Tour Efele
3

 

Wir meldeten Charlie in der Grundschule an, einer kleinen Landschule, etwa zehn Kilometer von Lherm entfernt. Von außen wirkte sie überraschend nüchtern, ein hässliches Backsteingebäude aus den siebziger Jahren mit einem asphaltierten Schulhof dahinter. Ich hatte mir etwas Romantischeres vorgestellt - etwa ein altes Kloster mit hohen Decken in den Klassenräumen, auf einer großen grünen Wiese mit riesigen Feigenbäumen und üppigen Koppeln im Hinterland. Ich hatte mir ausgemalt, wie ein paar braune Stuten an den Schulzaun galoppiert kamen. Jeden Tag fütterten die Kinder sie mit Äpfeln, und nach der Schule ritten sie ohne Sattel.

Aber dort gab es keine Pferde.

Ich wusste, dass die Einschulung das Schwierigste an unserer Übersiedlung sein würde. Auf den ersten Blick sah Charlie zwar wie ein französisches Kind aus, und er hörte sich auch so an, denn er konnte Französisch sprechen. Allerdings konnte er die Sprache weder lesen noch schreiben, und er war anders. Er war Australier, blieb Ausländer, trotz seines französischen Vaters.

La rentrée, der Beginn des neuen Schuljahrs im September, rückte näher. Es war die verrückte Zeit, zu der alle Franzosen aus den Sommerferien nach Hause strömten und die Autobahnen als staugefährdet klassifiziert wurden, weil Wohnwagen und Autos mit Vierradantrieb und Dachgepäckträgern Stoßstange an Stoßstange fuhren oder standen. Als der Tag X für Charlie gekommen war und ich am Frühstückstisch saß und beobachtete, wie Marc sein Croissant in den Kaffee tunkte und Charlie seine Weet-Bix verschlang, durchfuhr mich der Gedanke: Von jetzt an wird er in der Schulkantine essen, jeden Mittag eine warme Mahlzeit, und ich habe vergessen, ihn vor dem Rinderwahnsinn zu warnen!

»Charlie, was immer du tust, iss kein Rindfleisch, kein bœuf, okay? Und auch kein Kalbfleisch, das heißt veau, klar? Und keine Spaghetti bolognese. Und Hackfleisch auch nicht, denn das -«

»Aber Spaghetti bolognese esse ich doch so gerne!«

Marc warf mir einen Blick zu, als wäre ich selbst ein wahnsinniges Rind. »Annie, s'il te plaît! La vache folle, c'est fini!«

»O nein, Marc - das ist überhaupt nicht vorbei. Das wollen die französische Regierung und die Fleischindustrie uns doch nur einreden. Das ist wie mit den Jägern!«

Marcs Croissant platschte in seinen bol, sodass der Kaffee an den Rändern überschwappte. »Mit den Jägern?«

Ich griff nach dem Baguette und dem Hefeaufstrich, denn ich wollte Charlie ein Sandwich machen, für alle Fälle. »Ja. Die Jäger sind so einflussreich, dass die Regierung in Frankreich niemals gegen die Jagd vorgehen kann ... und mit der Fleischindustrie und dem Rinderwahnsinn ist es doch das Gleiche.«

»Wie macht denn ein wahnsinniges Rind?«, fragte Charlie kichernd.

»Charlie, bitte, ich meine das ernst -«

»Bä-hh!«

Da wurde mir klar, dass die Themen Verschwörungstheorie und Rinderwahnsinn für den Frühstückstisch viel zu komplex waren. Dafür hatten wir keine Zeit.

»Iss einfach kein Rindfleisch, Charlie, klar?«

»Nicht mal Spaghetti bolognese?«

Wir brachten Charlie gemeinsam zur Schule. Es war nicht wie damals in Sydney, als er in den Kindergarten an der Paddington Public School gekommen war. Wir Eltern hatten uns nervös gackernd zusammengedrängt und unsere Kleinen beobachtet, die in ihren neuen, drei Nummern zu großen Schuluniformen und den glänzenden schwarzen Schuhen wie Entenküken loszogen. Sie waren so vertrauensselig, folgten ihrer neuen »Mutter« paarweise, Hand in Hand - sie waren noch in dem wunderbaren Alter, in dem Jungen einander an den Händen halten konnten, ohne als Schwule verspottet zu werden.

Inzwischen war Charlie natürlich älter, fast neun - also schon groß. Ich sah es an der Art, wie er dastand, während er darauf wartete, dass sein Name aufgerufen wurde: mit hochgezogenen Schultern, den Blick starr geradeaus gerichtet, ohne auch nur einmal zu mir herüberzuschauen, als wolle er sagen: »Wehe, wenn du dich als meine Mutter zu erkennen gibst!« Er musste Haltung beweisen. Also hatte Mr Cool einen Abstand zu uns gewählt, den er offenbar für beträchtlich hielt - er stand einen Meter von Marc und mir entfernt, die Hände in den Taschen der Jeans vergraben. Das bedeutete, dass ich meinen Part übernehmen und die Mutter eines großen Jungen spielen musste. Ich hatte mich zu benehmen und durfte nichts Peinliches sagen wie: »Soll ich dich in die Klasse begleiten und den Kindern erklären, dass sie besonders nett zu dir sein müssen, weil du aus einem anderen Land kommst?« Außerdem war ich jetzt eine Mutter mit einem komischen Akzent und einer lächerlichen Ausdrucksweise.

Der Schulleiter, ein kantiger Oberfeldwebel-Typ, der Gitanes rauchte, brüllte die Namen sämtlicher Schüler der Schule, einen nach dem anderen, um alle ihren neuen Klassen zuzuordnen. Also warteten wir schweigend, beobachteten, wie die Jungen zu ihren neuen Klassenkameraden hinüberschlurften, die Hände tief in den Hosentaschen, als wäre es ihnen total egal. Die Mädchen dagegen stießen aufgeregte Schreie aus und warfen im Hollywoodstil die Hände in die Luft, während sie eilig auf ihre allerallerbesten Freundinnen zustrebten und sie auf beide Wangen küssten.

Ohne Schuluniformen wirkten sie alle älter, jedenfalls älter als Charlie: Die Mädchen zeigten sich bauchfrei, mit tief sitzenden Hüftjeans und engen T-Shirts, während die Jungen alle nur erdenklichen Labels quer auf der Brust trugen und so viel Gel im Haar hatten, dass sie mit ihren kurzen Igelfrisuren Kriegsschiffe hätten versenken können.

Ich warf einen Blick zu Charlie hinüber. Nein, mit seinem weich gestuften Haar, das ihm dauernd in die Augen fiel, sah er überhaupt nicht wie seine zukünftigen Mitschüler aus. Er musste zum Friseur, aber er würde bestimmt nicht in denselben Salon gehen wie diese Typen hier.

Mir war eine Gruppe von Jungen aufgefallen, die noch nicht aufgerufen worden waren. Sie lehnten in der hintersten Ecke des Schulhofs am Zaun und waren deutlich größer und ganz offensichtlich ein paar Jahre älter als Charlie. Sie grinsten boshaft über alles, was sich bewegte, insbesondere über alles, was kleiner war als sie. Ihr Haarschnitt war wieder anders, ganz kurz bis auf eine lange Strähne oben auf dem Kopf, die ihnen in die Stirn hing. Sie machten mich so nervös, dass ich mich fragte, ob es richtig gewesen war, unseren Sohn in diese seltsame neue Welt zu bringen, über die ich keine Kontrolle besaß. Dabei vergaß ich für einen Augenblick die Regeln - das Gebot des Schweigens zwischen coolen Typen.

»Alles in Ordnung, Charlie?«

»Klar.«

Aber er blickte nicht zu mir herüber, während er den Fuß gegen den Boden kickte.

»Arrête, Annie! Du machst ihn ganz nervös«, flüsterte Marc.

Er hatte natürlich recht. Aber ich fragte mich, ob er die brutalen Kerle bemerkt hatte.

»Die gibt es an jeder Schule, Annie. Ce n'est pas unique à la France. In Australien sieht man solche Typen auch.«

Also waren sie ihm ebenfalls aufgefallen, und wieder hatte er recht - Rüpel gab es überall. Außerdem waren es vielleicht bloß die Frisuren. Ich ließ mich von ihrem Äußeren zu voreiligen Schlüssen hinreißen. Dabei waren sie doch noch Kinder - die Söhne anderer Mütter, nicht viel älter als mein eigener.

Plötzlich brüllte der Feldwebel Charlies Namen oder jedenfalls Wörter, die ähnlich klangen.

»Scharlie Muucinntiire-Morvan!«

Charlie rührte sich nicht.

Marc schob sich an seine Seite und legte ihm die Hand auf die Schulter. »C'est toi, mon lapin.«

»Non, non. So heiße ich doch nicht!« in dieser merkwürdigen französischen Aussprache hatte Charlie seinen Namen nicht erkannt.

Marc gab ihm einen kleinen Schubs. »Si, si, Charlie! Vas-y!«

Ich hörte die Panik in seiner Stimme. Na - wer machte Charlie hier nervös?

»Scharlie Muuccinnntiiiire-Morvan!«, ertönte der Aufruf zum Kampf erneut.

Dieses Mal machte es Klick. Charlie schüttelte die Hand seines Vaters ab und setzte sich in Bewegung.

»Bis nachher«, flüsterte ich ihm nach und widerstand der Regung, ihn an den Rinderwahnsinn zu erinnern.

Aber der Rinderwahnsinn sollte das geringste seiner Probleme sein.