![Tour Efele](im001.gif)
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Ich warte an der Rezeption. Das junge Mädchen hinter dem Tresen sagt, ich solle mich doch setzen. Aber ich stehe lieber. Das Telefon klingelt. Sie nimmt ab, hört zu, nickt und legt wieder auf.
»Monsieur Vitali vous attend, Mademoiselle.« Sie lächelt höflich, als sie auf ihrem Drehstuhl herumschwingt und auf den Fahrstuhl zu ihrer Rechten deutet, mit dem ausdruckslosen Gesicht einer Stewardess, die vor dem Start Sicherheitshinweise gibt und für den Fall eines Absturzes auf die Notausgänge zeigt. »C'est au quatrième.«
Ich drücke den Knopf für den vierten Stock. Die Fahrstuhltüren schließen sich, und ich bin allein. Im Spiegel hinter mir überprüfe ich mein Aussehen. Ich sehe Grandmas Gesicht. »Du bist genau wie sie«, klagte meine Mutter immer. »Du bist schön«, sage ich mit einem ermunternden Lächeln zu meinem Spiegelbild. »Du kriegst das hin.« wie beim Pokern. Ich muss bloß die richtigen Karten ausspielen.
Der Aufzug öffnet sich zu einem wunderschönen, hohen Raum mit bodentiefen Fenstern. Der Blick auf die Rue Royale verschlägt mir den Atem. Kristallleuchter hängen an der Decke, luxuriös und extravagant. Es ist, als beträte man La Galerie des Glaces, die Spiegelgalerie im Schloss von Versailles. Der Raum wirkt eher wie ein Ballsaal als wie ein Büro. Aber schließlich ist »Mr Vitali kein gewöhnlicher Kunde«, wie die Schneekönigin zu sagen pflegte, daher ist dies auch kein gewöhnliches Büro. Und Moratel ist eines der renommiertesten und einflussreichsten französischen Unternehmen in der Telekommunikationsbranche.
Eine Frau eilt auf mich zu. Das leichte Pochen ihrer Pumps auf den blank gebohnerten alten Bodendielen erinnert an das Steppen irischer Tänzer. Sie ist tadellos gekleidet: ein gut sitzender Rock mit einer Jacke, die ihrer Figur schmeichelt. Der Schnitt dieses Kostüms ist einfach perfekt, genau wie sie selbst. Das Gesicht ist künstlich gebräunt (in Europa ist schließlich erst April), und das aschblonde Haar hat sie zu einem Knoten frisiert, jedes Strähnchen liegt an seinem Platz. Das muss Carlos persönliche Assistentin sein.
»Mademoiselle MacIntyre.« Sie lächelt, als würde sie mich gut kennen, als wäre ich eine alte Freundin. »Monsieur Vitali vous attend.«
Er erwartet mich. das hat mir das junge Mädchen an der Rezeption auch gesagt. Während ich durch den Ballsaal und durch einen zweiten, ebenso eindrucksvollen Raum in einen weiteren Saal geführt werde, male ich mir aus, wie Carlo mich erwartet. Ich stelle mir vor, wie er hinter seinem Schreibtisch sitzt und mit dem Stift gegen die polierte Kante klopft, splitternackt. Dieser Gedanke gibt mir Kraft und Mut und bestärkt mich in der Überzeugung, dass ich das Richtige tue.
Allerdings ist er heute vollständig angekleidet. Und als seine Assistentin mich hineingeleitet und mit einem diskreten Klicken die Tür hinter mir schließt, habe ich das Gefühl, dass niemand uns stören wird, auch ohne dass Carlo darauf hinzuweisen braucht. Er steht auf, kommt um den Schreibtisch herum und geht mit ausgestreckten Armen auf mich zu, als wolle er mich zum Tanzen auffordern. Sein Lächeln ist betörend, es haut mich fast um. Mir wird bewusst, dass er keine Ahnung hat.
»Anna!«
»Carlo.« ich erwidere sein Lächeln.
Meine Knie werden ein wenig weich, aber sonst ist alles in Ordnung. Ich ergreife seine ausgestreckte Hand, und er zieht mich an sich, presst den Mund auf meine Lippen, leidenschaftlich. Seine Hand liegt fest auf meinem Rücken, so als gehöre ich ihm und als gehöre er ausschließlich mir. Dabei geht es mir weniger gut als noch vor einer Sekunde, vor allem, als seine Zunge sich für einen kurzen Moment in meinen Mund schiebt. Aber gleich wird es bestimmt besser ...
»Anna!« Carlos Hände liegen jetzt besitzergreifend auf meinen Hüften. Er hält mich von sich fort, gerade so weit, dass er den Blick über mein Gesicht und meinen Körper wandern lassen kann. »Anna, ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Du warst heute Morgen nicht da. Bist du krank?«
»Es geht mir schon wieder besser.«
Er schaut mir in die Augen, die Hand auf meiner Wange, eine kurze, wortlose Geste, als sei er tief bewegt - ein geübter Spieler. Er hakt mich unter und führt mich in eine Ecke seines Büros, die wie die Ausstellungsfläche eines exklusiven Innenarchitekten wirkt: ein Sofa von Brunati, rechts und links davon je eine Leuchte von Tolomeo und gegenüber zwei Clubsessel im Stil der dreißiger Jahre. In der Mitte, auf einem Couchtisch aus Glas, steht ein luxuriöses Blumenarrangement - wie aus Elle Décor. Ich wähle einen Sessel, obwohl ich das Gefühl habe, dass Carlo mich eher in Richtung Brunati steuert. Als ich in das weiche Leder sinke, zieht er den anderen Sessel näher heran.
Er setzt sich, rückt aber so dicht heran, dass unsere Knie sich berühren.»So, Anna ... Was für eine wunderbare Überraschung!«
Ich warte darauf, dass er mich fragt. Und das tut er auch.
»Aber sag mal, was führt dich zu mir?« Mit einer ausholenden Armbewegung deutet er auf den Raum. »In mein Büro? Das Vergnügen habe ich ja noch nie gehabt!«
Ich frage mich, ob es tatsächlich ein Vergnügen für ihn ist, denn es stimmt, dass ich mich bisher nicht dorthin getraut habe. Wir haben uns ausschließlich an den von ihm bestimmten Orten getroffen, und zwar dann, wenn er es für richtig hielt, wenn es ihm gerade passte, und das war nie in seinem Büro. In stillschweigendem Einvernehmen hatte ich mich bei unserer Affäre immer ganz nach ihm gerichtet. ich war die perfekte Geliebte.
»Du darfst ihnen nie das Gefühl geben, dass du ihnen sicher bist«, hatte Grandma gesagt. Doch, genau das Gefühl hatte Carlo - aber damit ist jetzt Schluss. Es ist Zeit, dass ich meine Karten ausspiele.
Ich greife in meine Handtasche. »Ich bin hier, weil ich dich um eine Stelle bitten möchte. Und weil ich dir das hier zurückgeben will, Carlo.«
Er beobachtet mich, ist erst mal unsicher. Aber als ich die goldene Schachtel vor ihm auf den Tisch lege, schüttelt er den Kopf. »Nein, Anna, ich möchte, dass du sie behältst - als Geschenk.«
»Tut mir leid, Carlo.« Meine Stimme ist fest. »Aber ich will sie nicht haben.«
Er lächelt - sein altes Alberne-seltsame-Anna-Lächeln. »Ach, Anna! Warum denn nicht?«
Da ist es wieder - sein verführerisches, schönes Lächeln, das sein ganzes Gesicht leuchten lässt. Und schon möchte ich wieder die alte, alberne, seltsame Anna sein und etwas sagen, etwas tun, das ihm Freude macht, das sein Interesse weckt, und wenn auch nur, um ihn sagen zu hören: »Wirklich, Anna?«
Aber ich schüttle den Kopf. »Du solltest sie Beattie schenken, Carlo.«
Da entdecke ich ein Flackern in seinen Augen. »Beattie?«
Ich nicke. »Beattie.«
»Aha ...« Und sein schönes Lächeln verschwindet.
Damit hat er überhaupt nicht gerechnet. Das ist gegen die Spielregeln. Es kommt mir vor, als wäre eine Maske gefallen. Das Verspielte in seinen dunklen Augen ist wie ausgelöscht. Er lehnt sich zurück, legt die Hände auf die Armlehnen des Sessels und trommelt mit den Fingern auf das weiche Leder.
»Ich hatte mich schon gefragt - als du heute nicht gekommen bist ... Anna, es tut mir so leid. Ich habe dir wehgetan, glaube ich.«
Ich bin überrascht, überwältigt von seiner Aufrichtigkeit. Das hatte ich nicht erwartet - dieses rasche Geständnis und seine Entschuldigung. Mit seiner Ehrlichkeit hat er mich genauso überrumpelt wie ich ihn mit meinem unvermuteten Erscheinen.
Plötzlich beugt er sich wieder vor und hebt die Hand zu meinem Gesicht - eine Liebkosung. »Ich bin ein alter Esel, Anna.«
Seine warme Hand streichelt über meine Wange, seine Stimme ist sanft. Ich spüre, wie meine unterschwelligen Gefühle sich melden, wie verräterische Tränen aufsteigen. Er ist nicht der einzige Esel hier, denke ich. Denn jetzt verstehe ich es - ja, als ich ihm in die Augen sehe, als ich prüfend sein Gesicht betrachte, wird mir endlich klar, was mich anfangs so verlockt hat, warum ich mich vor langer Zeit in ihn verknallt habe - was es mit diesem undefinierbaren Etwas, dem Zauber dieses Mannes auf sich hat. Es war nicht sein Hang, über die Stränge zu schlagen, nein, überhaupt nicht. Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Mir ist, als sähe ich ihn zum ersten Mal - das dunkle Haar, die Augen, das sanfte Lächeln.
Ich war auf die andere Seite der Erde geflohen, war vor meiner Mutter, vor dem Tod meiner Großmutter davongelaufen und hatte genau das gesucht, wovor meine Mutter mich gewarnt hatte. Und ich hatte mich in diesen viel älteren Mann verliebt, der dem Mann auf dem Foto so ähnlich sah - dem einzigen Foto, das ich von meinem Vater besitze.
»Sag mir, Anna, wie kann ich dir helfen? Wie kann ich das wiedergutmachen?«
Lächelnd richte ich mich auf. Inzwischen bin ich älter. Allmählich werde ich klug, endlich. »Einfach eine Stelle, Carlo.« ich finde, das ist er mir schuldig. »Und keine Geschenke mehr.«
Er nickt. »Nein, keine Geschenke mehr.«
Dieses Mal haben wir eine Abmachung - keine Einladungen zum Essen mehr, keine Bedingungen.
Als ich ins Hotel zurückkomme, liegt dort eine Nachricht für mich. Madame überreicht mir einen rosa Zettel. Carlo hat offenbar keine Zeit verloren.
Die Nachricht ist von Beattie.
Sie hat es schon dreimal probiert. Ich muss lächeln. Es ist erst eine Stunde her, dass ich sein Büro verlassen habe. Ihre Botschaft ist einfach.
Ruf mich an!
Mach ich aber nicht.
Gerade als ich zum Frühstück die Treppe hinuntersteige, klingelt das Telefon.
»Oui, un moment s'il vous plaît«, höre ich Madame sagen.
Mir wird klar, dass es für mich ist, denn nun schweigt sie; vielleicht horcht sie auf meine Schritte. Das muss Beattie sein. Ich will nicht mit ihr sprechen. Auf der drittletzten Stufe zögere ich, im Begriff, umzukehren und die Treppe wieder hochzuschleichen. Aber es ist zu spät.
»Mademoiselle Muucinntiire!«
Madame nickt mir zu, als ich den Kopf um die Ecke strecke. Mit ihrer Zigarette fuchtelnd, deutet sie auf die Telefonzelle, während ihr Pudel die Asche anbellt, die auf den Tresen fällt. Der Geschäftsmann beobachtet mich aus seiner Ecke im Frühstückszimmer, wobei er ungeduldig auf den Tisch klopft. Er will sein Croissant. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als den Anruf entgegenzunehmen.
»Mademoiselle MacIntyre?«
Ich erkenne die Stimme sofort. Das ist nicht Beattie. Erleichtert seufze ich auf. Es ist Carlos Assistentin.
Ich habe mir eine Stelle besorgt. Morgen fange ich als Unternehmenssprecherin an. Wie Grandma immer gesagt hat: »Entscheidend ist nicht, was du weißt, sondern wen du kennst.«