Der Schädel im Paket
Kommissar Köppel biss wieder einmal herzhaft in sein Schinkensandwich – sozusagen seine Hauptmahlzeit während der Arbeit - und fixierte den Bildschirm des Computers. Das Gefühl, ein Versager zu sein, beschlich ihn zunehmend. Das ständige Nachfragen seines Vorgesetzten, ob sich etwas im Fall Ambauen getan hätte, setzte ihm unnötig zusätzlichen Druck auf. Was hätte er daran gesetzt, den Vermissten mit einem Fingerschnipp hervorzuzaubern? Aber das ging ja nicht. Und sowieso, er musste gleich los zu einem Ausseneinsatz und hoffte, dass Aemisegger ihm gute Neuigkeiten überbringen werde, sobald er im Büro zurück war.
Eine Überraschung erwartete Kommissar Aemisegger als er seine Frühschicht antrat: Ein gelbes Postpaket lag vor ihm auf seinem Schreibtisch. Als ob der Tisch nicht sonst schon überladen genug gewesen wäre. Adressiert war das Paket nicht. Lediglich ein Kleber haftete darauf, in Computerschrift stand geschrieben: «Mordkommission, Polizeiposten Zürich.»
Aemisegger war misstrauisch, er erwartete nicht, dass es ein Geschenk der erfreulichen Art sein würde. Da hätte er einen anderen Beruf ausüben müssen, Arzt vielleicht.
Er begann, die Schnur vorsichtig durchzutrennen und das Paket zu öffnen.
«Was ist das denn?!»
Das Paket enthielt einzelne Teile. Aemisegger war neugierig geworden. Er steckte den Kopf tiefer hinein. Abrupt schoss er gleich wieder hoch und stiess das Paket mit einem kräftigen Schubs weg, nach rechts, die Papiere und Akten am äussersten Rand des Schreibtisches fielen als erste auf den Fussboden, dann der Stapel Pendenzen und schliesslich kippte auch das Paket über den Rand. «Verstärkung!», rief Aemisegger. Doch im Moment war ausser ihm niemand anders auf dem Polizeiposten.
Jemand hatte sich einen grausamen Scherz erlaubt - nein, einen Scherz konnte man das nicht wirklich nennen, korrigierte sich Aemisegger. Jemand hatte ihm einen Schädel und Finger-und Zehenknochen geschickt. Er war sofort überzeugt: Der Mörder von Lukas Brennwald war der Absender dieses Paketes. Selbst für ein Kind wäre sofort klar gewesen, dass es sich hier um menschliche Knochen handelte. Aemisegger war so entsetzt, dass er eine Weile regungslos auf seinem Stuhl sitzenblieb. Fragen über Fragen. Waren es weitere Knochen von Lukas Brennwald? Wobei, sie hatten seinen Schädel und Finger-und Zehenknochen eingesammelt. Wem gehörte dieser Schädel hier? Und warum sandte der Mörder ihm ein Paket?
Köppel kam zwei Stunden später von seinem Ausseneinsatz ins Büro zurück. Als er an Aemiseggers Büro vorbei ging, rief er seinem Chef fröhlich zu: «Morgen Aemisegger, haben Sie etwas vom Journalisten gehört?»
Die Frage fuhr Aemisegger voll ein. Waren das die Knochen von Jürg Ambauen? Seine Frustrationsgrenze war erreicht. Mehr ging nicht, das Limit war erreicht - dachte er zu diesem Zeitpunkt.
Nach einigen Sekunden antwortete er knapp: «Möglich.»
Köppel war sich nicht sicher, ob Aemisegger ihn reizen wollte.
«Wie bitte?», fragte Köppel nach und blickte skeptisch zu ihm hinüber.
«Wie soll ich sagen, Köppel…» Aemisegger trat ungewohnt verwirrt auf. Man erkannte die Zerstreutheit an seinem Stirnrunzeln und den durcheinander gewirbelten Haaren, aber vor allem an seinem Zögern. Das war nicht der Aemisegger, den Köppel kannte.
Aemisegger sprach langsam und deutlich: «Ich habe heute ein Paket erhalten.»
«Ein Paket – Sie? Haben Sie Geburtstag heute oder was habe ich verpasst?»
«Mein Geburtstag war letzte Woche, Köppel. Den können Sie für dieses Jahr abhaken. Nein. Vom Mörder von Lukas Brennwald – ich bin mir ziemlich sicher, dass er es gewesen sein muss.»
«Was denn? Das ist nicht zu glauben! Hat er den Mord gestanden?» Köppel verstand noch nicht wirklich.
«Ein Schädel und viele kleine Knochen waren drin. Ich habe das Paket bereits Kägi ins Labor gebracht.»
Beiden schossen die Gedanken wild durch den Kopf. Es war klar, was die Botschaft bedeutete: der Täter hatte wieder zugeschlagen.
Nach einer kurzen Zeit des Ordnens der wirren Gedanken setzte bei Köppel auch das Reaktionsvermögen wieder ein. Er hakte nach: «Vermuten Sie, dass die Knochen im Paket diejenigen des vermissten Journalisten waren?»
Aemisegger antwortete wiederum knapp: «Wie ich vorhin schon erwähnte, es wäre möglich.»
«Möglich ist immer alles, Chef. Das haben Sie mir beigebracht.»
«Das sind noch nicht alle Neuigkeiten: Ein Spaziergänger ist gestern Abend in einem Waldstück im zürcherischen Glatttal ebenfalls auf menschliche Knochen gestossen. Wie unser Kollege von der Stadtpolizei Dübendorf mir mitgeteilt hat, hat sich den Ermittlern ein ähnliches Bild geboten wie wir es bei unserem Fund vor einigen Wochen erlebt haben.»
«Sie scherzen?»
«Ich befürchte – nein.»
«Weiss man schon, wer das Opfer ist?»
«Ich hoffe bald. Die Knochen sind bereits im Labor und werden untersucht. Ich erspare Ihnen die Einzelheiten.»
«Sie ersparen sich selbst die Einzelheiten. Vergessen Sie es, Chef: ich will alles ganz genau wissen!» Auch wenn es Köppel fern lag, seinem Chef einen Befehl zu erteilen, das musste sein. Er saugte jedes Detail in diesem Fall in sich auf.
«Dann lesen Sie schon mal den Bericht.» Kommissar Aemisegger knallte ihm einen vierseitigen Bericht mit Fotos auf den Tisch. Geschriebenes stand nicht viel drin. Die Fotos sprachen Bände. Köppel war angespannt. Die Bilder jagten ihm einen Schrecken in die Glieder. Sie erinnerten ihn tatsächlich stark an den Fund im Zürcher Unterland, an die Überbleibsel von Lukas Brennwald. Der Schädel des Toten fehlte diesmal. Ansonsten lagen die Knochen wiederum auf dem Waldboden verstreut, eingekreist von Steinen. Teilweise waren die Knochen gebrochen, teilweise schienen sie leicht angebrannt. Kleinere Knochen – es mussten wohl Finger und Zehen sein – lagen wie achtlos daneben.
Köppel zog seine Schreibtischschublade auf und nahm die Lupe in die Hand: Beim Vergrössern einer Nahaufnahme erkannte Köppel an den abgebildeten Knochen etwas wie feine Risse oder Schnittspuren. Es lief ihm eiskalt über den Rücken.
Köppel legte seine Hand auf die Fotos und schob sie mitsamt dem Papier in Aemiseggers Richtung: «Muss ich mir das anschauen?»
«Sagte ich doch, Köppel, Sie wollten ja nicht hören.»
Beide schwiegen. So sehr sich die Kommissare wünschten, die Wahrheit über den Mord an Lukas Brennwald herauszufinden und den Mörder zu fassen und lebenslang hinter Gitter zu bringen, so sehr tappten sie im Dunkeln. Wie gelähmt sassen sie da. Sie waren dem Mörder um Schritte, um Meilen, hintennach. Das Schlimmste an der Sache war, dass sie nicht die geringste Ahnung hatten, was da vor sich ging. Ein Mensch, der Menschen tötete und ihnen das Fleisch bis auf die Knochen entfernte. Warum tat er das? War er ein Besessener?
Das Läuten des Telefons unterbrach das Schweigen. Gereizt nahm Aemisegger den Anruf entgegen. Seine Miene erhellte sich ein wenig. Gefasst sprach er in die Muschel und kam gleich auf den Punkt: «Wissen Sie schon, um wen es sich bei dem Knochenfund handelt, Kägi?»
«Guten Morgen, Herr Aemisegger. Es wird Sie erschüttern, das zu hören: es handelt sich beim Toten um den Journalisten Jürg Ambauen.»
Die Nachricht rammte Aemisegger wuchtig in die Bauchgegend. Die schlimmsten Befürchtungen waren wahr geworden. Der Kommissar schluckte schwer und Köppel wagte zu erahnen, worum es ging.
«Sind Sie sich da ganz sicher?», hakte Kommissar Aemisegger beim Mediziner nach.
«Es besteht kein Zweifel. Es war einfach, die Identität festzustellen. Wir hatten ja die Information von Ihnen erhalten, dass Ambauen vor einigen Jahren Knochenbrüche bei einem Skiunfall erlitten hatte. Zeitlich kam das mit den verheilten Knochen hin. Zudem steckten noch Schrauben im Gelenk. Diese haben wir auch schon mit dem zuständigen Krankenhaus abgeklärt. Der Chefarzt hat bestätigt, dass sich der verheilte Bruch und die Schrauben 1:1 mit den Bildern des Bruches und dem medizinischen Bericht der damaligen Operation decken.»
«Danke, Kägi, für die rasche Abklärung», sagte Aemisegger mit belegter Stimme. Der Kommissar legte den Hörer auf und Köppel verschlug es vorerst einmal die Sprache. Hilflos schaute er zu seinem Chef hinüber.
Sie hatten nun Gewissheit und schon zwei Tote.
Beide blieben lange sitzen ohne ein Wort zu sprechen. Schliesslich raffte sich Aemisegger als erster wieder auf: Köppel sollte sich auf den Weg zur Ehefrau des Journalisten machen, um sie über den Tod ihres Ehemannes zu informieren.
Aemisegger selbst fing an, auf seinem Schreibtisch die alte Ordnung wieder herzustellen, indem er seine durcheinandergeratenen Papiere sortierte. Eine Stunde später griff er schwerfällig zum Telefonhörer und wählte die Nummer des Chefredaktors Felix Tägli, um ihn zwei Wochen nach dem Verschwinden von Jürg Ambauen über den grausamen Fund zu informieren.