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Wenn ich darüber lachen könnte, würde ich das tun. Denn das ist der Witz an der Sache - was da zwischen Marc und Beattie passiert ist, ist eigentlich gar nicht passiert. Jedenfalls noch nicht.
Aber das hat Marc nicht bedacht.
Genau genommen geht dieser Spaß also auf seine Kosten, das ist mir klar. Er ist der Angeschmierte, denn er hätte es gar nicht beichten müssen. Aber gerechterweise muss man wohl sagen, dass er als Mann überhaupt nicht auf den Gedanken kam, mit dem geheimnisvollen Liebhaber könne jemand anders gemeint sein als er. Weil Marc eben Marc ist, nahm er einfach an, dass er der Einzige sei, der es mit meiner besten Freundin getrieben hatte.
Er erzählt es mir.
Still, ganz still sitze ich am Küchentisch. Die Worte sprudeln nur so aus Marc heraus, als seien die Schuldgefühle wegen dieses schmutzigen Geheimnisses, das er mir so lange verschwiegen hat, eine schwere Last, die er jetzt endlich abschütteln kann.
Und ich bin sein Beichtvater. Mich kann nichts mehr verletzen - inzwischen stehe ich über allem.
Es ist eine Geschichte aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit - wie eine Sage, denn schließlich hat es gar nicht stattgefunden. Was Marc mir erzählt, ist einfach der fehlende Teil einer Geschichte, die ich schon gehört habe. Die herausgerissenen Seiten sind endlich gefunden. Ich kenne die Wörter alle - wie Charlie, wenn er als kleiner Junge seine Lieblingsgeschichte aufsagte, Bananas in Pyjamas. ich kenne alle Anfänge und Übergänge. Ich erinnere mich, wie es war - wie Marc damals gewesen war, als er in Sydney in diese düstere Depression und Sprachlosigkeit verfiel, sich von einem fröhlichen jungen Mann in einen völlig anderen Menschen verwandelte. »Er trauert«, hatte Beattie damals zu mir gesagt. Und ich selbst hatte mir das auch eingeredet, ja, er trauerte.
Beattie war auf der Beerdigung seines Vaters.
Ich bin sprachlos - ich erinnere mich an das verlegene Schweigen der beiden in den folgenden Jahren, an das bemühte Lächeln, wenn sie zusammen waren. »Warum ist sie denn bloß zum Begräbnis gekommen, Marc?«, frage ich tonlos. »Warum nur? Ihr mochtet euch doch nicht mal besonders.«
Er schaut mich an. Und da wird es mir klar, natürlich: Sie ist katholisch. Beide sind katholisch. Beatties Glaube war stärker als alles andere. Sie ist aus alter Freundschaft da gewesen, denke ich. Sie ist zum Begräbnis des Schwiegervaters ihrer besten Freundin gegangen - das war richtig, das gehörte sich so.
»Du warst ja nicht da. Sie wollte an deiner -«
Ich hebe die Hände, spreche leise, aber mein Herz hämmert laut gegen die Rippen. »Verschon mich damit, bitte!«
Beattie rief ihn an und teilte ihm mit, sie werde kommen. Er holte sie vom Bahnhof ab. Sie ging mit in die Kirche in Ozouer, sie stand Marc auf dem Friedhof gegenüber und kehrte dann mit seinen Verwandten und Freunden in sein Elternhaus zurück. Und danach, als alle Gäste schließlich fort waren, brachte Marc sie wieder zum Bahnhof.
Aber Beattie verpasste ihren Zug.
Sie wurden am Bahnübergang aufgehalten. Das rote Licht blinkte, die Schranke ging herunter, und der Zug nach Paris donnerte an ihnen vorbei. Sie saßen im Auto auf dem Parkplatz, als die Sonne über Gretz unterging - über demselben Bahnhof, erinnere ich mich, vor dem Maurice einst Rosa ihre Einkäufe überreicht hatte, vor dem sie die ersten, verlegenen Worte wechselten, bevor er dann um sie warb.
Dort weinte Marc endlich, auf dem Fahrersitz des geparkten Wagens. Und ich denke zurück an den Mann, der neben mir in unserem Bett lag und sich von mir abwandte, als ich schwanger war und ihn berühren wollte - als ich ihm zu sagen versuchte, dass ich ihn verstand. Ich denke an den Mann zurück, den ich geliebt hatte. »Gar nichts verstehst du.« Das waren damals seine Worte gewesen. Aber jetzt ist mir klar, dass Beattie ihn verstand, natürlich. Sie begriff, was ich nicht nachvollziehen konnte. Ich hatte ja keine Familie. So hatte ich es ihm selbst erzählt.
Beattie verpasste den nächsten Zug, den übernächsten und auch den danach ...
»Mit mir wolltest du nicht reden, Marc.« Ich bin ruhig. Es ist schon so lange her. Aber trotzdem muss ich es wissen. »Wo seid ihr hingegangen?«
»Je suis désolé, Annie! Es tut mir so leid.«
Aber meine Hände fliegen wieder hoch, sie zittern, als ich sie mir vors Gesicht schlage. »Verschone mich damit, verschone mich, bitte! Sag mir einfach, wo du mit ihr hingegangen bist.«
Ich weine, die Tränen strömen mir über die Wangen, während ich mich vor und zurück wiege. Denn jetzt erinnere ich mich daran, wie Marc mich das erste Mal nach Ozouer mitgenommen hatte und ich ihn fragte: »Und wo findet das Nachtleben statt?«
»Tu verras!«, hatte er gesagt. Du wirst schon sehen. Hat Beattie das auch erlebt? Hat sie mit ihm im Gras gelegen? Haben sie anschließend gemeinsam in den Himmel hinaufgeblickt? Damals, in der Welt, die nicht mehr existiert ...
»Non, Annie«, sagt er. »Dahin habe ich sie nicht mitgenommen.«
Wieder hat er meine Gedanken gelesen, dieser Mann, der mein Herz geraubt und eine große, klaffende Wunde in meine Brust gerissen hat. Aber ich kann das jetzt nicht auf sich beruhen lassen - ich muss es wissen, selbst wenn er damit das Messer in der Wunde umdreht.
»Wohin hast du sie denn dann mitgenommen?« Ich schaukle immer noch, mit fest verschränkten Armen.
»Das spielt keine Rolle -«
Aber der Schmerz ist unerträglich. »Sag es mir!«, schreie ich.
Marcs Stimme ist ein Flüstern, aber ich höre ihn trotzdem - seine Worte hallen in meinen Ohren wider wie die Glocken von Ozouer. Sie läuten und läuten, dröhnend verkünden sie die Sünde der Ehebrecher: »In ein Hotel, Annie.«
Endlich hat er es gestanden. Aber ich verzeihe ihm nicht. Ich werde ihm niemals verzeihen. Er hat mich betrogen. Er hat Charlie betrogen. Sie haben uns beide betrogen.
Als Mädchen habe ich manchmal meine Mutter betrachtet und mich gefragt, wie sie wohl gewesen sein mochte, bevor mein Vater starb.
Wenn meine Mutter gerade nicht in meine Richtung schaute, kniff ich die Augen zusammen und hielt mir die Fäuste wie ein Fernglas davor. Dann konnte ich es sehen. Ich sah, wie schön sie war, wie schön sie gewesen sein musste. Wie eine dunkelhaarige Marilyn Monroe. Der Dreh- und Angelpunkt von Marilyns Schönheit, ihre raison d'être, war ihr Flachsblond, das wusste ich - aber meine Mutter ähnelte ihr trotzdem. Meine Mutter war ihre Norma-Jean-Seite, das junge Mädchen auf den Fotos, das kein Make-up trug, keine harten schwarzen Linien um die Augen und keinen knallroten Lippenstift. Meine Mutter war Norma Jean, die barfuß in einer weißen Bluse am Strand entlangspazierte, Norma Jean, die nach ihrer Fehlgeburt mit diesem traurigen, verletzlichen, sanften Blick aus dem Krankenhaus kam.
Also sagte ich mir, dass meine Mutter hinter ihrer Wut, hinter der harten Fassade, der kantigen Filmstar-Maske, einer ungeschminkten Marilyn Monroe glich - mit ihren großen braunen Augen, den dunklen Locken, die ihr Gesicht einrahmten, und den schmalen Schultern in dem ärmellosen Baumwollkleid. Dieses schlichte weiße Kleid mit der Passe, welche die Rundung ihrer Brüste betonte, hatte ich am liebsten gemocht.
Als Grandma mir die Wahrheit über meinen Vater erzählte, fragte ich mich daher immer wieder, wie er es fertiggebracht hatte, Knie an Knie mit einer anderen Frau im Café zu sitzen. War ihm nicht aufgefallen, wie schön Mummy war? Wusste er nicht, was er für ein Glückspilz war, weil er sie bekommen hatte? Hatte er nie darüber nachgedacht, dass es sie vernichten würde?