Tour Efele
21

 

Marcs Eltern, Rosa und Maurice, lernte ich schon ganz früh in unserer Beziehung kennen. Wir waren an einem Wochenende im April aufgebrochen, hatten die Großstadt hinter uns gelassen und waren in südöstlicher Richtung aufs Land gefahren, wo sie lebten. ozouer-le-Voulgis ist bloß etwa vierzig Kilometer von Paris entfernt, aber wenn man einmal dort ist, hat man das Gefühl, im Nirgendwo gelandet zu sein. Die Landschaft da draußen ist flach - platt wie eine Briefmarke. Geht man die Straße, die nach Ozouer hineinführt, entlang, kann man kilometerweit sehen - man hat einen freien Blick vom Friedhof über die Mais- und Rote-Bete-Felder bis hin zur Kirche und dorfauswärts auf weitere Felder mit Mais und Rote Bete. Das Dörfchen hat eine Post, ein Café, einen Laden, eine boulangerie und mehr nicht. Der Bahnhof wurde schon vor langer Zeit stillgelegt. Dafür gibt es zwei Friedhöfe - das sagt alles.

»Hier bist du also aufgewachsen?«, neckte ich Marc, als er mich zum ersten Mal aufs Land mitgenommen hatte. Ich spielte die Großstädterin nur zu gut. »Wo findet denn das Nachtleben statt?«

»Tu verras.« Er lächelte.

Am Abend nahm Marc mich mit an den Fluss. Die Sonne ging gerade unter, und wir legten uns in das hohe Gras am Ufer, sodass die Fischer auf der alten Holzbrücke, die etwa zweihundert Meter weiter den Fluss überspannte, uns nicht sehen konnten.

Und da erlebte ich Ozouers Nachtleben.

»Der Himmel«, sagte Marc anschließend, als wir auf dem Rücken im feuchten Gras lagen und nach oben schauten, fröstelnd, aber zufrieden. »Siehst du's jetzt? das ist das Nachtleben in Ozouer.«

Er hatte recht. das Schönste an ozouer ist der Himmel. Egal, wo man gerade ist, wenn man über das weite, flache Land schaut, wölbt der Himmel sich darüber wie eine riesige Kuppel, ein Paradies für Astronomen.

Auf dem Heimweg kamen wir im Dunkeln an einem der beiden Friedhöfe vorbei. Nur das Licht des Vollmonds wies uns den Weg. Marc drückte mir die Hand. »Mes grands-parents et mes arrière-grands-parents liegen da. Möchtest du sie kennenlernen?«

»Nein!« Kichernd riss ich mich los, fing an zu rennen und schrie, als Marc hinter mir herlief.

»Tu en es sûre, Annie? Du willst sie wirklich nicht kennenlernen? Ich bin sicher, dass sie dich sehr gern kennenlernen würden!«

Marcs Eltern lebten mitten im Dorf in einem alten Bauernhaus, das sein Ururgroßvater Ende des achtzehnten Jahrhunderts gebaut hatte. Wenn wir Jahre später von Australien nach Frankreich gereist waren, verschwand Charlie dort stets stundenlang auf dem Dachboden. Er durchwühlte die uralten Koffer, die verstaubten Kartons mit altem Holzspielzeug und die Stapel von Comic-Heften, zwischen deren zerfallenden, vergilbten Seiten Spinnennetze klebten - eine Schatzkiste für ein Kind.

Ich erinnere mich an unser erstes gemeinsames Wochenende in Marcs Elternhaus, wie ich in seinem ehemaligen Kinderzimmer aufwachte und die Sonne durch die Glastüren flutete, die in den Garten führten. Bevor Marc erwachte, schlich ich im Zimmer umher. Ich erkundete die Bücher auf den Regalen, die noch aus seiner Kindheit stammten, sowie seine Sammlung von Modellautos und Kampfflugzeugen und betrachtete seine Plastiksoldaten, die in verblichenen Schokoladenkartons der Firma Poulain lagen; einen Stapel Zeichnungen von einem kleinen Jungen - Autos und Pferde und Soldaten, die sich mit Gewehren und Kanonen grausige Schlachten lieferten; und spätere Zeichnungen, offenbar aus Marcs turbulenter Teenagerzeit - Bilder von jungen Frauen mit riesigen Brüsten, die wie prall gefüllte Ballons von den Seiten aufstiegen, als wollten sie gleich platzen.

Später an diesem Vormittag waren wir mit Maurice zur boulangerie hinunterspaziert, nur etwa hundert Meter die Straße entlang, gleich gegenüber von der Dorfkirche, deren Glocken laut zur Sonntagsmesse riefen.

Maurice war ein schweigsamer Mann, so wie Marc, nehme ich an. Mir hatte er jedenfalls nicht viel zu sagen. Schließlich war ich ein fremdartiges Wesen aus einem fernen Land, das um seinen Sohn warb und ihn schließlich auf die andere Hälfte der Erdkugel locken würde. Maurice beobachtete uns kopfschüttelnd.

Aber Rosa, eine zierliche Frau mit dunklen Augen und grauem Haar, das einmal so schwarz gewesen war wie das ihres Sohnes, setzte sich mit mir in den Garten und erzählte mir Geschichten über Marc und die Welt, in der er aufgewachsen war. Sie brachte stapelweise staubige Alben heraus und zeigte mir Schwarzweißfotos, gestellte Aufnahmen von Marcs Vorfahren, von seiner Urgroßmutter Morvan, die aufrecht und stattlich in einem langen schwarzen Kleid vor der Kamera stand. Ihre Züge waren so starr wie ihr Stahlkorsett. Offenbar war jemand gestorben.

Marc und seinen Vater zusammen zu beobachten war interessant. In stillem Einvernehmen schlenderten sie nebeneinander durch den Garten und kommunizierten wortlos. Zwischen ihnen herrschte ein zwangloses Schweigen, wie ich es zwischen mir und meiner Mutter nie erfahren hatte. Maurice war kleiner und stämmiger als sein Sohn, aber in ihren Gesichtern sah man die Ähnlichkeit. Sie besaßen die gleichen klaren, ebenmäßigen Züge, diese Strenge, die ich an Marc sofort so anziehend gefunden hatte. Er war der schöne dunkle Ritter, dessen blaue Augen durch das Visier seiner silbernen Rüstung hindurch ein Loch in mein Herz gebohrt hatten.

Und was hat rosa an Maurice anziehend gefunden?, fragte ich mich. Als junge Frau hatte sie den Zweiten Weltkrieg miterlebt - das war eine andere Welt gewesen, eine andere Zeit. Aber genau wie ich hatte sie ihren zukünftigen Ehemann in Paris kennengelernt. Sie war an der Gare de l'Est in den Zug um achtzehn Uhr sechs eingestiegen, um heimzufahren in das Städtchen Gretz, das ebenfalls südöstlich von Paris liegt. Rosa war müde, denn sie hatte im Hôpital Lariboisière eine Doppelschicht hinter sich gebracht. Als Maurice einstieg und sich neben sie setzte, hatte er ihr mit einem Lächeln »Bonsoir« gewünscht. Aber das war auch alles. In jenen Tagen waren die Männer höflicher als heute. Während der restlichen Fahrt sprachen sie nicht miteinander. Nicht, dass Maurice nicht darüber nachgedacht hätte, gestand er ihr später - dieser zierlichen jungen Frau mit den großen braunen Augen, die sein Lächeln erwidert hatte.

Beim Aussteigen merkte sie noch nicht, dass sie ihre Einkaufstasche oben auf der Gepäckablage vergessen hatte. Erst als sie bei ihrem Fahrrad angelangt war, das am Bahnhof stand, fiel es ihr auf. In Frankreich herrschten damals nach dem Krieg schwere Zeiten, die Bevölkerung litt unter Entbehrungen. Folglich schimpfte die junge Rosa wegen ihrer eigenen Dummheit laut mit sich selbst und nahm dabei kein Blatt vor den Mund. Erst der Anblick von Maurice, der nur ein paar Meter entfernt verlegen mit ihrer Einkaufstasche stand, verschlug ihr die Sprache.

Jahre später lachten die beiden über diese seltsame erste Begegnung. Maurice hatte ihr nämlich einfach die Tasche überreicht, die Mütze gezogen und war dann zu Fuß nach Hause gegangen - eine weite Strecke, denn er war eine Station zu früh ausgestiegen. Und Rosa hatte sich nicht einmal für seine Mühe bedankt. Jedenfalls nicht sofort, sondern erst am nächsten Abend, als er in denselben Zug stieg, in genau denselben Wagen, und sich wieder auf denselben Platz setzte ... genau wie sie.

Erst viele, viele Besuche später fiel mir auf, dass Maurice plötzlich alt wirkte, er schien über Nacht gealtert zu sein. Er war krank, aber damals wussten wir das noch nicht. Rosa erzählt die Geschichte immer und immer wieder. Er war damals erst neunundfünfzig, hatte nur noch ein Jahr zu arbeiten bis zur Rente. Er fühlte sich müde, unendlich müde, wollte jedoch nicht zum Arzt gehen. »Er hat Ärzte immer gehasst«, erklärte sie. Eines Tages konnte er einfach nicht mehr aus dem Bett aufstehen.

Er starb, kurz nachdem Marc und ich nach Australien abgereist waren.

Ich überlegte oft, ob Marc mir in irgendeiner Weise die Schuld daran gab ... ob er glaubte, wenn er in der Nähe geblieben wäre, hätte er etwas tun können, hätte er den Tod seines Vaters verhindern können.

Aber andererseits - war es nicht einfach Schicksal? Ob Marc sich nun in Australien oder in Frankreich aufhielt, spielte letztlich keine Rolle. Sein Vater lag im Sterben. Leukämie, hieß es. »Hätten wir ihn doch nur dazu gekriegt, eher zum Arzt zu gehen«, hatte Rosa geklagt. Aber hätte das geholfen?, fragte ich mich.

Maurice starb.

 

»Wie geht's ihm denn, Marc?«

Die Frage war blödsinnig, ihre Einfachheit und ihre Implikationen waren grotesk. Aber ich wusste nicht, wie ich sie anders formulieren sollte, denn ich wollte behutsam vorgehen. Doch in meiner Panik hatte ich Boxhandschuhe angezogen. Es war der Gedanke an Marcs Vater, an diesen Mann, der ihm so viel bedeutet hatte, dessen Tod eine große Wunde in seinem Herzen hinterlassen und eine breite Kluft zwischen uns aufgerissen hatte ...

Er lebte noch.

Wir hatten das Panis verlassen und den Quai de Montebello überquert, um an der Station Saint Michel die Metro zu nehmen und zurück zur Arbeit zu fahren. Als wir die Treppe erreichten, die in das unterirdische Tunnellabyrinth führte, schob ich meine Hand in seine und zog ihn zur Seite, während die mittäglichen Pendler wie wild gewordene Ameisen hinter uns drängelten. Er hatte meine Frage noch nicht beantwortet.

»Marc?«

Nichts, nur ein Seufzer, als entwiche Luft zischend aus einem Schnellkochtopf.

Wir standen an der Mauer am Seineufer. Unter uns Wand sich die blaugraue Schlange. Jenseits davon, auf der Ile de la Cité, erhob sich im unheimlichen Licht dieses stürmischen Dienstags Notre-Dame. Die Kathedrale wirkte wie die weißen Märchenschlösser auf den Bildern, die ich als Kind eingehend studiert hatte.

»Was hat er gesagt, Marc? Worüber habt ihr gesprochen?«

Marc schob die Hände in die Taschen und bewegte die Schultern, um die Kälte abzuwehren. »Über nichts Besonderes.«

Als ich sein halbes Lächeln sah, dieses jungenhafte Lächeln auf seinem jungen Gesicht, hätte ich am liebsten geweint. Das war Charlies Gesicht. Ja, es waren sogar Charlies Worte - diese Worte, die wir seither beide übernommen hatten, die Zauberformel, mit der alles gesagt war: Ich will nicht darüber reden. Jetzt jedoch wollte ich dieses Spiel nicht mitspielen. Das Thema war mir zu wichtig.

»Was heißt das denn, Marc: nichts Besonderes?«

Er zog die Hände wieder aus den Taschen und kehrte dem Fluss den Rücken zu. Mit verschränkten Armen, voller Abwehr, stand er schweigend neben mir.

Wieder erinnerte er mich an Charlie, wie er sich damals, mit drei Jahren, rundheraus geweigert hatte, seinen Batmananzug auszuziehen. Er hatte darauf bestanden, das schwarze Ding im Bett anzubehalten, obwohl es ihm zwei Nummern zu klein war, sodass er von Kopf bis Fuß in hautengem schwarzem Nylon steckte, und das mitten in einer Hitzewelle. Er hatte die Arme über der Brust verschränkt, trotzig, mit verschlossener Miene, genau wie jetzt Marc. Ich musste warten, bis Charlie eingeschlafen war, bevor ich ihm das Kostüm ausziehen, seine Ärmchen und Beinchen herausschälen konnte. Seine Haut war heiß und klebrig geworden, und ich hatte seinen wunderbar süßen Schlafduft eingeatmet.

»Ach, Marc.« ich legte ihm die Hand auf die Schulter und spürte, wie er sich unter meiner Berührung anspannte. »Können wir denn inzwischen nicht darüber reden?«