![Tour Efele](im001.gif)
39
Es ist Sonntagmorgen, zwei Minuten vor elf. Auf den Tag genau zwei Monate ist es her, dass ich Marc verlassen habe. Aber wer zählt schon die Tage? Doch ich rechne nach, während ich mitten auf der Gare de l'Est stehe und zu der riesigen schwarzen Anzeigetafel hinaufschaue, wo die Abfahrtszeiten der Züge und die Zielbahnhöfe so schnell durchrasseln wie Vermögenswerte an der Börse.
In zwei Minuten soll von Bahnsteig vierzehn ein Zug nach Gretz-Armainvilliers abfahren. Nehme ich ihn oder nicht? Aus den Lautsprechern dröhnt der verstümmelte Singsang einer Frauenstimme. Niemand kann verstehen, was sie sagt - außer mir.
»Nimm ihn, Annie!«, rät sie mir.
Also renne ich los. Der Bahnsteig ist schon leer, nur ein paar Schaffner stehen noch herum. Sie haben die Mützen zurückgeschoben und ziehen an ihren Zigaretten. Doch der Zug ist noch da. Der große Zeiger der schmutzigen alten Uhr über dem Bahnsteig rückt schon in Richtung zwölf - Abfahrtszeit elf Uhr. Als die Pfeife schrillt und der Zug sich bereits langsam in Bewegung setzt, springe ich in den letzten Wagen.
Ich fahre nach Ozouer-le-Voulgis, Marcs Heimatort.
Warum ich in dieses winzige Dorf will, weiß ich nicht. Möchte ich bloß das Haus in der Rue de la République wiedersehen, vom Marktplatz aus ein Stück die Straße hinauf? Oder will ich sehen, wie Marcs Eltern sich hinter den Fenstern bewegen? Oder vielleicht sogar seinen alten Kastenwagen, der vor dem Haus parkt, genau wie in alten Zeiten, wenn wir sonntags zum Mittagessen kamen? Vielleicht erhasche ich durch das kleine Dachfenster oben in dem alten Gemäuer ja sogar einen Blick auf Charlie, der in den alten Koffern gräbt, wenn ich mich nur genügend anstrenge. Dabei weiß ich, was mein Elfjähriger sagen würde, wenn er hinausgucken und mich da unten auf der Straße bemerken würde, wie ich einsam zu ihm hinaufblicke: »Du hast sie nicht mehr alle, Mummy.«
Ja, das kann sein.
Ich schaue aus dem Zugfenster und beobachte, wie die hässlichen, wild wuchernden Pariser Vororte mit ihren Supermarktkomplexen aus grauem Beton allmählich in flaches, offenes Land übergehen. Im Vergleich zu den wogenden grünen Hügeln rings um Lherm wirkt diese Landschaft karg und eintönig.
Drei Reihen weiter sitzt mir gegenüber ein Mann. Er blickt von seiner Zeitung auf und lächelt. ich wende mich ab und schaue wieder aus dem Fenster. Vom Bahnhof aus werde ich den BUS nehmen müssen. Dieses mal bin ich nicht zum Mittagessen eingeladen. Warum also unternehme ich diese Fahrt?
Ich glaube, ich weiß den Grund. Ich liege nachts in meinem Hotelbett und verfluche ihn, hasse ihn. Und durch unbeherrschbare Wogen der Verzweiflung bekommt meine Wut immer neue Nahrung. Wie konntest du das tun, Marc? Wie konntest du mir das antun? Wie konntest du es Charlie antun? Mit meiner besten Freundin? Und doch, trotz allem - ich vermisse ihn. Ich wache nachts auf und spüre das Gewicht seines Körpers auf der Matratze, den Zug des Lakens, wenn er sich umdreht, und meine Hand rutscht hinüber, greift in der Dunkelheit nach ihm. Ich bin überzeugt, dass ich den Umriss seines Körpers sehen und ihn atmen hören kann. Wenn ich dann morgens aufwache, drehe ich den Kopf, suche sein Gesicht, seine Augen, die Lachfältchen, wenn er auf dem Kopfkissen neben meinem lächelt. »Marc?« Aber er ist nicht da.
»Wir wollten uns doch trennen, Annie«, höre ich Marc sagen. Das weiß ich, denke ich, schüttle den Kopf und wünsche mir, dass der Mann mir gegenüber mich nicht mehr anstarren, sondern einfach seine Zeitung lesen würde. Das weiß ich doch!
Gerade als die Kirchenglocken ihr Mittagsläuten anstimmen, hält der Bus auf dem Marktplatz, auf diesem sonst so stillen Dorfplatz, den ich gut kenne. Neben der mächtigen, düsteren grauen Kirche steht der Glockenturm und wirft seinen Schatten über die Pappeln unten an seinem Fuß. Ein Stück weiter befindet sich das Café-Tabac, Le Carmiya, wo die Einheimischen sich ihre Dosis Koffein und ihren Tabak besorgen. Gegenüber, in einer Reihe cremeweißer Häuser mit Fensterläden, die sich bis zu Marcs Elternhaus hinzieht, ist die boulangerie. Doch während ich mitten auf dem Platz stehe, trifft es mich wie ein Schlag: Genau hier hat Beattie mit ihm gestanden.
Vor der boulangerie hat sich eine Schlange gebildet, die bis auf die Straße reicht. Vor dem Mittagessen kommen die Leute in Scharen, um noch schnell ihre Baguettes zu kaufen, bevor der Bäcker schließt. Rasch lasse ich den Blick über die anstehenden Dorfbewohner gleiten. Ich halte Ausschau nach Maurice, nach seinem grauen Haar und dem vertrauten Gesicht, das Marcs Gesicht so ähnlich ist. Vielleicht sind sie auch zusammen hier. Aber die Luft ist rein, bis auf die alte Madame Murat, ihre Nachbarin, die mit Gehstock, Handtasche, schmalen Lippen und starrem Blick in der Schlange wartet. Mit einem Lächeln nicke ich ihr zu, aber sie wendet sich ab. Da wird mir klar, dass sie mich ja noch gar nicht kennt. Selbst wenn ich direkt in Marcs Eltern hineinlaufen würde, würden sie mich keines Blickes würdigen, denn sie haben mich noch nicht kennengelernt! Ich setze mich auf eine Steinbank unter einer Pappel.
Ich bin unsichtbar, bloß ein Schatten, nichts als eine Wolke, die über ihren Köpfen entlangzieht.
Ein Stückchen weiter auf dem Sandplatz spielt eine Gruppe von fünf Männern Boule. Auch hier ist Marc nicht dabei, allerdings kennt er sie fast alle, da bin ich sicher. Wenn wir am späten Sonntagnachmittag einen Spaziergang machten, ist er auf unserem Weg an den Fluss hinunter oftmals ein Weilchen hier stehen geblieben.
Ich beobachte die Männer, wie sie mit verschränkten Armen über das Spiel nachdenken, auf den Boden stampfen, murmelnd miteinander sprechen, lachen und gelegentlich die Arme hochwerfen. Und dann bemerke ich unter ihnen einen hochgewachsenen Mann und zu seinen Füßen einen struppigen braunen Hund mit einem roten Tuch um den Hals. Mein Herz schlägt schneller. ich erkenne ihn wieder. Das ist Serge, Marcs alter Freund, der Freund, der ertrunken ist.
Ein Schauder überläuft mich.
Sie spielen in meine Richtung. Eine Kugel ist mir fast bis vor die Füße gerollt. ich überlege, ob ich aufstehen soll, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Aber dann ist das Spiel plötzlich zu Ende und Serge kommt zu mir herüber, um seine Kugel zu holen. Mit angehaltenem Atem frage ich mich, ob er etwas bemerkt, ob er mich erkannt hat. Marc hatte mich vor Jahren vorgestellt, bevor wir nach Australien abgereist sind, bevor Serge ... Doch dann wird mir bewusst, dass ich 1991 auch für ihn bloß eine Fremde war.
»Bonjour!« Er lächelt, als er sich bückt, um seine Kugel aufzuheben. Sein Schatten fällt auf mich, während sein Hund an meinen Füßen schnuppert und mich mit seiner feuchten Schnauze an den Knöcheln kitzelt.
»Bonjour!« Ich erwidere Serges Nicken. Als ich die Hand ausstrecke, um dem Köter den Kopf zu tätscheln, richten sich die Härchen auf meinem Arm auf. Mir ist ganz unheimlich zumute, als dieser große Mann jetzt vor mir steht, so aktiv, so lebendig. Ich habe in die Kristallkugel geschaut - ich weiß etwas, was er nicht weiß.
Serge zögert. Er hat meinen Akzent gehört und ist neugierig. Wieder und wieder wirft er die verbeulte silberne Kugel in die Luft, ohne weiterzugehen. Er hat ein vertrauenerweckendes Gesicht. Seine braunen Augen und das dunkle, lockige Haar strahlen etwas Weiches aus, obwohl er wie ein Kämpfer gebaut ist, breitschultrig und kräftig - ein Muskelpaket. Une force de la nature. Ich lächle zurück. »Ein Lächeln kostet nichts«, habe ich Charlie immer gesagt. Aber ich möchte Serge mehr schenken, wesentlich mehr.
Er sieht mich an, als wolle er mich etwas fragen. Frag mich, dann sag ich's dir, denke ich. Bitte, frag mich einfach!
»Serge!«, ruft einer der Mitspieler ungeduldig herüber. Sie brechen auf, gehen ins Café. Es ist Zeit für einen Aperitif. »Tu viens ou pas?«
Mein Bein wippt auf und ab, als er ihnen winkend bedeutet, schon mal loszugehen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wie erklärt man einem Mann, einem fremden Mann, dass er aufpassen soll, dass er sehr, sehr vorsichtig sein muss, wenn er an den Fluss geht - dass er ertrinken wird, wenn er hinter seinem Hund herspringt? Wie sagt man Leuten, die auf dem Weg zur Arbeit sind, dass sie heute ihr Büro nicht betreten dürfen, weil ein Flugzeug in das Gebäude krachen wird? Wie warnt man Menschen davor, an den Strand zu gehen, weil eine Flutwelle oder ein Erdbeben bevorsteht? Sie werden vielleicht höflich lächeln oder sogar über dich lachen und es dann trotzdem tun. Ich bin doch bloß eine fremde Frau auf einer Parkbank.
Ich kann nicht ins Schicksal eingreifen.
Aber er hat so ein nettes Gesicht. Irgendetwas muss ich ihm sagen. Ich öffne den Mund, doch die Worte wollen mir nicht über die Lippen. Ich könnte übers Wetter sprechen, über den herrlichen Tag. Es stimmt, die Sonne scheint, sie wirft Lichtflecken durch die Pappeln hier auf dem Platz wie auf einem Gemälde von Renoir - der Tag ist viel zu schön, um düstere Botschaften zu überbringen. Plötzlich kommt mir die Idee, dass der April vielleicht Renoirs Lieblingsmonat zum Malen war, mit der frischen, trockenen Luft, die die Farben der Blätter zur Geltung bringt. Vielleicht weckte sie seine Lebensgeister, während er den Pinsel leicht auf die Leinwand tupfte. Allerdings bezweifle ich, dass er jemals in Ozouer war. Nein, Serges Hund wäre vielleicht ein besserer Anknüpfungspunkt. Die Franzosen reden mit Vorliebe über ihre Hunde, lieber als über ihre Kinder. Also überlege ich, das Gespräch mit einem »was für ein schöner Hund ...« einzuleiten. »Aber passen Sie auf - er wird eines Tages Ihr Tod sein.«
Charlie hat recht, ich habe wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Serge lächelt mich immer noch an, wahrscheinlich findet er es einfach lustig, wie mein Mund sich öffnet und schließt, als wäre ich ein Fisch, ein unentschlossener Fisch.
»Eh, Serge!« Jetzt ruft jemand anders nach ihm.
Das Herz klopft mir zum Zerspringen. Serge versperrt mir mit seinem massigen Körper die Sicht. Aber die Stimme kenne ich.
Er sieht mich erst, als er bereits neben Serge steht.
»Salut, Serge!«, sagt er und legt seinem Freund die Hand auf den Rücken. Er lächelt zu mir herunter, offensichtlich hat er mit jemand anderem gerechnet, jedenfalls nicht mit mir, hier auf einer Bank mitten in Ozouer.
Erschrocken tritt er einen Schritt zurück. »Annie.«
Marcs junges Gesicht überrascht mich stets von neuem. Mein Atem ist schneller geworden. Anscheinend lasse ich mich noch immer von meinem Herzen leiten - von meinem albernen, törichten Herzen. Ich nicke zu Marc empor, möchte aber im Moment nichts sagen. Ich fühle mich seltsam schuldig.
»Mais, vous vous connaissez?« Offensichtlich ist Serge überrascht, dass sein Freund diese Fremde kennt.
»Eh ... oui.« Marc reibt sich die Stirn.
Und mir fällt wieder ein, wie er mich damals, vor vielen Jahren, Serge vorgestellt hat. Ich erinnere mich an seinen Blick, an seinen Stolz, an seine Hand auf meinem Rücken. Hatte er Beattie genauso vorgestellt, an dem Tag, als sie zur Beerdigung hier herauskam? Hatte er ihr ebenfalls die Hand sanft ins Kreuz gelegt, fast ohne sie zu berühren, nur so, dass er die Hitze ihres Körpers unter ihrem Kleid spürte?
Marc schaut von mir zu Serge und wieder zu mir. Wir schweigen, es ist ein peinliches Schweigen. Mit hochgezogener Augenbraue sucht er meinen Blick. Da wird mir klar, dass er wissen möchte, ob ich etwas gesagt habe, etwas über den Fluss, über Serges Hund.
Ich schüttle den Kopf, nein.
»Bon.« Serge klatscht in die riesigen Hände. »Je vous laisse. Je vais au café.«
Er will ins Café. Marc nickt, und Serge schlägt ihm mit der flachen Hand auf den Rücken. Sie sind alte Freunde. Dann wendet er sich ab und pfeift seinen Hund zu sich, seinen besten Freund.
»Au revoir, Mademoiselle!«
Ich schaue zu, wie er die Tür zum Café aufzieht und im Inneren verschwindet. Er ist fort. Wir haben ihn gehen lassen, ohne etwas zu sagen, ohne ihn zu warnen.
»Wir könnten den Hund entführen«, bemerke ich vorsichtig.
»Non.«Marc schüttelt den Kopf. »Dann besorgt er sich einen Neuen. Seit seiner Kindheit hat er immer einen Hund gehabt. Er liebt Hunde.«
»Offensichtlich.«
Mittlerweile ist der Platz menschenleer. Die boulangerie hat über Mittag zugemacht. Schweigend sitzen Marc und ich auf der Bank. Ich weiß noch, wie Charlie hier gespielt hat, als wir aus Australien angereist waren, um Marcs Mutter zu besuchen. Da war er fünf. Er zeichnete so gern mit einem Stöckchen Figuren auf den Boden, vor unseren Füßen, genau hier. Ich erinnere mich, wie ich seine kleinen, weichen Hände abwischte, weil sie klebrig und schmutzig waren, und er protestierend den Mund verzog: »Nein, Mummy!« Ich blicke auf die Erde. Aber die Figuren sind natürlich nicht mehr da. Und sie werden hier auch niemals entstehen.
Als es ein Uhr schlägt, schaue ich zum Kirchturm hinauf. »Wir wollen uns etwas wünschen.«
»Wünschen?«
»Ja.« Ich nicke und stehe auf. »Komm mit!«
Ich bin zum ersten mal in dieser Kirche. ich weiß, dass Marc oft hier war, sehr oft sogar. Seine Mutter hat mir Fotos von ihm als Neugeborenem gezeigt, wie er mit verzerrtem Gesichtchen schreit, als der Priester ihm kaltes Wasser auf die Stirn tröpfelt. Dann von dem schlaksigen Jungen mit spitzen Ellbogen, glatt zurückgestrichenem Haar und zur Erstkommunion sauber geschrubbtem Gesicht. Die Vorstellung, wie Marc in einem gestärkten weißen Gewand den Mittelgang entlangschreitet, die Hände zum Gebet gefaltet, entlockt mir ein bitteres Lächeln - der brave kleine Katholik. Der gute Sohn, der gute Mann, der in der vordersten Bank sitzt - mit der besten Freundin seiner Ehefrau, im Gedenken an seinen Vater.
Wir stehen im Eingang. Der Kirchenraum ist größer, als ich erwartet hatte, viel beeindruckender. Ich schaue zu den gotischen Bogen hinauf und betrachte die Heiligenfiguren. Sie tragen ihre üblichen dunkelbraunen Kutten, die mit einem Strick um die Taille zusammengebunden sind, und einen Topfschnitt. Alle haben ein Baby in den Armen. Wohlwollend blicken sie von den Säulen auf uns herab.
Drüben in der Ecke steht ein Beichtstuhl. Marc hat mir einmal erzählt, dass er sich als Kind mit seinen Klassenkameraden dort zur Beichte anstellen musste, selbst wenn er gar nichts zu beichten hatte. Die Jungen warteten, bis sie an der Reihe waren, und dachten sich etwas aus - Notlügen -, einfach, um die Sache hinter sich zu bringen und den Priester nicht zu enttäuschen. Jean-Claude sagte, er habe seinen kleinen Bruder gehauen, Philipp beichtete, er habe seinen Vater beschimpft, und Marc - was erfand Marc? War er hergekommen, um die Geschichte mit ihr zu gestehen? Ich betrachte die hölzernen Kästen und frage mich, wie ein Mann dort hineinpassen kann, oder sogar zwei Männer - der Beichtende und ein Priester. Das ist wie bei Charlies erster Scherzfrage: Wie viele Elefanten passen in einen Mini? Wie bei dem Scherz, den Marc sich mit mir erlaubt hat.
Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt! Ich habe meine Frau betrogen. Mit ihrer besten Freundin. Als sie im siebten Monat schwanger war.
Wie viele Sünden passen in ein einziges Vergehen?, überlege ich. Und was wurde ihm als Buße auferlegt? Fünf Gegrüßet- seist-du-Maria? Vielleicht hat er sie sogar mit Beattie zusammen gebetet.
Wie romantisch!
Eine Frau arrangiert Blumen auf dem Altar. Als wir durch das Kirchenschiff gehen, lächelt sie uns zu. Auf den Bodenplatten zu ihren Füßen liegen Blüten mit langen Stängeln, ausgebreitet wie ein Fächer, ein buntes Beet in Violett, Orange und Purpurrot. Sie hebt eine nach der anderen auf, schneidet die Stiele kürzer und steckt sie mit höchster Sorgfalt und Hingabe in die Vase, als baue sie eine Skulptur.
Ich suche nach den Kerzen. Links steht ein kleiner Kerzenständer. Er ist nicht so groß wie der in La Madeleine, aber er müsste seinen Zweck erfüllen. Ich steuere darauf zu, und Marc folgt mir. In einer Schachtel mit der Aufschrift Cierges liegen lange weiße Kerzen. Hier gibt es nicht viel Auswahl, daher nehme ich eine heraus.
»Hast du Kleingeld?« Ich möchte, dass Marc für diese Kerze bezahlt. Das ist das Mindeste, was er tun kann, denke ich. Er greift in seine Jeanstasche und fördert einen Franc zutage, einen einzigen Franc. »Ist das alles?«
Er lächelt mich an und zuckt die Schultern. »Ist doch nur eine Kerze, Annie.«
»Nur eine Kerze, Marc? Und du willst Katholik sein?«
»Mais tu sais bien, Annie, ich halte nichts mehr von dem ganzen Kram.«
»Einmal Katholik, immer Katholik«, hätte meine Mutter ihm entgegengehalten. Ich nehme den Franc und werfe ihn in das Kästchen mit dem Schlitz. Mit einem dumpfen Scheppern schlägt er unten auf - Metall auf Holz. Auf dem Ständer brennt nur eine einzige Kerze. Hier in Ozouer passiert offensichtlich nicht viel.
Marc steht hinter mir, während ich meine Kerze neben die andere stecke. »Weißt du, was ich mir wünsche, Annie?« Ich warte ab, beobachte das Flämmchen, das dünn und spitz flackert, zu schwach, um meinen Wunsch zu erfüllen. Ich drehe mich nicht um, spüre aber seinen warmen Atem an meinem Hals, dann sein stacheliges Kinn auf meiner Haut. »Ich wünschte, es wäre nicht passiert.«
»Was soll nicht passiert sein, Marc?« Ich drehe mich so plötzlich zu ihm um, dass er rückwärts stolpert. »Welchen Teil der Geschichte meinst du?«
Ich möchte, dass er es hier in der Kirche ausspricht, in seiner Kirche. Aber es ist kaum ein Flüstern.
»Das zwischen Beattie und mir.«
»Zwischen Beattie und dir? Der Wunsch ist schon in Erfüllung gegangen, Marc.«
Er tritt zu mir, greift nach meiner Hand. »Annie -«
Ich weiche zurück. Ich will ja nicht tanzen. »Weißt du, was ich glaube, Marc?« Ich höre die Absätze der Blumenfrau rasch auf dem Kirchenboden klappern, sie kommen auf uns zu. »Ich glaube, du wünschst dir bloß, du hättest es mir nicht erzählt.«
»Chut!« Ihr Lächeln ist verschwunden.
Marc fährt sich verlegen mit der Hand durchs Haar. »Pardon, Madame.«
Ich schaue auf, um die Tränen zurückzuhalten, die meinen Stolz bedrohen. Gleich hinter Marcs Kopf steht ein Heiliger. Ist er das wieder?, frage ich mich - Beatties heiliger Antonius? Aber warum hilft er mir dann nicht hier raus? Ich versuche, meinen verschwimmenden Blick auf den Heiligen zu richten statt auf Marc - auf sein gütiges Lächeln, nicht auf das Baby in seinen Armen. Aber es nützt nichts - die Tränen strömen mir aus den Augen.
»Warum, Marc? Warum hast du das gemacht?« Die Blumenfrau bleibt hinter uns stehen. Sie murmelt etwas und bedeutet mir mit einer Geste, leiser zu sein. Aber ich kann meine Wut, meine Frustration, diesen grauenhaften Schmerz nicht zügeln.
Wie ein kleiner Junge steht Marc vor mir, wie unser kleiner Junge, mit verzweifeltem Gesicht. »Je n'étais pas bien, Annie! Ich habe mich so allein gefühlt! Je ne savais pas comment te le dire. Ich wusste nicht, wie ich -«
»Ach, Marc!« Ich bemühe mich, die Worte hervorzubringen, ohne dabei zu schreien, ohne laut zu kreischen, weil es so wehtut, das von ihm zu hören. »Du warst doch gar nicht allein! Sag bloß, du konntest mir nicht erklären, wie du dich gefühlt hast!«
Mit einem traurigen Lächeln schüttelt er den Kopf. »Non, Annie, ich konnte nicht mit dir reden.«
Und ich weine - ich weine, weil ich mich daran erinnere, wie ich neben ihm gelegen habe, wie ich mich zu ihm gedreht habe, wie ich mich mit meinem dicken, schwerfälligen Leib an ihn schmiegen wollte und wie er sich immer wieder von mir abwandte. »Ich hätte es verstanden. Du hättest es mir doch sagen können! Du hast getrauert, Marc. Ich wusste doch, was du -«
»Non, Annie!«
Sein Schrei erschreckt mich, donnernd hallt das Echo durch das Kirchenschiff, es lässt meine Trommelfelle und mein Herz erzittern - und bringt die Blumenfrau zum Verstummen. Ihre Hände erstarren. »Tu ne comprends pas, Annie! Ich konnte es dir einfach nicht erklären. Du hast dauernd gesagt, du würdest es verstehen, aber ich habe immer gedacht: wie denn?«
Ich atme schwer, denn ich weiß, was jetzt kommt.
»Du hast keine Familie gehabt. Du hast ja nicht mal mit deiner eigenen Mutter geredet!«
Zerstreut beobachte ich, dass die Blumenfrau sich umdreht und uns endlich allein lässt. Ich kann Marc nicht ansehen. Dieser Schmerz, diese Kränkung, ist unerträglich.
»Als ich das mit meinem Vater erfahren habe, habe ich mich so allein gefühlt. ich war so wütend. ich hatte Angst, Annie.«
»Und du dachtest, ich hätte das nicht gewusst?«, flüstere ich.
»Du warst ja schwanger. Du warst so glücklich. Du warst so ... complète.«
»Vollständig?«
»Du hast keine Familie gebraucht -«
»Ich habe dich gebraucht, Marc.«
»Du hast mich nicht gebraucht. Du hast nie jemanden gebraucht, Annie!«
Da spüre ich es - als wäre ich sehr, sehr weit Weg, als schwebte ich irgendwo hoch oben, beim heiligen Antonius. »Hallo!«, rufe ich dem jungen Mann unten zu. »Kannst du mich bitte von hier oben herunterholen?« Aber er hört mir nicht zu. Also hänge ich hier oben fest. Ich kann nur zuschauen, wie die junge Frau unten durch das Kirchenschiff und weiter durch die Tür nach draußen rennt.
Und daher kann ich ihm nicht sagen, wie sehr ich ihn brauche - wie nötig ich ihn brauche -, denn ich hänge hier oben fest, ganz weit Weg.