Tour Efele
5

 

Zu Beginn des Winters war auch die Jagdsaison in vollem Gange. Wir konnten die Jäger in den Wäldern rings um Lherm hören: ihre Rufe, das aufgeregte Gebell der Hunde, wenn sie ihre Beute gestellt hatten, und die Gewehrschüsse.

Wie sollen wir denn jetzt spazieren gehen, ohne abgeknallt zu werden?, fragte ich mich.

Jeden Sonntagabend parkten Andre, der Sohn des Bürgermeisters, und seine Kumpel mitten im Dorf. Das Jagdfieber hatte ihre roten Wangen noch tiefer gefärbt, und sie klatschten in die blutigen, aufgescheuerten Hände - Zeit für ein Bier. Sie hatten es sich verdient, denn hinten in ihrem geländewagen, neben dem Stapel Gewehre, lag ein toter Hirsch oder ein Wildschwein, wenn sie ganz viel Glück gehabt hatten. André war selbst ein großes wildes Tier, mit einem dröhnenden Lachen, das Tote aufwecken konnte, ein behaarter Riese mit dunklem Schopf und Händen so dick wie Quallen. Ich wunderte mich, dass er es überhaupt schaffte, den Finger durch den Abzug zu schieben. Charlie verpasste ihm den Spitznamen le Géant, der Riese.

Unsere Finanzmittel waren inzwischen fast erschöpft. Doch am Haus blieb immer noch ganz viel zu tun. Und uns stand ein Winter ohne Zentralheizung bevor. Monsieur Martin schüttelte den Kopf und lachte sein zahnloses Lachen, wobei er uns mit dem Finger drohte. »Attention, hein, les Australiens. Ça va geler!« Ohne Zentralheizung würden wir die frostige Jahreszeit keinesfalls überstehen, warnte er, schon gar nicht, wenn das Thermometer bis auf minus fünfzehn Grad sinken würde, so wie im letzten Jahr. »Minus fünfzehn?«, flüsterte ich. »Meint er das ernst, Marc?« Doch, offensichtlich ja.

Also kauften wir uns einen großen alten Holzofen. Marc warb den Riesen und seine Jagdkumpane als Helfer an, um den Ofen die Vordertreppe hinaufzuschleppen. Als André durch das Haus stampfte, knarrten und bebten die Dielen aus lauter Protest. Er hätte den Ofen auch allein tragen können, wenn man ihn dazu angestachelt hätte.

»Voilà!«, rief Marc, als sie das Monstrum schließlich behutsam vor dem Kamin abgesetzt hatten. »Der wird uns im Winter warm halten.«

Das schallende Gelächter des Riesen ließ die Fensterscheiben klirren.

Etwa zu der Zeit wurde mir schmerzhaft bewusst, dass mein Lehrerdasein doch kein Remake von Junge Dornen werden würde. Ich kämpfte auf verlorenem Posten. Dafür, dass sie Teenager waren, waren meine Schüler zwar ganz nett, aber eigentlich wollten sie nichts weiter, als draußen in ihren Autos sitzen, eine clope paffen und mit ihren Handys telefonieren. »A quoi ça sert?«, jammerten sie immer, wenn ich ein Gespräch auf Englisch in Gang zu bringen versuchte. Schließlich fragte ich mich genauso wie sie: Wozu soll das gut sein? Ich konnte ihnen nur eine begrenzte Anzahl von Geschichten über Australien vorsetzen, bevor sie das Interesse verloren und ihre Tabakdröhnung brauchten. Eine Kurznachricht auf dem Handy war offensichtlich ungleich spannender, sodass ich irgendwann sogar überlegte, ihnen übers Handy Englischunterricht zu erteilen, per SMS. Das System hatte sie schon vor langer Zeit aufgegeben. Und ich war für sie nur ein bisschen leichte Unterhaltung, während sie sich durch die Hintertür davonmachten - eher eine Mary Poppins als ein Sydney Poitier.

Selbst die Fahrten nach Cahors und zurück bekamen etwas Albtraumhaftes. Die Landschaft war natürlich immer noch schön, aber es war eher eine strenge, mystische Schönheit - schwarz zeichneten sich die Bäume mit ihren kahlen, krummen Ästen vor dem dämmrigen Himmel ab. Charlie saß zwar nach wie vor neben mir, doch die Dunkelheit verschlug ihm die Sprache. Ich erinnere mich an einen Abend, als die Sonne bereits unwiderruflich in ihrem Nachtquartier verschwunden war und wir die Straße nach Lherm hinauffuhren.

»Whoa!«, rief Charlie plötzlich. Ich war so erschrocken, dass ich eine Vollbremsung hinlegte. Mit quietschenden Reifen kam der wagen zum Stehen. »Guck mal!«

Es stand vor uns, direkt vor uns, regungslos. Mit ausdruckslosem Blick, von den Scheinwerfern verwirrt, starrte es uns an. Noch nie hatte ich ein Reh aus solcher Nähe gesehen - Kängurus, ja klar, Unmengen von Kängurus, aber noch nie ein Reh. Es war so zierlich - die Beine wirkten angespannt wie feine Sprungfedern. Und ich musste an Andre und seine Kumpel denken, diese blöden Scheißkerle, die in ihren dreckbespritzten Geländewagen hupend durchs Dorf röhrten, ganz in Natogrün gekleidet, schießwütige, idiotische Machos.

Ich schaute Charlie an, der das Reh schweigend beobachtete und dabei selbst so still verharrte wie das Tier. Doch dann warf er mir einen raschen Blick zu, und seine Augen funkelten in der Dunkelheit.

»Ich weiß, wie es sich fühlt.«

»Wie was sich fühlt, Charlie?«

Er deutete mit dem Kopf auf das Reh. »Ich weiß, was es denkt, wenn sie hinter ihm her sind ... wenn sie es aufstöbern.«

Warum hatte ich das nicht kommen sehen?

 

Als ich noch ein kleines Mädchen war, sagte Grandma zu mir: »wenn du dir etwas nur stark genug wünschst, passiert es auch, egal, was es ist.«

»Du meinst, dann muss ich nicht mehr zur Schule gehen?«

»Nein ...« Grandma schüttelte den Kopf. »Du musst dir etwas Gutes wünschen, etwas Positives.«

Aber als Kind verstand ich nicht richtig, was sie damit meinte. Nicht in die Schule zu müssen erschien mir als etwas überaus Gutes und äußerst Positives. Folglich musste es also irgendeinen Weg da heraus geben. »Aber was passiert, wenn ich mir ganz, ganz, ganz doll wünsche, dass ich nicht in die Schule muss?«

»Hmm. Lass mal überlegen!« Sie schwieg, als müsse sie tatsächlich sehr ernsthaft über meine Frage nachdenken. »Wenn du dir das ganz, ganz, ganz doll wünschst, hast du gesagt?«

»Ja.« Ich saß neben ihr auf dem Sofa, nickte aufgeregt und schlenkerte mit den Beinen. Auf Grandma konnte ich stets zählen, sie fand immer eine Lösung.

Sie klappte das Buch auf ihrem Schoß zu, und ich schaute sie erwartungsvoll an. Sie hatte ein schönes Gesicht. Ihre Haut erschien mir wie ein zarter, durchsichtiger Stoff, und die Äderchen darunter wirkten wie Pinselstriche, wenn man die Pinselspitze in Blau getaucht hatte. Leichte Pinselstriche auf einem schönen weißen Tuch.

»Also ...« Sie blickte mich mit ihren blauen Augen über die Brille hinweg an. »Ich glaube, sogar das könnte klappen, wenn du es dir nur stark genug wünschst.«

Da lächelte ich selbstzufrieden wie die Grinsekatze aus Alice im Wunderland. Aber Grandma hob die Hand. »Sei vorsichtig, Annie MacIntyre!«, warnte sie, während ich schon aufgesprungen war und anfing, wie ein Hulamädchen im Wohnzimmer herumzutanzen. »Du musst deine Wünsche immer klug wählen. Sonst stellst du möglicherweise eines Tages fest, dass du dir etwas gewünscht hast, was du dir niemals hättest wünschen dürfen.«

Ich kam nicht mehr dazu, sie zu fragen, was sie damit meinte, denn Mummy betrat das Zimmer. Sie zog den Staubsauger hinter sich her und war eindeutig sauer. Offensichtlich heckten wir beide mal wieder etwas aus.

»Warum setzt du dem Kind solche Flausen in den Kopf?«

Worüber wir gesprochen hatten, konnte Mummy bei dem Getöse des Staubsaugers gar nicht gehört haben, aber sie sagte das immer, egal, ob sie Grandma und mir zugehört hatte oder nicht.

 

Während unseres ersten Winters in Lherm fiel Schnee. Monsieur Martin, unser zahnloser Wahrsager, hatte behauptet, es werde nicht schneien: »Wir haben hier seit zwanzig Jahren keinen Schnee mehr gehabt.« Also wünschten Charlie und ich es uns mit aller Kraft. Und tatsächlich - der schwere graue Himmel ließ winzige weiße Tropfen fallen, sodass wir uns anfangs nicht ganz sicher waren. Doch dann schwebten sie herunter, große, nasse Flocken, die sich weich auf unsere Gesichter legten, denn wir standen draußen, Charlie mit ausgebreiteten Armen und offenem Mund, um sie zu begrüßen.

Am nächsten Morgen waren die Sträßchen auf dem Weg zur Hauptstraße, die nach Cahors führte, von dicken Schneewällen gesäumt. Dieses Bild erinnerte mich daran, wie ich als Kind in Australien einmal im Skigebiet von Thredbo angekommen war - diese Faszination, diese Begeisterung über all das Weiß, das aussah wie der Zuckerguss auf einem Kuchen, auf unserem Hochzeitskuchen.

Jedenfalls bis zu dem Morgen, an dem Marc das Eis von der Windschutzscheibe kratzte und zwischendurch beiläufig sagte: »Achte auf verglas

Ich hatte den Motor schon angelassen, damit das Gebläse die Scheiben frei machte und der Wagen warm wurde. »Was ist verglas?«

»Glace.«

Zuerst stellte ich mir Eiscreme vor, doch dann dämmerte es mir.

»Du meinst Eis auf der Straße?« Plötzlich ging mein Atem schneller. »Glatteis?«

Marc nickte. »Oui.«

»Cool«, sagte Charlie.

»Jetzt guck doch nicht so ängstlich, Annie!« Inzwischen war Marc mit seinem Kratzer an meinem Seitenfenster angelangt. Als die scharfe Kante auf dem Glas quietschte, kriegte ich eine Gänsehaut. »Fahr einfach langsam, très lentement, besonders in den Kurven, und was auch passiert, du darfst auf keinen Fall bremsen.«

Ich fragte mich, ob er Witze machte. Dafür, dass ich keine Angst haben sollte, gab es eine Menge zu beachten, fand ich. Nicht bremsen? wie soll ich denn dann anhalten?, überlegte ich.

»Was passiert denn, wenn ich bremse?«

Aber das hätte ich lieber nicht fragen sollen. »Tu vas déraper. Du kommst ins Schleudern.«

»Whoa!« Charlie hatte sich schon angeschnallt, bereit für das Abenteuer.

Und ich malte es mir sofort aus - wie ich mit dem Fuß auf der Bremse mit Charlie von der Straße verschwand. An der Stelle, wo der steile Abhang war, sausten wir zwischen den Bäumen hindurch abwärts, rutschten und rutschten, bis wir schließlich vor einem großen, schneebedeckten Felsblock liegen blieben.

An jenem Morgen erschien ich viel zu spät zur Arbeit, denn meine Höchstgeschwindigkeit hatte nur zwanzig Stundenkilometer betragen. Mein Beifahrer allerdings hatte sein Vergnügen, er fand, es war die beste und gruseligste Fahrt, die er je erlebt hatte, sogar besser als auf der Osterkirmes, und die ganze Zeit hatte er nach Glatteis Ausschau gehalten.

Aber wenn ich jetzt daran denke, war genau das das Problem - unsere Talfahrt hatte schon vor langer Zeit begonnen. Wir waren längst ins Schleudern geraten, und ich hatte es nicht einmal kommen sehen.

Das heimtückische Glatteis.