale zu finden. Sie war bestrebt, sich in das Denkmuster des Täters hineinzuversetzen, um seine nächsten Schritte erahnen zu können. Ihre Handlungsunfähigkeit quälte sie; suchte sie zu weit, lag die Wahrheit viel näher, als sie dachte? Schliesslich hatte jedes komplexe Konstrukt einen simplen Kern. Und genau den galt es für sie zu ergründen.
Auch wenn sie über die Existenz des Kannibalismus Bescheid wusste, die Hintergründe, also weshalb jemand Vorliebe für das Fleisch von Artgenossen hatte, blieben ihr verborgen. Sie war überzeugt, dass der Mensch nicht ohne weiteres einen Homo sapiens töten und verspeisen konnte. Sie selbst hatte eine unüberwindbare Barriere in sich. Nicht nur der Sitte wegen. Es mussten bestimmte Grundzüge vorhanden sein, die solche Schandtaten zuliessen. Nachvollziehbar war es für Fuchs nicht und den Täter einzuschätzen, war für sie ein Ding der Unmöglichkeit. Sie fragte sich, nach welchem Massstab ein solcher Mensch urteilte und wie seine Weltanschauung sein könnte. Was war für ihn normal oder nicht normal, was richtig oder falsch?
Es bestürzte sie zunehmend, je länger sie darüber nach dachte. Vielleicht war es ein spezieller Kick für den Täter, einen Menschen zu töten, um ihn zu essen. Auch nicht das Wissen über die Verbote und Gesetze schien ihn abzuschrecken. Dieser Mensch setzte sich über alles hinweg: über Sitte, Ethik, Moral und über die Gesetzgebung.
Offenbar existierten unterschiedliche Wahrheiten. Die Strukturen verwässerten und es blieb im Auge des Betrachters, ob Schwarz schwarz war und Weiss weiss.
Die Detektivin gab online einige Begriffe in die Suchmaschine ein, die zum Zusammenhang passten. Der eine Artikel im Internet zog sofort ihre Aufmerksamkeit auf sich:
Ärzte und Apotheker in Europa schworen auf die magische Energie von frisch Getöteten. Im frisch Getöteten wohne Magie inne.
Danach hatte sie gesucht. Carla Fuchs stellte fest, dass sie selber sich in einem inneren Zwist befand. Bestürzung wechselte sich mit Neugier und der Ablehnung des Widerwärtigen. Die Neugier trieb sie an, alles Mögliche über Kannibalen zu erfahren. Dem gegenüber standen wiederum die Ethik, die Moral sowie die Frage, was denn Normalität für einen Kannibalen bedeutete.
Erschreckend war für sie die Erkenntnis, dass der Handel mit Mumien und Leichenteilen ein umsatzstarker Wirtschaftszweig in Europa gewesen war, der vielen ein Einkommen beschert hatte. Davon hatte sie bislang nichts gewusst. Sie las, dass das Fleisch von jüngeren Menschen, vorzugsweise Männern, auf dem Markt besonders gefragt und teilweise hoch bezahlt gewesen war.
Sie war ja schon eine taffe Frau, so schnell konnte ihr keiner etwas vormachen. Doch in diesem Moment brauchte selbst die Detektivin Abstand zum Thema. Schliesslich war sie auch nur ein Mensch. Sie war der Meinung, dass es für die Menschheit eine Riesenkatastrophe wäre, wenn der Kannibalismus sich wieder verbreiten würde. Damit wollte sie sich grundsätzlich nicht weiter auseinandersetzen.
Loslassen und an etwas anderes denken ging dann aber auch nicht, und so setzte sich Carla Fuchs wieder zurück an ihren Computer. Nach kurzer Zeit des Recherchierens stiess sie auf den Begriff Mana. Die Detektivin las alles darüber, was sie im Internet finden konnte. Nach den Vorstellungen einiger Völkerstämme existierte in jedem Lebewesen, in jedem Menschen, jedem Tier und jeder Pflanze, ja selbst in jedem Stein, das Mana. Es wurde als Lebenskraft beschrieben, als Kraft der Seele, die allem innewohnt. Mana war vielleicht das, was die altchinesische Philosophie als Qi bezeichnete. Eine Lebenskraft, die nur begrenzt messbar, die vielmehr eine Sache des Glaubens und der Vorstellung war.
Die Detektivin las unter einem anderen Link:
„In der Neuen Welt ging es den Europäern um den quasi magischen Verzehr von
Vitalkraft. Ausserhalb Europas hatte die Person, die ass, zu der Person, die gegessen wurde, fast immer eine persönliche Beziehung. Umgekehrt in unseren Breitengraden: Europas Kannibalismus ist „ausgesprochen asozial“ gewesen: Was zählte, war Qualität; menschliche Körperteile waren Handelsware, gekauft und verkauft, um Profit zu machen.“
Das Telefonklingeln holte sie aus der gedanklichen Tiefe. Sie war labil und schreckhaft geworden. Erleichtert erkannte sie die Stimme des Chefredaktors. Felix Tägli war hörbar aufgeregt: In der Garderobe sei ihm plötzlich die grüne Strickjacke aufgefallen, klar, die war ja noch von Ambauen. In der Seitentasche habe er eine Visitenkarte von einem Präsidenten eines mittelalterlichen Vereins gefunden. Ambauen selbst war ein moderner Typ gewesen. Wäre er dem Mittelalter nachgehangen, hätte Felix Tägli das gewusst. Oder es wäre ein neu entflammtes Interesse gewesen, was auch von Bedeutung sein konnte. Wie auch immer – der Chefredaktor war ganz aufgeregt, als er der Detektivin von seinem Fund berichtete, und auch davon, dass auf der Rückseite dieser Karte ein Termin notiert war. Allerdings lag das Datum etwa zwei Wochen vor dem Verschwinden von Ambauen, doch das musste nichts bedeuten.
«Was denkst du, Carla, war dieser Präsident vielleicht der Mörder?»
«Sicher, möglich wäre es. Toll, Felix, endlich haben wir eine Spur!»
«Hast du etwas zum Schreiben bei dir? Ich gebe dir am besten die Telefonnummer.»
Fuchs notierte sich die Kontaktdetails, legte auf, um spontan die Nummer anzurufen, die sie von Felix Tägli erhalten hatte. Nach dem dritten Klingeln meldete sich ein Mann mit barscher Stimme: «Ritler».
Sie verabredeten sich für den kommenden Dienstag im Vereinslokal in Illnau.
Das Seltsame war nur, er wollte noch nicht einmal wissen, worum es ging.