Tour Efele
14

 

Selbst in den besten Zeiten ist es eine ganz schöne Quälerei, wenn man nach einer Pause wieder zur Arbeit muss, zurück in den alten Trott. Man fährt Weg, lebt in einem anderen Rhythmus, in einer anderen Welt, und deshalb kann einen am ersten Arbeitstag bereits eine Kleinigkeit umhauen.

Bei mir sollte dazu an diesem Montagmorgen nicht viel mehr nötig sein als ein »Bonjour«.

Beattie und ich nahmen zusammen die Metro. Ich fühlte mich merkwürdig fern von mir selbst, als wäre ich eine Fliege auf den weißen Kacheln des U-Bahn-Tunnels, während ich an der Station Porte de Bagnolet auf dem Bahnsteig stand. Ich beobachtete mich selbst, wie ich mich als Teil der Menge bewegte, in dem überfüllten Wagen einen Sitzplatz ergatterte und zwischen Franzosen mit mürrischen Gesichtern saß. Wir wurden sachte vor und zurück geschaukelt, wenn der Zug, surrend wie eine Salatschleuder, in die Bahnhöfe hinein- und wieder herausfuhr. Beattie hatte mir gegenüber einen Platz gefunden und äffte eine Frau mit dünnen Augenbrauen und mageren Knien nach, die mit einem Chihuahua in der Handtasche rechts neben ihr saß. Lächelnd schüttelte ich den Kopf. ich hatte vergessen, wie beattie früher war - wie sie die Leute verulkte.

Sie grinste zurück. »Also, wer ist er?«, fragte sie, während sie schon ihre Sachen zusammenraffte, denn an der nächsten Station mussten wir aussteigen. Wie sollte ich das bloß alles durchstehen?

»Wer?« Ich stellte mich blöd und folgte ihr, als sie sich den Weg durch die dicht gedrängten Fahrgäste bahnte.

Beattie wandte sich zu mir um und verdrehte die Augen. Die Türen öffneten sich auf die Gare Saint-Lazare hinaus, den großen Zentralbahnhof, und noch bevor wir ausgestiegen waren, drängte schon der nächste Schwall Pendler in den Zug. »Oh, merci beaucoup!«, rief Beattie, während wir uns durchquetschten und auf den Bahnsteig traten.

»Immer zuerst die Leute aussteigen lassen, Charlie.«

Das Warnsignal ertönte, und hinter uns schlugen sämtliche Zugtüren krachend zu, jetzt gab es kein Zurück mehr.

Wir hatten schon den Hauptausgang erreicht, die Reihe mächtiger Torbogen, die auf die Cour de Rome hinausführten, als Beattie mich am Ellbogen auf die Seite zog. Die Herde der Pendler strömte an uns vorbei, als wäre das alles normal und ich einfach nur eine von ihnen.

»Was ist denn mit dir los, Annie? Du benimmst dich so komisch.«

Ich zuckte die Achseln. Beattie hatte mich immer gut gekannt. Aber so gut nun auch wieder nicht. »Weiß nicht. Wahrscheinlich die Montagsmüdigkeit.« Aber das schien sie nicht zu überzeugen. »Ich könnte im Stehen einschlafen.«

»Ja, so siehst du auch aus!« Sie musterte mich mit gerunzelter Stirn, prüfend, offenbar wartete sie auf eine andere Erklärung, doch ich konnte ihr keine geben.

Wir gingen in unser Café am Eingang der Gare Saint-Lazare, wo wir vor der Arbeit immer einkehrten. Viele Pariser legten dort auf ihrem Weg zur Arbeit eine kurze Kaffeepause ein und begaben sich dann in ihre Büros, etwa in die Banque Nationale de Paris oder in die Société Générale, oder sie nahmen in den großen Kaufhäusern wie Galeries Lafayette oder Printemps am Boulevard Haussmann ihre Plätze hinter den Theken ein. Als wir in dem lauten, trubeligen Café standen, fiel mir plötzlich auf, dass wir wirklich mittendrin gewesen waren, in der Hektik »des Rattenlochs von Stadt«, wie Marc immer sagte. Der Barkeeper mit seiner ewigen Zigarette hinter dem Ohr zwinkerte uns zu und servierte uns unsere grands cafés crème und dazu Croissants aus dem Korb auf dem silbernen Tresen - ja, er flirtete sogar mit uns, genau wie früher, während die anderen Stammgäste schmunzelnd zuschauten.

»Wann der wohl endlich aufgibt?«, fragte Beattie unüberhörbar. Anscheinend niemals.

Als wir an der Apotheke an der Ecke vorbeirannten, blieb ich plötzlich stehen, weil mir etwas einfiel - hier hatte doch eine Waage gestanden, genau unter dem blinkenden grünen Neonkreuz. Pesez-vous et découvrez votre avenir. Wiegen Sie sich und lassen Sie sich die Zukunft vorhersagen. Ich erinnerte mich an den Tag, an dem die Waage zum ersten Mal hier an der Ecke gestanden hatte. Es war ein besonders kalter Morgen gewesen, und obwohl Beattie und ich schon spät dran waren - um acht mussten wir anfangen -, bestand sie darauf, dass wir die Waage ausprobierten. Sie wollte wissen, wer von uns beiden weniger wog. Also zogen wir, jung und verrückt, wie wir waren, mitten auf dem Platz Mäntel und Schuhe aus, und bald setzte Beattie ihr Siegergrinsen auf, denn sie wog dreihundert Gramm weniger als ich.

Ich hatte den winzigen Papierstreifen aufbewahrt, auch als die Zahlen und Buchstaben darauf schon zu einem verwaschenen Lila ausgeblichen waren. Was mich so faszinierte, war allerdings nicht mein Gewicht, sondern die Wahrsagung auf dem Zettelchen: Si vous marchez dans les pas de votre mère, attention ... Wenn Sie in die Fußstapfen ihrer Mutter treten, dann hüten Sie sich ... Das letzte Stück des Streifens hatte sich in der Maschine verklemmt, sodass der Schluss des Satzes ein Geheimnis blieb. »Das ist ein Zeichen«, hatte Beattie damals orakelt.

Doch jetzt war die Waage nicht mehr da. Merkwürdig, alles war genauso wie früher - bis auf dieses Gerät.

Kaum hatten wir den Fahrstuhl verlassen und Colangue betreten, da ging es auch schon los. Murielle war es, die mich ins Schleudern brachte. murielle, damals auch als Mademoiselle Schneekönigin bekannt, war eine große blonde Deutschschweizerin, eine erwachsen gewordene Heidi, die sich allerdings zu einem Biest entwickelt hatte. Als persönliche, ja, sehr persönliche Assistentin des Direktors hatte sie an der Schule das Sagen. Es ging das Gerücht, dass sie als Bürohilfe angefangen hatte. Aber weil sie sehr kompetent und tüchtig war und außerdem, wie schon gesagt, hochgewachsen und blond, hatte sie sich bald bis ganz nach oben emporgearbeitet und war dort geblieben - im wahrsten Sinne des Wortes, denn angeblich war das die Lieblingsstellung unseres Direktors. Alle hüteten sich vor der Schneekönigin, sogar er selbst. Nein, Murielle in die Quere zu kommen zahlte sich nicht aus.

Der Chef war natürlich verheiratet, er war der typische Franzose mit dem Verhältnis nebenbei. Jeden Freitag tauchte seine Frau mittags zum Essen auf und redete und scherzte höflich mit der Schneekönigin, seiner Geliebten. Selbstverständlich wusste sie Bescheid. Verglichen mit der Schneekönigin war sie ein zierliches Püppchen, stets tadellos in ihrem Chanelkostüm; mit Chanelhandtasche, Bubikopf und Pudel bot sie ein perfektes Bild. Sie hatte alles, was sie wollte. Warum sollte sie da Ärger machen?

»Bonjour, Annie.« Aus der Miene der Schneekönigin strahlte mir Effizienz entgegen wie eh und je. Ihre grauen Augen waren so warm wie Stahl im Schnee, und mit ihrem Lächeln konnte sie Glas zerspringen lassen. »Dein Monsieur Vitali ist schon da. Ich habe ihn in salle acht gesetzt.«

Ach ja, mein Monsieur Vitali ... Ich wäre noch auf ihn zu sprechen gekommen.

»Interessant. Ca t'arrange en fait«, sagt Marc, »dass du einfach vergessen hast, von ihm zu erzählen. Sehr praktisch.«

Carlo Vitali hatte sich zu Einzelstunden angemeldet. Er wollte sein Englisch im Privatunterricht perfektionieren, am liebsten bei einer weiblichen Lehrkraft, hatte er der Schneekönigin erklärt. Das war eine durchaus vernünftige Bitte, wenn man bedachte, dass seine Firma die Rechnung bezahlen würde, dass er selbst der stellvertretende Direktor war und obendrein Frauen mochte. Ja, er mochte Frauen außerordentlich.

Auf diese Weise also hatte ich Carlo kennengelernt.

Ich hatte ihn schon ungefähr ein Jahr lang unterrichtet, als ich Marc begegnete. Allerdings kann ich, wenn ich ehrlich bin, nicht behaupten, dass Carlo im Englischen große Fortschritte machte.

»Mais sicherlich auf anderen Gebieten«, sagt Marc.

Carlos Ausstrahlung, sein unwiderstehlicher Charme, ist schwer zu beschreiben. Man musste sich unweigerlich in ihn verlieben. Er war Italiener, ursprünglich aus Mailand, ein schöner Mann, hochgewachsen und dunkel, mit lebhaften Gesichtszügen und einem Lächeln so breit wie ... keine Ahnung. Selbst ein Foto würde ihm nicht gerecht werden.

Er war vor ungefähr zwei Jahrzehnten nach Paris gekommen, mit etwa Mitte zwanzig, aber er sprach immer noch mit italienischem Akzent. Wenn Carlo französisch sprach, klang es wie ein Gedicht, bedächtig, rhythmisch und melodiös. Er nannte mich Anna, was sich natürlich vollkommen anders anhört als Annie. Anna, dieser zärtliche Klang in der Mitte, wenn Carlos Zunge die beiden n formten, meine Konsonanten, wenn er sie auskostete, sie anschwellen ließ, sehnsüchtig wie -

»Deine Klitoris?«

Nein, Marc. Carlo verlieh meinem Namen Sinnlichkeit, er ließ ihn anschwellen und reifen, wie ein Mädchen zur Frau reift, er ließ meine Knie schwach werden, meine. Es ist wichtig, Carlos Zauber in seinem ganzen Umfang zu begreifen, sonst kann man alles Weitere nicht nachvollziehen: Warum ich mich in ihn verliebt habe, warum jede Frau sich in ihn verliebt hätte. Warum ich mich unverzüglich auf den Weg machte, wenn er nur mit den Fingern schnippte, ob zu seinem Haus in Italien oder in irgendein winziges exotisches Restaurant auf der anderen Seite von Paris. Wohin auch immer! Schließlich war ich damals gerade erst vierundzwanzig, noch jung und sehr naiv. Daher habe ich eine Sache noch nicht erwähnt, obwohl sie, wie Marc meint, ganz wesentlich ist. Doch, darauf komme ich noch zu sprechen.

Aber Marc hat schließlich gut reden.

Erst als wir schon eine ganze Weile zusammen waren, erfuhr ich von ihr, von Carlos Ehefrau. Mir war nicht einmal im Traum eingefallen, dass er verheiratet sein könnte. Er hatte sie nie erwähnt, also hatte ich einfach vermutet, dass er Single sei. Dabei hätte man meinen sollen, dass es nach einer weile bei mir klick machen würde, denn er konnte sich nur ganz selten an Wochenenden mit mir treffen, wir fuhren nie zu ihm nach Hause, und er suchte immer ganz abgelegene Restaurants und Hotels für uns aus, solche, die nicht im Michelin standen - und wo er sicher sein konnte, dass er ihr nicht begegnete. Wenn ich mir das jetzt überlege - dass er verheiratet war - und wenn ich dann an Marc und seine Frédérique denke, frage ich mich: Auf welchem Planeten habe ich damals eigentlich gelebt? Ich war jung, das stimmt, aber wie konnte ich bloß derart naiv sein?

Marc ist natürlich empört darüber, dass ich seine Situation mit Frédérique mit meinem Verhältnis zu Carlo vergleiche. »Unsere Beziehung war doch vorbei«, sagt er. »Wie konnte ich denn noch mit ihr zusammen sein, wenn ich beinahe jeden Abend zu dir gekommen bin?«

Dieses »beinahe« ist es, das mir keine Ruhe lässt.