Tour Efele
47

 

Wir fahren Weg. Marc holt mich am Freitagabend nach der Arbeit ab, und wir fahren in seinem rostigen alten Kastenwagen nach Quiberon, wo wir um Mitternacht eintreffen. Wir schlafen im Laderaum, bis der Morgen dämmert. Kalte Luft auf meinem Gesicht und das Knarren der aufklappenden Hecktüren wecken mich. Marc ist schon auf und angezogen. In seinem alten blauen Schlabberpulli und den abgetragenen Jeans, die an den Knien schon ganz weiß sind, steht er draußen. Ich rieche Croissants.

»Reveille-toi, Schlaffmütze!« Er stampft mit den Füßen auf, schiebt eine kalte Hand unter die Decke, fasst nach meinem Fuß und massiert mir die Fußsohle.

Ich stöhne, ziehe mir die Decke bis zu den Ohren hoch und denke an Charlie, der morgens immer schlecht gelaunt ist. »ich bin keine Schlaffmütze«, knurrt er dann unter der Decke. »Ich bin eine Schlafmütze. Kapier das doch endlich, Papa.«

Mir fällt wieder ein, wie wir ihn das erste mal zum Zelten mitgenommen hatten, als er vier war - an einem Osterwochenende in Australien. Wir fuhren an der Küste entlang nach Süden, und es goss in Strömen, ein echter Wolkenbruch, der die Dürreperiode beendete und den Warragamba-Stausee zu füllen versprach. Damals benutzten wir einen billigen Dachgepäckträger aus Gummi, der nur richtig hielt, wenn die Fenster ein Stück heruntergekurbelt blieben. In die offenen Spalten hatten wir Handtücher geklemmt, durch die uns das Wasser auf den Schoß sickerte. Jedes mal, wenn Marc zu plötzlich bremste, rutschten wir auf den nassen Sitzen nach vorn. Und er musste oft bremsen. Irgendwann blieb uns nichts anderes übrig, als anzuhalten und die Bodenplane des Zeltes aus dem Kofferraum zu holen, um Charlie auf dem Rücksitz vor den Fluten zu schützen. Wir befestigten die Ecken im Wagen an strategisch günstigen Punkten, sodass die Plane ihn von Kopf bis Fuß bedeckte. Mir geht nicht aus dem Kopf, wie sein Gesichtchen uns durch das Plastik anstrahlte - »Zelten finde ich schön!« -, bis er schließlich eindöste, geborgen in seinem kleinen Plastikparadies.

Als ich nach meiner Jeans greife, frage ich mich, ob mich wohl die Übelkeit überfallen wird, wenn ich mich aufsetze. Ich habe es Marc noch nicht erzählt. Ich bin noch nicht so weit.

Wir schnappen uns die Rucksäcke und das Zelt und machen uns auf den Weg zur Fähre. Das Gewicht zieht angenehm an meinen Schultern. Während wir auf dem Pier entlanggehen, bläst der Wind und pustet mir das Haar aus dem Gesicht. Der Geruch des Meeres und das Kreischen der Möwen heißen uns nach langer Zeit wieder willkommen. Ich fühle mich wohl. Als ich auf den graublauen Atlantik hinaussehe, ist da kein Horizont. Das Wasser verschwimmt übergangslos mit dem Himmel.

Der Wind treibt die Gischt an den Fenstern der Fähre hoch, während wir gemütlich drinnen sitzen und aus Styroporbechern dampfend heißen Kaffee trinken. Unsere Croissants in der weißen Papiertüte mit den Butterflecken sind noch warm. Ich bin hungrig, und übel ist mir kein bisschen. Nicht einmal die Wellen, die uns bedrohlich schaukeln, können mich erschrecken, während wir hier auf den Vorderkanten der orangeroten Plastiksitze hocken. Vielleicht ist es jetzt tatsächlich endlich vorbei, schließlich komme ich in den vierten Monat. Marc sitzt mir gegenüber, er lächelt wie ein Kind. Ich lächle zurück und hoffe, dass er mir das dritte Croissant überlässt. Aber da wendet er sich ab und schaut bedrückt auf den Ozean hinaus.

»J'étais fâché. J'étais bête, Annie.«

Ich weiß nicht, wovon er spricht. Er sei verärgert gewesen, sagt er, und dumm.

Er schüttelt den Kopf. »ich habe mich nicht von ihm verabschiedet.«

»Von Charlie?«

»Non.« Er spricht leise. »Mon père. Ich habe mich von Maurice nicht verabschiedet.«

Der Kaffee verbrennt mir die Kehle, weil ich zu schnell schlucke. Mein Herz klopft heftig, als ich mir mit der Hand Luft zufächle, um das Brennen zu lindern.

»Ich war so wütend.« Er greift nach meiner herumfuchtelnden Hand und hält sie fest. »Ich habe dir die Schuld gegeben.«

Jetzt blicke auch ich aufs Meer hinaus, auf die weißen Strudel, die die Fähre aufwirbelt. »ich weiß, Marc. Du brauchst es mir nicht zu sagen.«

Er beugt sich vor. »Mais si, Annie ... Je veux que tu saches. Ich war wütend, böse auf mich selbst ... weil ich es wusste, Annie - ich habe es längst gewusst.« Er atmet hörbar durch die Zähne aus und wischt sich mit der Hand über die Stirn.

Ich streichle ihm die Wange. »Was hast du längst gewusst?«

Er schaut mich an. »Ich wusste, dass er krank war. Schon bevor wir nach Australien gezogen sind. Ich konnte es sehen, tu sais? Ich konnte doch sehen, wie erschöpft er war.«

Mit einem Lächeln schüttle ich den Kopf. Ich erinnere mich nämlich an den Anruf, an Rosas ersten Anruf, als sie uns benachrichtigte - und an Marcs Schock daraufhin, an den Schmerz in seinen Augen. »Nein, Marc, du hast es nicht gewusst. Wir hatten -«

»Si, Annie, ganz bestimmt! Es gab Dinge, über die mein Vater und ich gar nicht zu reden brauchten.«

Mir wird klar, dass er natürlich recht hat: Wenn ich an die beiden denke, an ihre stille Zwiesprache, an das entspannte Schweigen ... Wie sehr ich Vater und Sohn um diese vertraute Gemeinschaft, um ihre gegenseitige Zuneigung beneidet habe!

»En plus ... Er hat sogar versucht, mit mir darüber zu sprechen, Annie.« Marc schüttelt sich, so sehr peinigen ihn immer noch die Schuldgefühle. »einmal, als wir unten am Fluss waren.«

Ich lege die Hand auf sein Knie. »Er hat es gewusst?«

»Oui.« Marc fährt sich mit der Hand über die Stirn, schwer atmend presst er die Finger gegen die Schläfen. »Und ich wollte es nicht hören. Ich konnte sehen, dass er sich Sorgen machte. Ich habe es wirklich in seinen Augen gelesen. Aber ich wollte nicht zulassen, dass er darüber sprach. Ich wollte es nicht hören! Merde, Annie! Quand j'y pense!«

Als Marc wieder zu mir herüberschaut, sehe ich in seinem Blick Scham und ein schlechtes Gewissen. »Oui, je sais. Ich war ein Verdrängungskünstler, Annie.« Charlies Worte, Charlies Gesicht.

»Aber warum nur, Marc?«

»Du wolltest nach Hause. Also wollte ich dich zurückbringen. Ich dachte, du müsstest hin - ich dachte, du wärst bereit, deine Mutter wiederzusehen.«

»Ach, Marc!«

»Je sais.« Ein trauriges schwaches Lächeln. »Ich habe das falsch verstanden. Ich habe alles falsch verstanden.«

Nein, denke ich, nicht alles. Marc wusste etwas über mich, was ich mir nicht einmal selbst eingestehen wollte ... etwas, was ich in den hintersten Winkel meines Herzens geschoben hatte - wie ein altes Paar Schuhe. Er war nicht der einzige Verdrängungskünstler.

»Et puis ... Als meine Mutter anrief, habe ich Angst bekommen, Annie - und ein schlechtes Gewissen, ein ganz schlechtes Gewissen. Ich bin in Panik geraten. Ich dachte, wie kann ich überhaupt Vater sein oder Ehemann? Ich bin doch bloß ein Kind, ein dummes Kind.«

Ich seufze. »Das waren wir beide.«

 

Ich weiß noch, wie ich ihn mit nach Australien genommen habe, ich erinnere mich an meine Aufregung, an das Herzklopfen, als das Flugzeug sich wie ein Adler, der auf seine Beute zusteuert, in die Kurve legte und niedrig über der Küstenlinie von Sydney schwebte. Und als es schließlich auf der Landebahn des Flughafens zum Stehen kam, sah ich aus dem Fenster auf die wellen heißer Luft, die vom Asphalt aufstiegen, spürte meine Hand in Marcs Hand und dachte: Ich bin zu Hause.

Ich hatte so schöne Pläne! ich wollte ihn mit nach Bondi an den Strand nehmen und zum Picknick in den Centennial Park. Wir würden im Four in Hand unten in Paddington Bier trinken und auf der Manly Wharf Fisch und Chips essen. Wir konnten an der Küste entlangfahren ... Ich freute mich so darauf, ihm zu zeigen, wo ich aufgewachsen war, ich konnte es kaum erwarten, diesen Franzosen aus Ozouer in meine Welt einzuführen.

Als wir jedoch durch das Arrival Gate kamen, als wir unseren Gepäckwagen die Rampe hinunterschoben und den müden Reisenden folgten, betrachtete ich das Meer von erwartungsvollen Gesichtern: Hinter der Absperrung drängten sich Verwandte und Freunde. Plötzlich spürte ich einen Schmerz, einen nagenden Schmerz, der aus der Tiefe meines Herzens aufstieg.

Leere.

In diesem Augenblick hatte ich mir ihr Gesicht herbeigewünscht - ich hatte mich danach gesehnt, Norma Jean in der Menge zu sehen. Das ist Marc, Mummy! Wie gern hätte ich gelacht, während er sie auf beide Wangen küsste, wie stolz hätte ich über ihre verlegene erste Berührung gelächelt.

Aber wie hätte sie dort sein, wie hätte sie uns empfangen können? Ich hatte sie ja nicht einmal angerufen, ich hatte ja nicht mal den Hörer in die Hand genommen, um meiner Mutter mitzuteilen, dass ich nach Hause kommen wollte.

Nicht einmal diesen ersten Schritt hatte ich getan.

 

Wir sitzen still zusammen und beobachten die Möwen, die uns im Gleitflug in die Bucht führen. Erst als die Passagiere um uns herum anfangen, ihre Siebensachen einzusammeln, und sich in den Gang stellen, wendet Marc sich mir zu. »Je veux que tu saches ... C'était un désastre.« Es war eine Katastrophe. Ich möchte, dass du das weißt.

Ich starre ihn an, mein Herz rast, die Finger kribbeln und werden taub, als ich die Kante meines Sitzes zu fest umklammere. Ich weiß, wovon er spricht.

»J'étais tellement perdu. Ich war so voller Ärger, voller Wut. Wir haben die Nacht zusammen verbracht. Aber das war alles, Annie.«

Wie erstarrt sitze ich da. Ich habe Angst, mich zu bewegen, habe Angst zu denken - zu fühlen.

»Wir haben nicht -« Aber ich unterbreche ihn mit einer Handbewegung. »Sie hat gesagt, es wäre ein Zeichen -«

Es hat keinen Sinn, jetzt spüre ich sie doch - meine eigene Wut regt sich wieder. »Was?«

»Sie hat gesagt, es wäre ein Zeichen, dass es falsch sei, dass es nicht sein solle - dass du für uns beide zu gut bist.«

Ich fuchtele mir mit der Hand vor dem Gesicht herum. Ich will nichts davon wissen. »Bitte, Marc, nicht das ...«

Aber er greift nach meiner Hand und schaut mir eindringlich in die Augen. »Es ist wahr, Annie. Je ne me suis pas rendu compte de ce que j'avais. Beattie hat versucht, mir das zu sagen. Ich war ein Idiot.«

Was hat er da gerade gesagt? Ich kenne diesen Satz gut: »Je ne me suis pas rendu compte de ce que j'avais.« ... Sehr gut sogar, er lässt mich aufhorchen. Wo habe ich ihn schon einmal gehört?

Ich habe nicht gewusst, was ich hatte ...

Ja - als meine Großmutter meinen Großvater zitiert hat.

»Warum hast du ihn verlassen, Grandma?«, hatte ich sie gefragt.

»Weil er nicht wusste, was er an mir hatte.«

 

Während die Fähre uns ans Land bringt, spüre ich, wie mir leichter ums Herz wird. Ich beobachte, wie die Möwen von dem alten Steinpier abfliegen, ich sehe die weiß getünchten Häuser am Ufer, die Boote, die auf dem Wasser schaukeln, und den Leuchtturm am Rand der Bucht. Eine ganze Palette an Farben, an Erinnerungen.

Als wir vom schaukelnden Fährschiff auf den Anleger treten, sage ich es Marc. »Ich bin schwanger.«

er legt mir die Hand in den Nacken, drückt mir die Lippen auf die Wange, flüstert mir ins Ohr: »Tu vois, Annie! Das ist wirklich unsere zweite Chance.«

Ich beobachte, wie das Wasser steigt, wie eine Woge heranbrandet, und spüre, wie die feine Gischt mein Gesicht küsst. »Nein, Marc«, entgegne ich.

Da wir zurückgekommen sind, ist es anders. Es muss anders sein.