Tour Efele
28

 

Samstag - auf den Tag genau eine Woche ist es her, dass wir nach Toulouse gefahren sind und uns an die Garonne gesetzt haben. Vor genau einer Woche haben wir auch zu Hause in Lherm auf dem Sofa gesessen und gehört, wie Charlie oben spielte. Ich kann ihn jetzt noch hören, seine Füße auf den Dielen, als er vom Bett springt und auf den Fußboden plumpst, obwohl wir ihn immer wieder ermahnt haben, das nicht zu tun.

»Eines Tages krachst du noch durch die Decke und landest auf dem Sofa, Charlie MacIntyre-Morvan!« Ich höre einen Hund bellen. etwas schlittert über den Fußboden. das ist nicht Charlie. Nein, das ist der Terrier von der Nachbarin.

Jetzt weiß ich Bescheid. Wir werden morgen früh nicht aus dieser Geschichte raus sein. ich werde wieder hier aufwachen, genau wie heute Morgen, wie an jedem Morgen in der vergangenen Woche. Von nun an ist das unsere Wirklichkeit - unsere Gegenwart. Ich stehe an meinem Zimmerfenster, starre in den leeren Hof hinaus und frage mich: Warum ist das passiert?

Beattie ist ausgegangen - wieder einmal mit geheimem Ziel. Während ich durch die Wohnung laufe, mir an den Haaren zerre, laut fluchend von meinem Zimmer ins Bad trabe, dann in die Küche wie ein gefangenes Tier - eine einsame Löwin -, überkommt mich plötzlich eine Sehnsucht. Es ist das überwältigende Verlangen, Marc anzurufen, mit ihm zusammen zu sein, ihm zu sagen, wie sehr ich ihn vermisse. Ich will nicht jeden Morgen ohne ihn aufwachen. Ich habe Charlie verloren. ich habe sie beide verloren.

Wir wollten uns trennen.

Aber ich muss ihn einfach sehen.

Und dann trifft mich die Erkenntnis wie eine Faust in den Magen, sie raubt mir den Atem, sodass ich mitten im Wohnzimmer umfalle und aufschreie. Was war ich doch für eine Idiotin! ich habe mich wie eine alberne junge Gans benommen, wie eine unreife, eifersüchtige Zicke! Denn plötzlich weiß ich, dass Frédérique für unsere gemeinsame Geschichte, für das, was wir damals zusammen erlebt haben, für unsere Leidenschaft, überhaupt keine Rolle spielt. Und das hat Marc mir zu sagen versucht, das wollte er mir klarmachen, als wir in seine Wohnung gegangen waren und er mir durchs Treppenhaus hinterherrief: »Es ist nicht so, wie du denkst, Annie!«

Ich habe Herzklopfen, als ich nach dem Telefon greife. Aber noch bevor ich mit den Fingern den Hörer berühre, klingelt es.

Marc. »Sie ist Weg«, sagt er. »Pack deine Sachen! Je viens te chercher. Ich komme sofort.«

Wie eine Verrückte schluchze ich ins Telefon. »Ja!«

Ich werfe ein paar Klamotten in eine Tasche, schreibe Beattie einen Zettel und lege ihn auf den Küchentisch. Den Rest will ich später abholen, und dann bringe ich auch einen Scheck von Marc mit, für die Miete. Damals verdiente der Cowboy mehr als Beattie und ich zusammen.

Zehn Minuten später stehe ich vor dem Haus und warte auf ihn. Dornröschen hat offenbar eine ganze Woche gebraucht, um ihren Krempel zusammenzupacken, aber schließlich musste sie sich ja auch erst was zum Anziehen suchen. Doch das ist mir egal! Das ist mir jetzt alles egal. Nur wir sind noch wichtig - und Charlie. Sonst nichts. Frédérique ist bloß noch ein leiser Piepton, ein Pieps, wie Charlie sagen würde, in der Vergangenheit.

Als wir vor Marcs Wohnung halten und ich die Hand zum Türgriff ausstrecke, denke ich: Ab jetzt wird es gutgehen. Wir können weitermachen.

Er greift nach meiner Hand. »On repart à zéro, okay, Annie? On fait comme ça?« Wir fangen noch mal bei null an, ja, Annie?

»Ja.« Ich nicke. »Bei null.« Aber als ich dieses Wort in den Mund nehme, fühlt es sich so leer an, so endgültig, dass ich wieder in Panik verfalle und mein Herz zu rasen beginnt. ich kann nicht atmen. Verängstigt fuchtele ich mit den Armen. »Ich kriege hier drinnen keine Luft, Marc.«

Ich erinnere mich daran, wie Charlie - Charlie als Fünfjähriger - mich einmal am Ärmel zog, als ich Marc auf der Arbeit angerufen hatte. Ich war untröstlich darüber, dass ich soeben unser einziges Video von Charlie an seinem zweiten Geburtstag überspielt hatte - ein blödes, dämliches Versehen. Das erzählte ich Marc. »Wir haben doch noch mehr Videos von ihm, Annie!«, meinte er ruhig. Aber was war mit diesem einen, auf dem Charlie gerade zwei Jahre alt wurde? Es war, als hätte ich ein Stück unserer Vergangenheit für immer ausgelöscht.

Charlie schrie zu mir hoch, er versuchte, sich Gehör zu verschaffen. »Ist nicht schlimm, Mummy, ich bin ja noch da! Guck doch!«

Ich weine wieder, ich heule laut, fange an zu zittern, während wir immer noch vor Marcs Wohnung in seinem Wagen sitzen. »Nein, ich kann das nicht, Marc! Ich kann nicht von vorn anfangen!« Denn jetzt gibt es Charlie nicht mehr.

Durch einen Tränenschleier sehe ich, wie Marc um den Wagen herumläuft. Er öffnet meine Tür und hockt sich neben mich, schlingt mir die Arme um die Taille. »Viens, Annie! Alles wird gut. Tu verras!« Du wirst schon sehen!

Ich stehe unter der Dusche, das heiße Wasser trommelt auf mein Gesicht, beruhigt meine geschwollene, brennende Haut und wäscht meine Tränen fort. Es läuft mir übers Haar und den Rücken hinunter. Marc kniet vor mir, seine weichen Lippen, seine Zunge gleiten warm zwischen meine Beine, seine Hände liegen auf meinen Hüften, ziehen mich näher an sich heran, während ich ihm mit den Fingern durchs Haar streiche. Ich schreie laut auf und klammere mich an ihn, so weh tut unser Verlust, so befreiend ist diese Erlösung - so bittersüß die Lust.

Wir bereiten in seiner Küche unsere erste gemeinsame Mahlzeit zu. Schmachtend singt Bryan Ferry im Hintergrund für uns - Avalon, die alte Platte, die ich damals dauernd aufgelegt hatte. »Pas encore, Annie, nicht schon wieder!« Aber heute Abend scheint Marc nichts dagegen zu haben. Ich bin ganz ausgewaschen, meine Gesichtshaut spannt, ich bin sauber geschrubbt, und aus meinem Haar tropft Wasser auf mein T-Shirt. Aber ich bin zum ersten Mal seit langem entspannt - eine Ewigkeit scheint es her zu sein, dabei war es bloß eine Woche.

»Es ist so komisch, dass wir hier allein sind. Kommt mir vor, als wäre Charlie nur im Ferienlager.«

»Oui.« Marc trinkt einen Schluck Bier und schaut zu mir herüber. Ein listiges Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Wir sollten die Zeit kreativ nutzen.«

Ich erwidere sein Lächeln. Das war unsere Formulierung, unser kleiner Scherz, wenn Charlie als Baby sein Nachmittagsschläfchen hielt. Ich stelle den Herd aus. Das Essen kann warten.

Wir liegen zusammen im Bett, ineinander verschlungen, zufrieden. Unsere Kleidungsstücke sind über Bett und Fußboden verstreut, und wir lächeln stumm zur Decke hinauf. Es war schön, denke ich, so wie früher.

»Dix sur dix.« Marc tut so, als hielte er eine Karte hoch - zehn von zehn möglichen Punkten.

»Nee, eher neun«, sage ich. In gespieltem Entsetzen wendet er sich mir zu. »Aber wenn du Vollkommenheit anstrebst, bin ich bereit, es noch mal zu versuchen.«

Marc lacht, dann schaut er wieder zur Decke hinauf. Er denkt über etwas nach - über jemanden vielleicht? Ob sie wohl perfekt gewesen ist?

»Denkst du manchmal, Annie ...« Er hält inne. »Denkst du, dass das hier, von Charlie mal abgesehen, unsere Chance sein könnte, etwas zu verändern, unsere Chance, es diesmal richtig zu machen?«

»Es richtig zu machen?«

»Tu sais ce que je veux dire.« Du weißt schon, was ich meine.

Ich überlege. Ja, ich glaube wohl - irgendwo auf dem Weg hatten wir uns voneinander entfernt.

»Ja, vielleicht.« Aber plötzlich frage ich mich, was genau Marc eigentlich ändern, was er richtig machen will. »Du meinst, dass wir nach Lherm gezogen sind?«, taste ich mich vor.

»Non, vorher.«

Ich bekomme Herzklopfen. »Wann vorher?« Doch ich fürchte, ich kenne die Antwort schon, auch wenn ich nicht weiß, was in jener Zeit eigentlich passiert ist.

»Je n' sais pas«, erwidert Marc ausweichend und zuckt die Achseln. »Ich meine keinen bestimmten Zeitpunkt.«

Aber ich bin mir sicher, dass es sich um einen ganz bestimmten Zeitraum handelt - dass damals, als sein Vater starb, etwas geschehen ist.

»Viens.« Er beugt sich über mich, sein Mund liebkost meinen Hals, liegt auf meinen Lippen, er küsst mich so zärtlich, dass mir die Tränen kommen. »Lass uns Essen machen.« Marcs Gesicht schwebt über meinem. Und da entdecke ich es in seinen Augen - etwas, was ich so lange nicht mehr gesehen habe.