Albtraum Schlachtraum

 

 

 

 

Nur bei einem der drei Bauernhäuser sah er Licht durch die Gardinen schimmern. Einige Schritte entfernt stand einen weiteres Gebäude, vermutlich eine Scheune.

«Dass hier in der Pampa überhaupt Menschen leben!»

Als Stadtmensch hätte er es sich niemals vorstellen können, so abgeschieden zu hausen. Die Ruhe machte ihn hibbelig. Er zog das Pulsierende dem Landleben vor. Den Stadtkreis 5 mit seinen Beizen, Clubs und all den Leuten, die Tag und Nacht die City belebten, mochte er besonders. Dort fühlte er sich heimisch. Dort, wo die Menschen verschiedenster Natur und von ganz unterschiedlichem Status zusammenkamen. Aber hier in der Pampa war jemand vollends abgeschossen. Hier gab es noch nicht einmal eine Bäckerei oder einen Tante-Emma-Laden.

 

 

Der Journalist überlegte scharf. Dieses verlassen wirkende Gebäude, das er als Scheune deutete, wollte er sich genauer anschauen. Es hatte eine anziehende Wirkung auf ihn. Das Holztor war mit Kette und Schloss verriegelt. Durch die Risse zwischen den Holzlatten spähte er in den Innenraum. Es war stockdunkel. So sehr er sich anstrengte, das Einzige, das er sehen konnte, war ein schwarzes Loch.

 

 

«Verflucht! Was mach ich nun?»

Auch das Licht seines iPhones half ihm nicht weiter. Je länger er vor dem lotterigen Gebäude stand, umso neugieriger wurde er. Er drückte sich an die Hausfassade und begann, ihr entlang zu schleichen. Intuitiv drehte er sich noch einmal zurück. Es fühlte sich an, als ob ihm die Blicke eines Augenpaares in den Rücken stechen würden. Ambauen vergewisserte sich, dass ihm niemand gefolgt war.

 

 

Als er um die erste Ecke bog, entdeckte er ein Fenster.

«Meine Chance!»

Ambauen hoffte, dass er der Wahrheit endlich näher kommen würde. Vom Verbrechen selbst hatte er sich kein Bild gemacht. Er hatte keine Vorstellung vom Motiv des Täters. Es war ihm auch egal. Er brauchte lediglich genügend Material für seine Story. Einige Fotos würden ihm für seinen Bericht reichen. Den Rest der Arbeit sollte die Polizei erledigen. Er wünschte sich geradezu, dass der Kommissar ihn bewundern würde. Ambauen zollte ihm grossen Respekt. Obschon er sich etwas sehr aus dem Fenster lehnte, hatte er kein schlechtes Gewissen, auf eigene Faust dem Mörder auf die Spur zu kommen.

Genauso wenig fühlte er sich schuldig, in fremdes Eigentum einzubrechen. So leise wie möglich kletterte der Journalist flink über das Fenstersims in den Innenraum.

 

 

Sehen konnte er nichts, aber riechen. Es stank bestialisch.

«Booaa, ich muss gleich kotzen!»

Er atmete durch den Mund. Es ging nicht anders.

«Das stinkt nach Verwesung! Es muss der Tod persönlich sein, der hier wohnt.»

Instinktiv schossen ihm Bilder durch den Kopf. Er erinnerte sich an seine Reportage über einen völlig verwahrlosten Hof, an den Übelkeit erregenden Geruch der verendeten Rinder dort. Er überlegte, wie viele Tiere hier wohl schon ihr Leben gelassen hatten. Anders konnte er sich den Gestank nicht erklären. Doch dann kam ihm der Kannibale in den Sinn.

 

 

Es war der zweite Moment, in dem er sich fragte, ob sein Vorhaben, den Mörder auf eigene Faust zu finden, wohl richtig sei. Schon als er sich im Wald in die Hosen gepisst hatte, waren kurz Zweifel in ihm aufgekommen. Mulmig zu Mute war ihm alleweil und die genässten Jeans fühlten sich noch immer eklig an. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich zuletzt in die Hosen gemacht hatte.

 

 

Der Boden war glitschig, die Wände klebrig – sein Tastsinn funktionierte offenbar einwandfrei.

«Wonach suche ich eigentlich?»

Viel Akku hatte er nicht mehr übrig. Mit seinem iPhone leuchtete er durch den Raum. Die mit hellblauen Fliesen überzogenen Wände waren schmutzig. Die eine Wand zierte ein graffiti-ähnlicher Schriftzug aus blutroter Farbe. Oder war es Blut?

 

 

In der Raummitte entdeckte er ein metallenes Möbel. Es glich einem alten Bettgestell mit Federn. Daneben stand eine zwei Meter lange Holzkommode.

«Das sind Werkzeuge aus der Steinzeit und sie wurden mindestens so lange nicht mehr gereinigt!», brummelte er vor sich hin, während er eine verrostete Säge musterte, die neben einem Hammer lag.

«An diesen fürchterlichen Geruch werde ich mich nie gewöhnen.»

Vielleicht war es die Angst, die ihn zu Selbstgesprächen führte. Wo auch immer er hinschaute, der Anblick war das nackte Grauen.

 

 

«Fuck! Wo bin ich hier gelandet!»

Ambauen war total von der Rolle. Er vergass, Fotos zu schiessen. Er starrte von den Wänden zur Werkzeug-Kommode und von der Kommode auf den Boden und hinüber zu diesem Metallgestell. Nicht, dass es ihm an Fantasie gemangelt hätte. Aber mit so etwas hätte er nie gerechnet. Noch bis zu dem Moment, als er durchs Fenster in den Raum eingestiegen war, hatte ihn lediglich die Idee angetrieben, die Story des Jahres zu schreiben und damit den Aufstieg seiner journalistischen Karriere zu sichern.

«Was bin ich für ein Idiot!», fluchte der 34-Jährige über seine Verbohrtheit. Auch wenn er sich nicht abschliessend einen Reim darauf bilden konnte, was hier in diesem Raum vorging - der blanke Horror bekam ein Gesicht: Was er vorfand, war des Teufels Werk. Er konnte es nicht treffender formulieren.

 

 

Jürg Ambauen erlitt einen akuten Schwächeanfall. Sich zu setzen wagte er nicht, noch nicht einmal, sich an die Wand zu lehnen.

Erneut leuchtete er durch den Raum; von der Decke der blutverschmierten Wand entlang hinunter zum Boden und zurück zur Raummitte.

«Was geht hier nur ab?»

Er suchte nach Antworten, die diese Bilder verharmlosen würden. Sicher gab es eine einfache Erklärung dafür. Doch er zweifelte. Beschönigen half nichts. Schlagartig überkam ihn wieder das Grausen.

Er hörte ein Rascheln, dann ein Piepsen, aus dem hinteren Teil des Raumes. Ambauen schaffte es gerade noch zu verhindern, dass er sich ein weiteres Mal in die Hose machte.

 

 

Ängstlich rief er: «Ist da wer?»

Dann hörte er wieder das Piepsen, ein solches, wie er es von einer Maus kannte.

Erleichtert entspannte er seine Schultern und sagte grossspurig vor sich hin: «Dass es hier von Mäusen und Ratten nur so wimmelt, glaube ich sofort!»

 

 

Er ging in den hinteren Gebäudeteil, in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Der Akku war fast aufgebraucht. Er musste sich beeilen. Ohne Licht war er hier komplett aufgeschmissen.

Die Neugier liess ihn nicht ruhen: er leuchtete in den hinteren Teil des Raumes.

Der Atem stockte ihm. Alles, was er vorher gesehen hatte, war nichts gegen das, was er in den brusthohen Kübeln entdeckte. Wut, Furcht, nein Panik – er wusste nicht, welche Emotion am stärksten drückte, doch er wusste eines: was er sah, war abartig! Er hätte niemals hierher kommen dürfen!

Hätte er nur die Arbeit dem routinierten Kommissar überlassen und wäre er doch nicht so vorwitzig gewesen. Ja, das wurde ihm jetzt definitiv bewusst.

 

 

Neben den gefüllten Kübeln stand eine weitere Kommode mit moderneren Werkzeugen. Messer in unterschiedlichen Grössen und von verschiedener Beschaffenheit, Ketten und Haken lagen darauf herum. Alle in verschmutztem Zustand. Blutverschmiert. Daneben lag eine Säge, und einige Gefässe standen auf der Kommode. Das eine war mit Flüssigkeit, Blut oder Ähnlichem, gefüllt. Im Behälter daneben entdeckte er eine Art Schlauch, in Schlingen gedreht, den er beim genaueren Hinsehen als Darm identifizierte. Der Gestank war in dieser Ecke kaum auszuhalten. Ein Kühler stand einen Meter daneben. Er spähte durch die durchsichtige Abdeckung hinein: verschiedene Behälter standen darin, sie waren mit Abfall angeschrieben. Er konnte es nicht lassen, er musste einfach wissen, was da drin war. Er öffnete den Kühler und dann den Deckel eines mittelgrossen Behälters. Entsetzt und gleichzeitig fasziniert starrte er auf lose Zehen, zwei Füsse und eine menschliche Hand. Daneben zwei Augenpaare, die ihn wie ein Sperber fixierten.

Er deckte den Behälter hastig wieder zu, schloss die Abdeckung des Kühlers und machte fünf Schritte hinüber zu einer doppelt so grossen Kühltruhe. Angespannt öffnete er auch diese: kaum hatte er hineingeblickt, drehte es ihm den Magen um. Jürg Ambauen musste kotzen. Einfach nur noch kotzen. So sehr ekelte ihn alles.

 

 

Als er sich nach wenigen Minuten wieder gefasst hatte, nahm er die nächste Hürde und öffnete die letzte der Kühltruhen.

Hätte er nicht bereits alles rausgekotzt gehabt, hätte er es spätestens jetzt nachholen müssen: Im Kühler lag ein Kopf. Der Kopf eines Mannes in seinem Alter starrte ihn mit einem schreckerfüllten Ausdruck, mit aufgerissenen blauen Augen, an. Es war schlimmer als der heftigste Horrorfilm. Der Hals war mit einem sauberen Schnitt durchtrennt worden. Die dünnen Haare hingen lasch bis zu den Ohrläppchen. Der Kopf war nicht aus Plastik, nicht aus Wachs. Der war echt – verdammt echt sogar. Nach einer Schreckenssekunde fiel es Jürg Ambauen wie Schuppen von den Augen. Das metallbett-ähnliche Gestell in der Raummitte war eine Schlachtbank. Das Blut an den Wänden – die Bilder setzten sich stückweise zusammen – stammte vom Schlachtritual, mit dem Unterschied, dass es sich hier nicht um Tiere handelte, sondern um Menschen.

«Wer tut so was? Und warum?»

Ambauen krümmte sich und kotzte den allerletzten Rest aus dem Leib. Dann wollte er nur eines: weg! Es kam ihm gerade noch in den Sinn: «Ich muss Fotos schiessen!»

In diesem Moment war sein Akku leer.

 

 

Panik übermannte ihn, als er meinte, Schritte zu hören. Die Schritte kamen näher. Oder spielte ihm lediglich seine Angst wieder einen Streich und er bildete sich die Schritte ein? Ambauen wollte sich noch ducken. Doch dann traf ihn ein harter Schlag von hinten ins Kreuz.

 

 

Der Journalist fiel zu Boden. Der Schmerz an der Wirbelsäule war unerträglich. Er konnte sich nicht bewegen. Er wollte schreien, seine Stimme versagte.

Er hörte ein Geräusch, als ob ein Baseballschläger durch die Luft zischte. Dann traf ihn ein zweiter, härterer Schlag auf den Hinterkopf. Es knackste. Regungslos blieb Ambauen auf dem blutverkrusteten Boden des Schlachtraumes liegen.